
Mordecai Richler: Aufbrechen, um anzukommen
Mordecai Richler (1931–2001) ist einer der wichtigsten Autoren der kanadischen Literatur nach 1945. In seinen Anfängen gehörte er zu den »Angry Young Men«, die im »existenzialistischen Zeitalter« gegen die Engstirnigkeit und Provinzialität der kanadischen Gesellschaft rebellierten und in Europa den Spuren früherer Revolten folgten. In seinen ersten literarischen Versuchen imitierte Richler Exponenten der »Lost Generation« wie Ernest Hemingway oder europäische Repräsentanten des Existenzialismus wie Albert Camus. Sein eigenes existentielles Thema fand Richler jedoch erst in der Beschäftigung mit seinen Ursprüngen als Sohn jüdischer Immigranten im Montrealer Viertel von St. Urbain. Mit seiner Figur Dudley Kravitz schuf er einen Prototypen des Aufsteigers, der trotz aller Erfolge doch nie seine Vergangenheit abstreifen konnte. »Die Vergangenheit ist niemals tot«, heißt es in William Faulkners Requiem for a Nun. »Sie ist nicht einmal vergangen.« Richlers Werk demonstriert dies immer wieder aufs Neue, wobei er sich phasenweise – nach Jahren des Erfolgs im kulturindustriellen Betriebs – in eine literarische Stagnation manövrierte, in der lediglich Variationen seiner einstigen Erfolgsformeln in literarischer Form produzierte, wobei er in den späten 1970er Jahren in seinem Furor gegen die »politische Korrektheit« ins Fahrwasser des Neokonservatismus geriet. Dennoch befreite er sich aus dieser Stagnation, indem er Erzählformen der Postmoderne aufgriff und seine Figuren ihre selbstherrliche Gewissheit nahm. In seinem letzten Roman Barney’s Version wurde der Erzähler Barney Panofsky infolge seiner Alzheimer-Erkrankung derart unzuverlässig, dass sein fiktiver Sohn Michael den Text mit Fußnoten und einem Nachwort versah.
Rezeption in der BRD
Obwohl Richlers Werke von Beginn an auch in deutschen Übersetzungen erschienen, beschränkte sich Kindlers Literaturlexikon in der Ausgabe von 1970 auf eher ephemere Werke Richlers. Im Frühwerk Sohn eines kleineren Helden (1955; dt. 1963) sah der prominente Literaturkritiker Jörg Drews eine »Haßliebe des Autors zum Ghettomilieu seiner Heimatstadt Montreal« wirken. Zum anderen lobt Drews die Satire The Incomparable Atuk (1963), welche die Assimilation von Inuits (vulgo Eskimos) in der kanadischen Gesellschaft aufs Korn nimmt. »Die hintersinnige Geschichte, die von grotesken Gags strotzt und mit einer fast surrealistisch anmutenden kaleidoskopischen Bilderfolge endet, wird – lobte Drews – »in einem gekonnt lässigen, mit kanadischem Slang, Modewörtern und Zeitungsphrasen durchsetzten Jargon erzählt.«1
Aufmerksamkeit durch eine Neuedition
Mittlerweile gründet sich Richlers Ruhm eher auf Romane wie Die Lehrjahre des Duddy Kravitz, Solomon Gursky war hier und Wie Barney es sieht, die hierzulande in den letzten Jahren (teilweise in Neuübersetzungen) bei Liebeskind erschienen. Diese Ausgabe von Moleskin Blues liefert eine neue Kritik zu Joshua damals und jetzt sowie einige ältere, verstreut erschienene Rezensionen.
Jörg Auberg
- Kindlers Literaturlexikon (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970), S. 8902, 4791 ↑