Mordecai Richler: Solomon Gursky war hier

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Der Autor als Trickster

In sei­nem Roman »Solo­mon Gurs­ky war hier« ver­schränkt Mor­de­cai Rich­ler die Geschich­te jüdi­scher Immi­gran­ten mit der indi­ge­nen Tra­di­ti­on Kana­das und zeich­net ein mul­ti­di­men­sio­na­les Bild der kana­di­schen Gesellschaft.

von Jörg Auberg

Im Alter von neun­zehn Jah­ren ver­ließ Mor­de­cai Rich­ler sein Hei­mat­land Kana­da, weil er es als lite­ra­ri­sches Ödland wahr­nahm. Sein ers­ter Roman (The Acro­bats, 1954) han­del­te von einem jun­gen kana­di­schen Maler in Spa­ni­en inmit­ten einer Grup­pe des­il­lu­sio­nier­ter Expa­tria­tes und Revo­lu­tio­nä­re und war nicht mehr als ein Pas­ti­che von André Mal­raux, Jean-Paul Sart­re und Ernest Heming­way – eben jener Autoren, die er als jun­ger Mann bewun­der­te. Obwohl er ein Expo­nent eines streit­lus­ti­gen Anti­na­tio­na­lis­mus war und spä­ter für fran­ko­pho­ne Sepa­ra­tis­ten in Qué­bec eine pro­mi­nen­te Reiz‑, wenn nicht gar Hass­fi­gur dar­stell­te, avan­cier­te er in Lon­don, wo er unter ande­rem als Dreh­buch­au­tor arbei­te­te, zum Spre­cher für kana­di­sche Ange­le­gen­hei­ten. „Ich bin kein euro­päi­scher Autor, und ich könn­te kei­ner wer­den, selbst wenn ich fünf­und­zwan­zig Jah­re hier blie­be“, sag­te er einem Kri­ti­ker. „All mei­ne Ein­stel­lun­gen sind kana­disch; ich bin ein Kana­di­er; dar­an lässt sich nichts ändern.“

Dialektik der Beschränktheit

Der pro­vin­zi­el­len Eng­stir­nig­keit, in der er im jüdi­schen Vier­tel Mont­re­als auf­ge­wach­sen war, woll­te er ent­flie­hen. Zugleich aber war die­se pro­vin­zi­el­le Beschränkt­heit die Quel­le und die Trieb­kraft sei­ner Sati­re, die er in sei­nen bekann­tes­ten Roma­nen The App­ren­ti­ce­ship of Dud­dy Kra­vitz und St. Urbain’s Hor­se­man ent­wi­ckel­te. In sei­nem ambi­tio­nier­tes­ten Werk „Solo­mon Gurs­ky war hier“ (das er nach sei­ner Rück­kehr nach Mont­re­al 1972 begann, aber erst 1989 abschloss) ver­such­te er, ihr einen epi­schen Reso­nanz­raum zu geben, und gelang­te damit – wie der Jour­na­list Adam Gop­nik schrieb – in die Nähe eines „wahr­haft gro­ßen kana­di­schen Romans“, was nicht zuletzt an der Ver­knüp­fung der Geschich­te der jüdi­schen Immi­gran­ten mit jener der Urein­woh­ner in den kana­di­schen Nord­west­ter­ri­to­ri­en liegt. Über meh­re­re Gene­ra­tio­nen ver­folgt Rich­ler die Geschich­te der Gurs­ky-Dynas­tie, die mit der Immi­gra­ti­on des jüdi­schen Pari­as Ephra­im Gurs­ky (1817–1910) begann, der als „Mul­ti­ta­lent“ der Assi­mi­la­ti­on in der Geschich­te des eige­nen Über­le­bens ver­schie­de­ne Rol­len in der jewei­li­gen Umge­bung aus­füllt: Als Taschen­dieb, Zuhäl­ter, Pre­di­ger und Fäl­scher hält er sich in Eng­land über Was­ser; er über­lebt die desas­trö­se Erkun­dung der Nord­west­pas­sa­ge der Frank­lin-Expe­di­ti­on im Jah­re 1845 und eta­bliert sich als jüdi­scher Scha­ma­ne unter den Inu­it der kana­di­schen Arktis.

Ephra­im ist ein „Tricks­ter“, weder gut noch böse, ein Meis­ter der Ver­wand­lung – eine Fähig­keit, die er an sei­nen Enkel Solo­mon (1899–1934) wei­ter­gibt. Mit sei­ner Lei­den­schaft für Spiel, Poker und Sex begrün­det Solo­mon den Auf­stieg der Gurs­kys von mit­tel­lo­sen Immi­gran­ten zu einer ein­fluss­rei­chen Wirt­schafts­dy­nas­tie, die mit ihrer Dis­tri­bu­ti­on von alko­ho­li­schen Pro­duk­ten in Zei­ten der ame­ri­ka­ni­schen Pro­hi­bi­ti­on zu Ruhm und Reich­tum gelan­gen. Wäh­rend das Gurs­ky-Impe­ri­um sei­ne Macht über Kor­rum­pie­rung der Staats­an­ge­stell­ten abzu­si­chern ver­sucht, fin­det intern eine Macht­kampf zwi­schen dem Tricks­ter Solo­mon und dem Racke­teer Ber­nard (1898–1973) statt, der sich zum abso­lu­ten Herr­scher des Impe­ri­ums mit der Über­nah­me der Mehr­heits­an­tei­le auf­schwin­gen möch­te. In der zuge­spitz­ten Situa­ti­on sehen sich die Gurs­kys mit einer Ankla­ge wegen Bestechung von Staats­be­am­ten kon­fron­tiert, in deren Ver­lauf der ver­folg­te Solo­mon vor­geb­lich bei einem Flug­zeug­ab­sturz in den Nord­west­ter­ri­to­ri­en umkommt, wäh­rend Ber­nard die Spit­ze des Racket-Kon­zerns erklimmt. In der Fol­ge­zeit ereig­nen sich Kon­kur­renz­kämp­fe, in der die Söh­ne das Erbe der Väter ver­scher­beln und sich den Zer­fall des Impe­ri­ums mit Sit­zen im Vor­stand eines neu­en glo­ba­len Kon­zerns ver­sü­ßen lassen.

Aufstieg und Zerfall eines Imperiums

Ber­nard Gurs­ky war nach Samu­el Bron­fman model­liert, dem Herr­scher über den Seagram-Kon­zern, der nach Fusio­nen und Ver­käu­fen mitt­ler­wei­le von der Bild­flä­che ver­schwun­den ist. In der kana­di­schen Gegen­wart war Bron­fman die Ver­kör­pe­rung des phil­an­thro­pi­schen Unter­neh­mers und Vor­sit­zen­den des kana­di­schen Jewish Con­gress, der sei­nen Auf­stieg in der Macht­hier­ar­chie vor allem durch sei­ner Hän­de Arbeit bewerk­stel­ligt hat­te, wäh­rend kein Wort über Alko­hol­schmug­gel oder Lei­chen am Stra­ßen­rand in Zei­ten der Pro­hi­bi­ti­on ver­lo­ren wur­de. In den Augen Rich­lers war die Bron­fman-Hagio­gra­fie, wie sie von füh­ren­den Ver­tre­tern kana­di­scher Juden betrie­ben wur­den, nicht nur ein mora­li­sches, son­dern ein „lite­ra­ri­sches“ Ver­bre­chen. Dar­über hin­aus bestand der Ver­dacht, dass der Bron­fman-Bio­graf Ter­ry Robert­son, der angeb­lich eini­ge „unwill­kom­me­ne Fak­ten“ wäh­rend sei­ner Recher­chen ent­deck­te, bedroht wur­de und einer Schlaf­mit­tel­ver­gif­tung zum Opfer fiel. Auf der ande­ren Sei­te begnüg­te sich der bestell­te Unter­neh­mens­his­to­ri­ker Micha­el Mar­rus, Geschichts­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät von Toron­to, mit dem offi­zi­el­len Bild, das ihm sein Auf­trag­ge­ber Bron­fman zeich­ne­te. „Rich­ler, der Roman­cier, kommt der Wahr­heit über Samu­el Bron­fmans kri­mi­nel­le Akti­vi­tä­ten näher als der His­to­ri­ker [Mar­rus]“, urteil­te der Kri­mi­nal­schrift­stel­ler James Dubro.

In Rich­lers Dar­stel­lung ist „Mr. Ber­nard“ eine rea­le Ver­si­on von Wil­liam S. Bur­roughs’ Figur „Mr. Reich & Vul­gär“: Auf dem Weg nach oben blei­ben nicht nur eini­ge ehe­ma­li­ge Weg­ge­fähr­ten oder eige­ne Fami­li­en­mit­glie­der auf der Stre­cke, son­dern die Bru­ta­li­tät, die sich im Fort­kom­men in der sozia­len Hier­ar­chie als effek­tiv erwies, wen­det Ber­nard im all­täg­li­chen Geschäft an, das sich auf die blan­ken For­meln von Addi­ti­on und Sub­trak­ti­on redu­ziert. Ähn­lich auf die blo­ße Ren­di­te des Lebens redu­ziert ist sein Sohn Lio­nel, der machia­vel­lis­tisch die Geschi­cke des Kon­zerns zu füh­ren ver­sucht, wäh­rend Solo­mons Kin­der Hen­ry und Lucy ihr Heil in der Reli­gi­on respek­ti­ve der Kul­tur suchen, ohne je voll­kom­men die Ver­bin­dung zum Gurs­ky-Impe­ri­um zu kap­pen. Am Ende zer­fällt jedoch auch die Gurs­ky-Dynas­tie in Zei­ten des Globalkapitalismus.

Die Rückkehr des Raben

Frei­lich redu­ziert sich Rich­lers Roman nicht auf eine ein­di­men­sio­na­le Wie­der­ga­be der Geschich­te der Gurs­ky-Dynas­tie. Iro­nisch gebro­chen wird die Erzäh­lung durch den geschei­ter­ten, alko­hol­kran­ken Autor Moses Ber­ger, der am Solo­mon-Virus erkrankt ist. Für ihn ist der „legen­dä­re Solo­mon“ zugleich „Ansporn und Fluch“, will das Leben der obsku­ren Figur ergrün­den, schei­tert aber an der abwei­sen­den Ober­flä­che sei­nes „Objekts“ wie der Wochen­schau­r­e­por­ter an den Daten sei­nes Ermitt­lungs­ge­gen­stan­des Charles Fos­ter Kane in Orson Wel­les’ Citi­zen Kane. Moses’ Vater L. B. Ber­ger (den Rich­ler dem Dich­ter A. M. Klein nach­emp­fand), ein sich selbst über­schät­zen­der, nar­ziss­ti­scher Dich­ter, der sich an „Mr. Ber­nard“ als Reden­schrei­ber ver­kauf­te, führ­te den jun­gen Moses in die Gurs­ky-Welt ein und ver­such­te den lite­ra­ri­schen Erfolg, der ihm selbst ver­sagt blieb, sei­nem Sohn durch Intri­gen aus­zu­trei­ben. An die Stel­le der Dich­ter­pro­sti­tu­ier­ten L. B. setzt Moses die Vater­fi­gur Solo­mon, an des­sen Voll­endung der Bio­gra­fie er schei­tert. Solo­mons Leben wird ihm zum Laby­rinth, das er nicht zu ent­schlüs­seln ver­mag. Immer wie­der taucht der Rabe als Sym­bol der Ver­wand­lung auf, der den Ent­hül­ler und Detek­tiv Moses rat­los zurück­lässt. Am Ende gewinnt ein post­mo­der­ner Skep­ti­zis­mus die Ober­hand, wobei zahl­rei­che Vari­an­ten gegen­über der geschicht­li­chen Wahr­heit mög­lich erschei­nen. In einem magi­schen Rea­lis­mus erhebt sich der Rabe Solo­mon über die Ver­gäng­lich­keit und taucht in immer neu­en Erschei­nun­gen in der Geschich­te auf. „Ein Rabe mit dem unstill­ba­ren Drang, sich ein­zu­mi­schen“, heißt es am Ende des Romans, „aller­lei Din­ge aus­zu­he­cken und die Welt und ihre Geschöp­fe an der Nase her­um­zu­füh­ren.“ Damit umschrieb Rich­ler auch die eige­ne Tätig­keit: Als Autor war er ein Tricks­ter, der die Gesell­schaft in der Wirk­lich­keit, wie er sie sah, vorführte.

 

Biblio­gra­fi­sche Angaben:

Mor­de­cai Rich­ler: Solo­mon Gurs­ky war hier (Solo­mon Gurs­ky Was Here, 1989). Roman. Deutsch von Har­mut Zahn und Cari­na von Enzen­berg. Mün­chen: Lie­bes­kind, 2011. 651 Sei­ten. 24,80 Euro.

 

Zuerst erschie­nen in:  Cul­tur­Mag (14. Mai 2011) 

© Jörg Auberg

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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