Das Erkalten der Moderne

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Das Erkalten der Moderne

 

Die Rolle des Modernismus in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges

von Jörg Auberg

Harold Rosenberg: The Tradition of the New (1960; rpt. DaCapo Press, 1994; Titelgestaltung: William de Kooning)
Harold Rosen­berg: The Tra­di­ti­on of the New (1960; rpt. DaCa­po Press, 1994; Titel­ge­stal­tung: Wil­liam de Kooning)

Als im Juni 1940 Paris, das »Labo­ra­to­ri­um des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts« (wie der Kunst­kri­ti­ker Harold Rosen­berg die fran­zö­si­sche Kapi­ta­le in einem Nekro­log nann­te), der nazis­ti­schen Gewalt­ma­schi­ne zum Opfer gefal­len war und die Inter­na­tio­na­le der Kul­tur ihr urba­nes Haupt­quar­tier ver­lo­ren hat­te, soll­te New York die vakan­te Posi­ti­on aus­fül­len und zur Haupt­stadt der moder­nen Kul­tur im »ame­ri­ka­ni­schen Jahr­hun­dert« wer­den. Die ame­ri­ka­ni­sche Metro­po­le pro­fi­tier­te von der euro­päi­schen Kata­stro­phe und der Dis­lo­ka­ti­on der Moder­ne: Mit den emi­grier­ten Künst­lern, Intel­lek­tu­el­len und Wis­sen­schaft­lern kamen auch neue Ideen und Metho­den in die von Tem­po und Bewe­gung, Tech­nik und Mecha­nik beherrsch­te Stadt.

 

Serge Guilbault: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat (Verlag der Kunst, 1997)
Ser­ge Guil­bau­lt: Wie New York die Idee der moder­nen Kunst gestoh­len hat (Ver­lag der Kunst, 1997)

Jahr­zehn­te spä­ter, als der Moder­nis­mus wäh­rend des Kal­ten Krie­ges als staat­lich inte­grier­te Kunst­form auf gan­zer Linie tri­um­phiert hat­te, wur­de der Vor­wurf erho­ben, dass dem Moder­nis­mus in der US-ame­ri­ka­ni­schen Umge­stal­tung alle Radi­ka­li­tät und Kri­tik aus­ge­trie­ben wor­den sei. Ihren pro­vo­ka­tiv zuge­spitz­ten Aus­druck fand die­se Argu­men­ta­ti­on in dem Buch Wie New York die Idee der moder­nen Kunst gestoh­len hat (1983) des fran­zö­si­schen Kunst­his­to­ri­kers Ser­ge Guil­baut, der die poli­tisch-gesell­schaft­li­che Kon­no­ta­ti­on der Kunst­wer­ke nicht igno­rie­ren woll­te. »Die Arbeit des Kunst­his­to­ri­kers besteht nicht nur in der Beschrei­bung von Bil­dern«, kon­sta­tier­te Guil­baut. »Er muß auch ihre Funk­ti­on und die Wur­zeln ihrer ideo­lo­gi­schen Kon­struk­ti­on ana­ly­sie­ren.« Guil­baut sieht den Sün­den­fall einer­seits in der Dera­di­ka­li­sie­rung der US-ame­ri­ka­ni­schen Intel­li­genz in den 1940er und 1950er Jah­ren (was er als »Ent-Mar­xi­sie­rung« beschreibt) und ande­rer­seits in der will­fäh­ri­gen Kum­pa­nei einer ehe­mals kri­ti­schen Kunst mit den staat­li­chen Agen­tu­ren der Macht im Kal­ten Krieg.

Diese Argu­men­ta­ti­on ist zwei­fels­oh­ne für den Zeit­raum von 1935 bis 1956 (vom VII. Kon­gress der Kom­in­tern bis zur Implo­si­on des Sta­li­nis­mus) stich­hal­tig, doch unter­schlägt sie die vor­an­ge­gan­ge­ne Geschich­te und ver­steigt sich in einem ver­que­ren Natio­na­lis­mus. Bereits im Früh­jahr 1913 erreich­te der Moder­nis­mus mit der »Inter­na­tio­na­len Aus­stel­lung der moder­nen Kunst«, der Armory Show, die ame­ri­ka­ni­schen Gesta­de. Damals galt der Moder­nis­mus als Gegen­ent­wurf zu den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen. Es ging um per­sön­li­che Befrei­ung, um die Frei­heit der Kunst und der Mei­nung, die Rol­le der Kunst im Kampf um revo­lu­tio­nä­re Ver­än­de­rung. Revo­lu­ti­on in Kunst und Gesell­schaft waren nicht von­ein­an­der getrennt: Anar­chis­ten, Sozia­lis­ten, Künst­ler und Bohe­mi­ens fan­den sich im New Yor­ker Green­wich Vil­la­ge eben­so wie in Kämp­fen für die gewerk­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on oder die Mei­nungs­frei­heit zusam­men, ehe die Mili­ta­ri­sie­rung im Zuge der Mobi­li­sie­rung für den Ers­ten Welt­krieg und die Ein­schrän­kung der Mei­nungs- und Rede­frei­heit der Zivil­ge­sell­schaft den Gar­aus mach­ten. In Arbei­ten von Künst­lern wie Mar­cel Duch­amps, Robert Hen­ri oder Man Ray und in von anar­chis­ti­schen Ideen inspi­rier­ten kul­tur­ge­sell­schaft­li­chen Dis­kus­sio­nen der Zeit ent­wi­ckel­te sich – wie Alan Ant­liff in sei­nem Buch Anar­chist Moder­nism: Art, Poli­tics, and the First Ame­ri­can Avant-Gar­de (2001) schrieb – »ein Moder­nis­mus der Befrei­ung für eine Kul­tur der Anarchie«.

Die­sen trans­for­ma­ti­ven Impe­tus begann der Moder­nis­mus in der zuneh­men­den Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen US-ame­ri­ka­ni­schem Kapi­ta­lis­mus und sowje­ti­schem Kom­mu­nis­mus zu ver­lie­ren. Wäh­rend noch in den 1930er Jah­ren For­men des sozia­len Rea­lis­mus in Kunst und Lite­ra­tur domi­nier­ten, eta­blier­ten sich im dar­auf­fol­gen­den Jahr­zehnt Struk­tu­ren der Abs­trak­ti­on und der Intro­spek­ti­on, die sich in der US-ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur im »Kaf­ka-Boom« und in der Kunst im »abs­trak­ten Expres­sio­nis­mus« arti­ku­lier­ten. Bestimm­ten in 1930er Jah­ren noch weit­ge­hend kom­mu­nis­tisch oder sozia­lis­tisch beein­fluss­te Intel­lek­tu­el­le den kul­tu­rel­len Dis­kurs, eta­blier­ten sich nach dem desas­trö­sen Hit­ler-Sta­lin-Pakt anti­sta­li­nis­ti­sche Autoren, die aus dem Umfeld einer eher vagen »trotz­kis­ti­schen« Oppo­si­ti­on kamen und unter dem Begriff »New Yor­ker Schu­le« fir­mier­ten (den Guil­baut präg­te). Obwohl die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len sich als Pro­po­nen­ten einer moder­nis­ti­schen Avant­gar­de betrach­te­ten, wel­che eine auf­klä­re­ri­sche Kunst in die ame­ri­ka­ni­sche Pro­vinz schmug­gel­ten, waren sie doch Nach­züg­ler einer his­to­ri­schen Bewe­gung. Zu spät waren sie im Ter­rain erschie­nen, um noch ent­schei­dend in die Aus­ein­an­der­set­zun­gen ein­grei­fen, um eigen­stän­di­ge, ori­gi­nä­re Bei­trä­ge zur Ent­wick­lung der Moder­ne lie­fern zu kön­nen. Ihnen blieb die undank­ba­re Rol­le defen­si­ver Body­guards der Avant­gar­de. Immer wie­der muss­ten sie sich durch die Höl­le irgend­ei­nes auf­rei­ben­den Gefech­tes kämp­fen oder in einem zer­mür­ben­den Stel­lungs­krieg die her­an­stür­men­den Bar­ba­ren abweh­ren. Am Ende muss­ten sie sich mit der Auf­ga­be der Insti­tu­tio­na­li­sie­rung der Avant­gar­de begnü­gen, in deren Ver­lauf der einst­mals kri­ti­sche Intel­lek­tu­el­le zum kon­for­mis­ti­schen Aka­de­mi­ker mutier­te. Die Iro­nie der Geschich­te war, dass der anti­in­sti­tu­tio­nel­le und antiaka­de­mi­sche Cha­rak­ter des Moder­nis­mus in sein Gegen­teil ver­kehrt und als Pro­pa­gan­da­in­stru­ment des Staa­tes in Besitz genom­men wurde.

In die­ser Trans­for­ma­ti­on spiel­ten staat­li­che Agen­tu­ren wie die CIA und ande­re Geheim­diens­te eine bestim­men­de Rol­le. Seit dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges för­der­ten die US-Admi­nis­tra­tio­nen unter der Ägi­de der Prä­si­den­ten Har­ry S. Tru­man und Dwight D. Eisen­hower in ver­deck­ten Ope­ra­tio­nen über Netz­wer­ke wie den »Kon­gress für kul­tu­rel­le Frei­heit« und des­sen intel­lek­tu­el­le Orga­ne wie Encoun­ter, Der Monat, Preu­ves und Tem­po Pre­sen­te eine domes­ti­zier­te Form des Moder­nis­mus, der für eine sys­tem­kon­for­me Moder­ni­tät ohne kri­ti­sche Wider­ha­ken warb. Bereits in ihrer Stu­die über den kul­tu­rel­len Kal­ten Krieg Who Paid the Piper? (1999; dt. Wer zahlt die Zeche?), die Edward Said als ein »Haupt­werk inves­ti­ga­ti­ver Geschichts­schrei­bung« rühm­te, hat­te Fran­ces Stonor Saun­ders die Ver­wick­lun­gen und Ver­stri­ckun­gen von Intel­lek­tu­el­len und Geheim­diens­ten detail­liert rekon­stru­iert. In sei­nem Buch Archi­ves of Aut­ho­ri­ty (2012) beschrieb der Said-Schü­ler Andrew Rubin die Ver­we­bung von kul­tu­rel­ler Pro­duk­ti­on mit geheim­dienst­li­chen Akti­vi­tä­ten in Zei­ten des Kal­ten Krie­ges weni­ger skan­da­li­sie­rend und sah im Zusam­men­spiel der bei­den Kom­ple­xe eher den Pro­zess einer Glo­ba­li­sie­rung der Literatur.

Greg Barnhisel: Cold War Modernists (Columbia University Press, 2015)
Greg Barn­hisel: Cold War Moder­nists (Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2015)

In sei­nem Buch Cold War Moder­nists war­tet der an der Duques­ne Uni­ver­si­ty in Pitts­burgh leh­ren­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Greg Barn­hisel zwar nicht mit grund­le­gend neu­en Erkennt­nis­sen zu die­sem The­ma auf, doch bie­tet er mit sei­nen Detail­stu­di­en zur kul­tu­rel­len Pro­pa­gan­da im Kal­ten Krieg, wie sie von Zeit­schrif­ten wie Encoun­ter und Per­spec­ti­ves USA (die in Euro­pa in diver­sen Spra­chen erschien) oder dem Radio­sen­der Voice of Ame­ri­ca ver­brei­tet wur­de, inter­es­san­te Ein­bli­cke in die Pro­duk­ti­ons­wei­se der »kul­tu­rel­len Pro­pa­gan­da­ar­bei­ter«. Im Gegen­satz zu Saun­ders und Rubin betrach­tet Barn­hisel die Trans­for­ma­ti­on (oder Defor­ma­ti­on) des Moder­nis­mus im pro­pa­gan­dis­ti­schen Quirl als zen­tra­les Moment. Die­ser Pro­zess begann bereits in den frü­hen 1940er Jah­ren, als Nel­son Rocke­fel­ler die Aus­rich­tung des »Muse­um of Modern Art« bestimm­te. In der Hoch­zeit des Kal­ten Krie­ges war Rocke­fel­ler im Rah­men des »Natio­nal Secu­ri­ty Coun­cil« in ver­deck­te Ope­ra­tio­nen der CIA invol­viert, die in Euro­pa ein Netz soge­nann­ter »Infor­ma­ti­ons­zen­tren« auf­spann­te. Ame­ri­can Moder­nism ver­leib­te sich die Inno­va­tio­nen der euro­päi­schen und US-ame­ri­ka­ni­schen Avant­gar­den der Ver­gan­gen­heit und führ­te sie in einem umfas­sen­den kapi­ta­lis­ti­schen Ver­wer­tungs­pro­zess in einen mul­ti­me­dia­len Aus­stel­lungs- und Kon­sum­raum, wo alles vom Waren­cha­rak­ter gezeich­net war. Ideo­lo­gisch umgab ihn der glät­ten­de Schein von Indi­vi­dua­lis­mus, Krea­ti­vi­tät und Frei­heit, wäh­rend jen­seits des Eiser­nen Vor­hangs das Syn­onym des Moder­nis­mus »Deka­denz« war. 

Bei der Pro­pa­gie­rung des Moder­nis­mus US-ame­ri­ka­ni­scher Prä­gung arbei­te­ten staat­li­che Stel­len mit pri­va­ten Unter­neh­men Hand in Hand. Trieb­kraft hier­bei war nicht allein die Erschlie­ßung neu­er kul­tu­rel­ler Märk­te, son­dern auch die Bestre­bung, die US-ame­ri­ka­ni­sche Kul­tur vom Ruch der Min­der­wer­tig­keit und Kom­mer­zia­li­tät zu befrei­en. In den Augen vie­ler euro­päi­scher Intel­lek­tu­el­ler waren die USA ein rohes, kul­tur­lo­ses Land, in dem eine von der unbe­schränk­ten Pro­fit­ma­xi­mie­rung bestimm­te Vul­ga­ri­tät in mons­trö­ser Form vor­herrsch­te. Die­sem Kli­schee ver­such­te die US-ame­ri­ka­ni­sche Kul­tur­bü­ro­kra­tie mit staat­li­chen Buch­pro­gram­men und »Infor­ma­ti­ons­of­fen­si­ven« (wie der Ein­rich­tung von »Ame­ri­ka­häu­sern« mit Leih­bü­che­rei­en) ent­ge­gen­zu­wir­ken, wobei aus­ge­wie­se­ne Expo­nen­ten der US-ame­ri­ka­ni­schen lite­ra­ri­schen Moder­ne wie Wil­liam Faul­k­ner als »Kul­tur­bot­schaf­ter« ver­pflich­tet wur­den. Dar­über hin­aus ver­such­te das mehr­spra­chi­ge, von der Ford Foun­da­ti­on ali­men­tier­te Zeit­schrif­ten­pro­jekt Per­spec­ti­ves U.S.A. in den Jah­ren zwi­schen 1952 und 1956 das kul­tu­rel­le »Image« der USA in Euro­pa auf­zu­wer­ten. Ein ähn­li­ches Ziel ver­folg­te die kul­tu­rel­len Pro­gram­me des Radio­sen­ders Voice of Ame­ri­ca, auch wenn sie intel­lek­tu­ell weni­ger ambi­tio­niert als die sech­zehn Aus­ga­ben der Zeit­schrift waren.

Nach einem geflü­gel­ten Wort begann der Moder­nis­mus in den »litt­le maga­zi­nes«, in klei­nen, nicht-kom­mer­zi­el­len Zeit­schrif­ten jen­seits des kul­tu­rel­len Main­streams wie The Litt­le Review (in der James Joy­ces Ulys­ses im Vor­ab­druck erschien), Broom oder The Mas­ses. Sol­chen »litt­le maga­zi­nes« war die Zeit­schrift Encoun­ter nach­emp­fun­den, die ab 1953 von Ste­phen Spen­der, Irving Kris­tol und ande­ren in Lon­don unter der Ägi­de des »Kon­gres­ses für kul­tu­rel­le Frei­heit« her­aus­ge­ge­ben wur­de und eine intel­lek­tu­el­le Speer­spit­ze im kul­tu­rel­len Kampf gegen den sowje­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus dar­stell­te. Sie betrach­te­te sich in der »Tra­di­ti­on der Moder­ne«, war aber mit ihrer Ver­si­on eines aus­ge­zehr­ten Moder­nis­mus eher eine trau­ri­ge Par­odie des »litt­le maga­zi­nes«. Es ging nicht mehr um die Ent­de­ckung des Neu­en oder Wei­ter­ent­wick­lung der künst­le­ri­schen Pro­duk­ti­on, son­dern unter der Patro­na­ge von T. S. Eli­ot um die Auf­recht­erhal­tung intel­lek­tu­el­ler Pri­vi­le­gi­en mit­tels einer kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­kri­tik, wel­che die Enkla­ven der Hoch­kul­tur gegen den Ansturm alter und neu­er Bar­ba­ren der Mas­sen- und Popu­lär­kul­tur verteidigte.

Mary Helen Washington. The Other Blacklist (Columbia University Press, 2014)
Mary Helen Washing­ton: The Other Black­list (Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2014)

Einen wich­ti­gen Aspekt lässt Barn­hisel in sei­ner Dis­kus­si­on des »cold war moder­nism« außen vor: Afro-ame­ri­ka­ni­sche Künst­ler, die nicht wie Richard Wright oder Ralph Elli­son in den Kon­sens des anti­kom­mu­nis­ti­schen Libe­ra­lis­mus ein­stimm­ten, wur­den auf dem Kunst- und Lite­ra­tur­markt in der Nach­kriegs­zeit kaum wahr­ge­nom­men. Die Ras­sen­dis­kri­mi­nie­rung war nach herr­schen­der Les­art kein gesell­schaft­lich-insti­tu­tio­nel­les, son­dern ledig­lich ein indi­vi­du­el­les Pro­blem. Der lite­ra­risch-künst­le­ri­sche Dis­kurs der 1950er Jah­re wur­de von den New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len und den Reprä­sen­tan­ten des »New Cri­ti­cism« beherrscht, für die afro-ame­ri­ka­ni­sche Künst­ler weit­ge­hend unsicht­bar blie­ben. Wie die an der Uni­ver­si­ty of Mary­land leh­ren­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Mary Helen Washing­ton in ihrem Buch The Other Black­list auf­zeigt, exis­tier­ten jedoch afro-ame­ri­ka­ni­sche Autoren und Künst­ler, wel­che die Tech­ni­ken des Moder­nis­mus nutz­ten, um ihre The­men der Unter­drü­ckung und des Wider­stan­des künst­le­risch zu ver­ar­bei­ten. So tau­chen aus dem Unter­grund ver­schol­le­ne Künst­ler wie Lloyd Brown, Charles White, Frank Lon­don Brown, Ali­ce Childress und Gwen­d­olyn Brooks auf, die poli­tisch in der Zeit der »Popu­lar Front« der 1930er Jah­re auf­wuch­sen und eine künst­le­ri­sche wie poli­ti­sche Brü­cke zur Bür­ger­rechts­be­we­gung der 1950er Jah­re bau­ten. Der Maler Charles White ori­en­tier­te sich bei­spiels­wei­se an der Wand­ma­le­rei Die­go Rive­ras und zeich­ne­te in sei­nen Wand­ge­mäl­den Afro-Ame­ri­ka­ner (bei­spiels­wei­se in Situa­tio­nen der Demons­tra­ti­on oder auf einer Ver­samm­lung von Wan­der­ar­bei­tern) betont kör­per­lich, mit aus­ge­präg­ten Mus­keln und wuls­ti­gen Lip­pen, womit der »Black­ness« ein dezi­dier­tes Aus­se­hen des »Anders­seins« ver­lie­hen wur­de. Die­ses Zusam­men­spiel von moder­nis­ti­scher Dar­stel­lung und sozia­lem Rea­lis­mus wider­sprach dem Zeit­geist, der im »abs­trak­ten Expres­sio­nis­mus« den Höhe­punkt moder­ner Kunst sah, wäh­rend allem Gegen­ständ­li­chen der Ruch des Reak­tio­nä­ren anhaf­te­te. Auch poli­tisch waren die afro-ame­ri­ka­ni­schen Reprä­sen­tan­ten eines »Unter­grund-Moder­nis­mus« suspekt, da sie sich von der Depres­si­on bis in die 1950er Jah­re hin­ein im poli­ti­schen Umfeld der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei beweg­ten, auch wenn sie nicht unbe­dingt Par­tei­mit­glie­der waren. 

In Washing­tons Augen unter­drück­te die domi­nan­te Ideo­lo­gie des anti­kom­mu­nis­ti­schen Libe­ra­lis­mus in den USA »die Lin­ke« (wor­un­ter Washing­ton aus­schließ­lich die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei begreift) und mar­gi­na­li­sier­te Stim­men des Wider­spruchs, die sie schließ­lich zum Ver­stum­men und Ver­schwin­den brach­te. Die afro­ame­ri­ka­ni­sche Rea­li­tät wur­de so ent­lang der wei­ßen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren neu kali­briert, indem die Ver­bin­dung zwi­schen der Radi­ka­li­tät der »Black Popu­lar Front« (in der afro­ame­ri­ka­ni­sche Autorin­nen und Autoren inner­halb der kom­mu­nis­ti­schen Insti­tu­tio­nen ihre Vor­stel­lun­gen einer eigen­stän­di­gen Kul­tur ent­wi­ckel­ten, dis­ku­tier­ten und kri­ti­sier­ten) und dem Auf­be­geh­ren der Bür­ger­rechts­be­we­gung gekappt wur­de. Unter Ein­be­zie­hung von Archiv­ma­te­ria­li­en, Inter­views, Brie­fen, Bio­gra­fien, Poli­zei­ak­ten und lite­ra­ri­schen Tex­ten rekon­stru­iert Washing­ton eine Geschich­te der Ver­schol­le­nen und ver­sucht, die gän­gi­ge Dämo­ni­sie­rung des Kom­mu­nis­mus und »der Lin­ken« in der domi­nan­ten Geschichts­schrei­bung zu konterkarieren. 

Cold War BooksObgleich Washing­ton ähn­lich wie Alan Wald (auf des­sen bahn­bre­chen­de For­schungs­ar­bei­ten sie sich bezieht) Unter­strö­me der Geschich­te offen­legt, bleibt ihr revi­sio­nis­ti­scher Ansatz frag­wür­dig, da sie in Umkeh­rung der Vor­zei­chen eine neue »schwar­ze Lis­te« von kul­tu­rel­len Hero­en erstellt, wäh­rend eine kri­ti­sche Hin­ter­fra­gung »der Lin­ken« (der »Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei«) nicht statt­fin­det. Statt­des­sen wird »Black­ness« als eine Tugend an sich her­vor­ge­ho­ben, doch gehen bei die­ser Schwarz­weiß­zeich­nung der Geschich­te Kom­ple­xi­tä­ten und Nuan­cen ver­lo­ren. Es ist sicher not­wen­dig, sich des Ver­mächt­nis­ses der ver­schol­le­nen Ver­gan­gen­heit bewusst zu sein, doch soll­te man sich nicht von einem trü­ge­ri­schen Glau­ben ver­füh­ren las­sen, in den aus­ge­gra­be­nen Trüm­mern lie­ge das uner­füll­te Ver­spre­chen einer bes­se­ren Zukunft bereits ver­bor­gen. Sie sind auch das Zei­chen eines Scheiterns.

Bibliografische Angaben:

Greg Barn­hisel.
Cold War Modernists:
Art, Lite­ra­tu­re, and Ame­ri­can Cul­tu­ral Diplomacy.
New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2015.
336 Sei­ten, 24 Abbil­dun­gen, 50 US-Dollar.
ISBN: 978–0‑231–16230‑2.

Mary Helen Washington.
The Other Blacklist:
The Afri­can Ame­ri­can Lite­ra­ry and Cul­tu­ral Left of the 1950s.
New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2014.
368 Sei­ten, 28 Abbil­dun­gen, 35 US-Dollar.
ISBN: 978–0‑231–15270‑9.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover The Tra­di­ti­on of the New © DaCa­po Press
Cover Wie New York die Idee der moder­nen Kunst gestoh­len hat © Ver­lag der Kunst
Cover Cold War Moder­nists © Colum­bia Uni­ver­si­ty Press
Cover The Other Blacklist © Colum­bia Uni­ver­si­ty Press
Foto Bücher von Alan Wald und anderen © Jörg Auberg

Zuerst erschie­nen in satt.org, Juli 2015
© Jörg Auberg 2015/2019

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