Moleskin Blues

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  • Guy de Maupassant: Claire de LuneGuy de Mau­pas­sant: Clai­re de Lune27. März 2024Der Ver­lo­re­ne Guy de Mau­pas­sant und die Tor­tur der See­le von Jörg Auberg In Ray­mond Jeans Roman La Lec­tri­ce (1986, dt. Die Vor­le­se­rin) ver­sucht die arbeits­lo­se Ex-Stu­­den­­tin Marie-Con­s­­tance1, mit der Grün­dung einer Ich-AG als Vor­le­se­rin in einer fran­zö­si­schen Klein­stadt sich zu eta­blie­ren. Ihr ehe­ma­li­ger Pro­fes­sor Roland emp­fiehlt ihr für ihr »Metier« die Ver­wen­dung der Novel­len Guy de Mau­pas­sants. Als Bei­spiel nennt Roland Mau­pas­sants »Greu­el­mär­chen« Die Hand: »Das wirkt garan­tiert!« Ruft er aus. »Die bekann­te Masche, mei­net­we­gen, ein­fa­che Effek­te, etwas dick auf­ge­tra­gen … aber das kommt an. So einen Text mußt du neh­men, wenn du dir ein Publi­kum schaf­fen willst, einen guten fran­zö­si­schen Autor mit siche­rem Stel­len­wert, einen, der wuß­te, wie man Span­nung schafft und thril­ling … da geht jeder mit …«2 Der ers­te Kun­de der Vor­le­se­rin ist der jugend­li­che Eric, der wäh­rend der ers­ten Mau­­pas­­sant-Lek­­tü­­re das Bewusst­sein ver­liert und ins Kran­ken­haus trans­por­tiert wer­den muss, wo die Vor­le­se­rin mit den Vor­wür­fen eines ande­ren Pro­fes­sors kon­fron­tiert wird: »Mau­pas­sant, sagt er, Mau­pas­sant … Wis­sen Sie, wor­an der gestor­ben ist? Aids! Na schön, zu sei­ner Zeit sprach man von Gehirn­ent­zün­dung – das ist genau das, was Sie fast bei dem Jun­gen aus­ge­löst hät­ten. Fin­den Sie nicht, daß er schon genug lei­det?« Trotz allem hat er Ver­lan­gen nach einer Fort­set­zung: »Er liebt ja die Lek­tü­re so sehr!«3   Im Laby­rinth der Emp­fin­dun­gen und Erschüt­te­rung uch in dem von dem renom­mier­ten Über­set­zer Andre­as Nohl im Rah­men der Rei­he »Steidl Noc­turnes« her­aus­ge­ge­be­nen Band Clair de Lune ist die Erzäh­lung Die Hand auf­ge­nom­men, deren nar­ra­ti­ve Phi­lo­so­phie als Inge­ni­um des erzäh­le­ri­schen Pro­jekts Mau­pas­sants begrif­fen wer­den kann, das der Autor als Erbe sei­nes Men­tors Gust­ave Flau­bert über­nom­men hat­te. In sei­nem knap­pen, kon­zi­sen Nach­wort führt Nohl aus: Der sach­li­che Blick des Schrift­stel­lers, der sich nicht zum Innen­le­ben sei­nes Per­so­nals äußert, soll die emo­tio­na­le Wucht des Erzähl­ten kom­men­tar­los und unein­ge­schränkt dem Text zukom­men las­sen und damit die Wir­kung um eine gan­ze Dimen­si­on erhö­hen . Die schein­ba­re ›Käl­te‹ des Erzäh­lers soll die Leser umso tie­fer in das Laby­rinth der Emp­fin­dun­gen und der Erschüt­te­rung locken.4 Der Band mit dem Unter­ti­tel »Unheim­li­che Novel­len« ver­sam­melt neun Erzäh­lun­gen Mau­pas­sant aus den Jah­ren von 1885 bis 1890, in der sich – im Gegen­satz zur Fort­schritts­be­geis­te­rung der Bel­le Épo­que – Mau­pas­sants Wahr­neh­mung der Ver­schrän­kung von Indus­tria­lis­mus, wis­sen­schaft­li­cher Ratio­na­li­tät und impe­ria­ler Poli­tik zuneh­mend pes­si­mis­ti­scher wur­de, wobei auch fami­liä­re Ent­wick­lun­gen wie der geis­ti­ge Ver­fall sei­ner Mut­ter und sei­nes Bru­ders Her­vé und eige­ne gesund­heit­li­che Pro­ble­me (die unter ande­rem auf eine syphi­li­ti­sche Infek­ti­on zurück­gin­gen) eine Rol­le spiel­ten. In der Tra­di­ti­on von Edgar Allan Poe und den »Erzäh­lun­gen des Grau­ens und des Selbst­ver­lusts«5 steht die Novel­le Der Hor­la (zunächst 1886 in der Feuil­­le­­ton-Zei­t­­schrift Gil Blas erschie­nen und ein Jahr spä­ter in einer über­ar­bei­te­ten Fas­sung in einer Buch­aus­ga­be publi­ziert), in der ein namen­lo­ser Erzäh­ler aus Rouen in der fran­zö­si­schen Pro­vinz der Nor­man­die in Form eines Tage­bu­ches sei­ne psy­chi­sche Ver­schlech­te­rung pro­to­kol­liert. »Ich bin wirk­lich krank«, heißt es in einem frü­hen Tage­buch­ein­trag, der an das ein­füh­ren­de Selbst­be­kennt­nis von Dos­to­jew­skis Unter­grund­men­schen erin­nert, obgleich Mau­pas­sants Kran­ker kei­nes­wegs kein frus­trier­ter Zyni­ker ist, son­dern anfangs zufrie­den mit sich und der Welt in einem groß­bür­ger­li­chen Haus mit Gar­ten wohnt, in dem ihn das Unheil zu über­fal­len scheint.6 Die phy­si­sche Krank­heit, die sich nach außen hin als Fie­ber mate­ria­li­siert, dringt als fieb­ri­ge Erschöp­fung ins Inne­re der Psy­che. Zur Erho­lung unter­nimmt der Erzäh­ler eine Rei­se nach Mont-Saint-Michel, wo er einen Mönch trifft, der ihm in einer Unter­hal­tung das Wesen des unsicht­ba­ren »Unfass­ba­ren« vor Augen führt: Der »Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gese­hen und kön­nen Sie ihn sehen? Und trotz­dem ist er doch da.« Nach sei­ner Rück­kehr liegt der Erzäh­ler angst­er­füllt in sei­nem Bett und spürt, wie die Krank­heit zurück­kehrt, »wie jemand auf mir saß, sei­nen Mund auf mei­nen gepresst, und zwi­schen den Lip­pen das Leben aus mir her­aus­sog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blut­egel. Danach stand er gesät­tigt auf, und ich erwach­te, so zer­schun­den, zer­schla­gen, ver­nich­tet, dass ich mich nicht mehr rüh­ren konn­te.«7 Immer mehr ver­liert sich der Erzäh­ler in der Gewalt des »Hor­la« (des »Hors-la«, »der da drau­ßen«), der ihn in den Wahn­sinn treibt. »Ich bin ver­lo­ren«, gesteht er sich ein. »Jemand hat von mei­ner See­le Besitz ergrif­fen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich tue, alle mei­ne Bewe­gun­gen, alle mei­ne Gedan­ken, ich gehö­re mir nicht mehr, ich bin nur ein ges­sel­ter Zuschau­er und sehe alles alles, was ich tue, mit Ent­set­zen an.«8 Weder Git­ter noch eiser­ne Jalou­sien kön­nen den Hor­la drau­ßen hal­ten, sodass als ein­zi­ge Mög­lich­keit bleibt, das gelieb­te Haus in Flam­men auf­ge­hen zu las­sen, um den Hor­la zu ver­trei­ben. Doch selbst die­se Maß­nah­me ist zum Schei­tern ver­ur­teilt, da der Hor­la von der mensch­li­chen See­le Besitz ergrif­fen hat. Der letz­te Aus­weg, den Hor­la zu besie­gen, ist ein­zig die eige­ne Aus­lö­schung – der Sui­zid. Vom Hor­la zum Ter­ror m Nach­wort zur neu­en Reclam-Aus­­­ga­­be der Novel­le inter­pre­tiert der Über­set­zer Ernst San­der (1898–1976) die Erzäh­lung im Kon­text von Mau­pas­sants fami­liä­rer und per­sön­li­cher Krank­heits­ge­schich­te. Äußer­lich erschien Mau­pas­sant als der erfolg­rei­che, pro­duk­ti­ve Autor, der auf eine Schreib­leis­tung von sechs Roma­nen und fast drei­hun­dert Erzäh­lun­gen zurück­bli­cken konn­te, ehe (mit den Wor­ten Juli­an Bar­nes’) »die Syphi­lis sei­nen Geist umnach­te­te«9. »In Wirk­lich­keit aber war Mau­pas­sant«, schreibt San­der, »ein Kran­ker, der den Gesun­den spiel­te, und sein sin­nen­freu­di­ges Werk auf einem Grund von Kör­per­qual, Unlust, Müdig­keit, Unglau­ben und Angst­zu­stän­den gedie­hen, zu denen sich Abnah­me der Seh­kraft, qual­vol­le Migrä­ne und schließ­lich Wahn­vor­stel­lun­gen gesell­ten. Aber die­se mach­te er sei­nem Werk dienst­bar: So ent­stand eine sei­ner mäch­tigs­ten Novel­len, Le Hor­la .«10. Die auf­wän­di­ge Reclam-Aus­­­ga­­be der Hor­­la-Novel­­le ist mit Fan­­ta­­sy-inspi­rier­­ten Illus­tra­tio­nen des ita­lie­ni­schen Zwil­lings­paars Anna und Ele­na Bal­bus­so bestückt, wel­che die bür­ger­li­chen »Hor­ror­ge­schich­te« mit einem far­­big-grel­­len, sen­sa­ti­ons­hei­schen­den Comic-Sur­­re­a­­lis­­mus über­tün­chen, unter dem das Grau­en der Erzäh­lung Mau­pas­sants ver­schwin­det. Dem Cha­rak­ter der Novel­le kom­men eher die Holz­schnit­te Frans Mase­re­els nahe, wie die alte Aus­ga­be bei Rüt­ten & Loe­ning unter Beweis stellt.11 n der kul­tur­in­dus­tri­el­len Pra­xis geriet der Hor­la schon Anfang der 1960er Jah­re zum far­bi­gen Gräu­el­mär­chen als Vehi­kel für den Hor­ror­spe­zia­lis­ten Vin­cent Pri­ce, der in Roger Corm­ans B‑Film-Fabrik vor allem in Edgar-Allan-Poe-Ver­­­schni­t­­ten reüs­sier­te. Der Film Dia­ry of a Mad­man (1963; dt. Tage­buch eines Mör­ders) ver­hack­stück­te Mau­pas­sants Novel­le zu einem typi­schen Hor­ror­film min­de­rer Güte, wobei die gän­gi­gen Ingre­di­en­zi­en jener Zeit ver­rührt wur­den. Der Hor­la ist ein Mabu­­se-ähn­­li­cher Dämon, der sein Opfer in Besitz nimmt und zum Mord treibt. Das Unheil offen­bart sich in grün leuch­ten­den Augen, wobei der Hor­la nicht mehr als eine erstarr­te, von Ste­reo­ty­pen der Indus­trie gezeich­ne­te Mas­ke ist. Vom Hor­la, den Mau­pas­sants Erzäh­ler nach sei­ner Selbst­zer­stö­rung als neu­es Wesen, als neu­en Her­ren beschreit, bleibt in der indus­tri­el­len Zurich­tung nur eine Frat­ze des Immer­glei­chen. © Jörg Auberg 2024   Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Guy de Mau­pas­sant. Clai­re de Lune. Unheim­li­che Novel­len (Steidl Noc­turnes). Über­setzt von Char­lot­te Braun-Wogan u. a. Her­aus­ge­ge­ben von Andre­as Nohl. Göt­tin­gen: Steidl Ver­lag, 2023. 128 Sei­ten, 18 Euro. ISBN: 978–3‑86841–255‑0. Guy de Mau­pas­sant. Der Hor­la. Über­setzt mit einem Nach­wort von Ernst San­der. Illus­triert von Anna und Ele­na Bal­bus­so. Dit­zin­gen: Reclam, 2023. 80 Sei­ten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑15–011456‑8. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Clai­re de Lune © Steidl Ver­lag Cover Der Hor­la © Reclam Ver­lag Sze­nen­fo­to La Lec­tri­ce Archiv des Autors Cover Gil Blas Archiv des Autors Holz­stich Frans Mas­are­el: Der Hor­la © Rüt­ten & Loening/Aufbau Ver­lag Trai­ler Dia­ry of a Mad­man Archiv des Autors Nach­wei­se Der Name der Prot­ago­nis­tin des Romans spielt auf Marie-Con­s­­tance Ques­net an, die letz­te Gefähr­tin des Mar­quis de Sade, die im Tes­ta­ment des Mar­quis für ihre Treue und Hin­ga­be belohnt wer­den soll­te. Cf. Ray­mond Jean, Ein Por­trait des Mar­quis de Sade, übers. Nico­laus Born­horn (Mün­chen: Schnee­kluth, 1990), S. 6–7 ↩ Jean, Die Vor­le­se­rin, S. 16 ↩ Jean, Die Vor­le­se­rin, S. 43 ↩ Andre­as Nohl, Nach­wort zu: Guy de Mau­pas­sant, Clair de Lune (Göt­tin­gen: Steidl, 2023), S. 117 ↩ Nohl, Nach­wort zu: Guy de Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 120 ↩ Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 34; Fjo­dor M. Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Unter­grund, übers. Ursu­la Kel­ler (Mün­chen: Manes­se, 2021), S. 9 ↩ Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 40 ↩ Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 54 ↩ Juli­an Bar­nes, Nach­wort (über­setzt von Ger­trau­de Krue­ger) zu: Guy de Mapas­sant, Auf See (Ham­burg: mare­ver­lag, 2012), S. 195 ↩ Ernst San­der, Nach­wort zu: Der Hor­la (Dit­zin­gen: Reclam, 2023), S. 76–77 ↩ Guy de Mau­pas­sant, Der Hor­la: Zehn Novel­len, übers. Chris­tel Gersch (Berlin/DDR: Rüt­ten & Loe­ning, 1989 ↩ […]
  • Christian Brückner: Hinab in den MaelströmChris­ti­an Brück­ner: Hin­ab in den Maelström14. Janu­ar 2024Im Maul des Abgrunds Mar­gi­na­li­en zum Erzähl­kon­zert »Hin­ab in den Maelström« von Jörg Auberg Der Begriff des Fort­schritts ist in der Idee der Kata­stro­phe zu fun­die­ren. Daß es ›so wei­ter‹ geht, ist die Kata­stro­phe. Sie ist nicht das jeweils Bevor­ste­hen­de son­dern das jeweils Gege­be­ne. Wal­ter Ben­ja­min1   In sei­nem Stan­dard­werk zur Erfah­rung der Moder­ni­tät im 19. und 20. Jahr­hun­dert All That Is Solid Melts Into the Air (1982) beschrieb Mar­shall Ber­man den »Maelstrom des moder­nen Lebens« als ein Zen­tral­mo­tiv der kapi­ta­lis­ti­schen Moder­ne, in der Geschich­te und Tra­di­ti­on per­ma­nent durch die his­to­ri­sche Ent­wick­lung in Fra­ge gestellt wur­de – oder mit den Wor­ten Karl Marx’ und Fried­rich Engels’: »Alles Stän­di­sche und Ste­hen­de ver­dampft, alles Hei­li­ge wird ent­weiht, und die Men­schen sind end­lich gezwun­gen, ihre Lebens­stel­lung, ihre gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen mit nüch­ter­nen Augen anzu­se­hen.«2 Wie Theo­dor W. Ador­no beob­ach­te­te, beschrieb Edgar Allan Poe in sei­ner Kurz­ge­schich­te »A Des­cent into the Maelström« eine zen­tra­le Alle­go­rie der Moder­ne, deren Moment »in der atem­los krei­sen­den, doch gleich­sam still­ste­hen­den Bewe­gung des ohn­mäch­ti­gen Boo­tes im Wir­bel des Mael­stroms« bestehe.3 Der Maelstrom war nicht nur ein kri­ti­sches Moment, son­dern in der Dar­stel­lung des hin­ab­rei­ßen­den Wir­bels delek­tier­te sich Poe – mut­maß­te Ador­no – auch an dem Grau­en als Sen­sa­ti­ons­qua­li­tät, wel­che in den dik­ta­to­ri­schen und tota­li­tä­ren Peri­oden des 20. Jahr­hun­derts zur per­p­etu­ier­ten Gewohn­heits­er­fah­rung wur­de. Nach­dem die Kurz­ge­schich­te im Mai 1841 in der Zeit­schrift Graham’s Maga­zi­ne erschie­nen war, fie­len die ers­ten Kri­ti­ken nega­tiv aus: Die Erzäh­lung sei, urteil­te ein Kri­ti­ker im Dai­ly Chro­nic­le, »der Feder eines Men­schen unwür­dig, des­sen Talen­te ihm ein brei­te­res und weit­rei­chen­de­res Spek­trum ermög­li­chen«, und Poe selbst kon­ze­dier­te anfäng­lich, dass die Geschich­te in Eile geschrie­ben und der Schluss »unvoll­kom­men« sei.4 Auch für Poes Bio­graf Jef­frey Mey­ers war »A Des­cent into the Maelström« ein »unter­ge­ord­ne­tes Werk« im Poe-Kor­pus.5 Die­ser grau­en­haf­te Fall Den­noch ent­fal­tet die Geschich­te über ein Fischer­boot, das an der nor­we­gi­schen Küs­te in der schein­bar ruhi­gen See in den zer­stö­re­ri­schen Stru­del eines Mael­stroms gezo­gen und in der Tie­fe ver­nich­tet wird, eine ein­zig­ar­ti­ge sug­ges­ti­ve Kraft des Grau­ens und der Kata­stro­phe. Kein Mensch habe wie Poe, schrieb sein Bewun­de­rer Charles Bau­de­lai­re, »mit grö­ße­rer magi­scher Kraft vom Aus­nah­me­zu­stand im Leben von Mensch und Natur erzählt«.6 Auch wenn Poe in sei­ner »Appli­ka­ti­on« von Lite­ra­tur Wis­sen­schaft, Ratio­na­li­tät und Tech­no­lo­gie als Instru­men­te der »Wahr­heits­nä­he« (verisi­mi­li­tu­de in der Poe-Phi­­lo­­lo­­gie) zur Gestal­tung und Mani­pu­la­ti­on des Spek­ta­kels der Rea­li­tät ver­wen­de­te und vor allem mit der Maelstrom-Alle­­go­rie als Erfin­der der moder­nen sci­ence fic­tion gilt7, ver­bin­det die Erzäh­lung Tra­di­ti­on und Moder­ne in der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen den urwüch­si­gen Kräf­ten der Natur und den beschränk­ten Mit­teln der mensch­li­chen Ver­nunft. Obwohl Poe als »Erfin­der meh­re­rer Lite­ra­tur­gat­tun­gen« reüs­sier­te (wie Paul Valé­ry schrieb8), rekur­rier­te er in sei­ner Erzäh­lung the­ma­tisch und erzähl­tech­nisch auf Samu­el Tay­lor Coler­id­ges Bal­la­de The Rime of the Anci­ent Mari­ner9, die nicht nur in über­höh­ter Form eine Fahrt ins Unge­wis­se dar­stell­te, son­dern auch in einem poli­ti­schen Kon­text die Kos­ten des bri­ti­schen Empire-Unter­­neh­­mens in Gestalt von Skla­ven­hal­tern, Sklav*innen und schein­bar unbe­tei­lig­ten Zeitgenoss*innen auf­zeig­te. In Coler­id­ges Fan­ta­sien hef­tet sich die Schuld durch Teil­ha­be an eine Gesell­schaft, deren porö­se See­le (wie in Dan­tes höl­li­scher Ima­gi­na­ti­on) »von einem schim­me­li­gen Nie­der­schlag des dicken Duns­tes, ein Schreck für Aug und Nase« über­zo­gen ist.10 In Poes Geschich­te spie­geln sich in Anti­zi­pa­ti­on von Engels’ »Dia­lek­tik der Natur« weni­ger die Natur­ge­set­ze denn von urwüch­si­gen Kräf­ten frei­ge­setz­te Ener­gien, die eine unkon­trol­lier­ba­re Bewe­gung jen­seits aller Gesetz­mä­ßig­keit oder Beherrsch­bar­keit in Gang set­zen. Wie in Coler­id­ges Bal­la­de ver­wen­det Poe den erzäh­le­ri­schen Kunst­griff, einen äuße­ren und einen inne­ren Erzäh­ler zu ver­wen­den, um unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven des Gesche­hens dar­zu­stel­len. Doch in dem Kunst­griff, einen ame­ri­ka­ni­schen Tou­ris­ten aus der äuße­ren Per­spek­ti­ve auf den nor­we­gi­schen Fischer tref­fen zu las­sen, der von sei­ner kata­stro­phi­schen Erfah­rung berich­tet, gelingt Poe eine sub­ti­le Kri­tik des frü­hen Tou­ris­mus im 19. Jahr­hun­dert, die er in ande­ren Tex­ten auf die tou­ris­ti­schen Exkur­sio­nen an die Nia­­ga­ra-Was­­ser­­fäl­­le oder in die west­li­chen Prä­rien Nord­ame­ri­kas zum Aus­druck brach­te, in denen sich bri­ti­sche und ame­ri­ka­ni­sche Tourist*innen an den »Natur­schön­hei­ten des Lan­des« delek­tier­ten.11 Wie Kevin J. Hayes in einer Inter­pre­ta­ti­on der Kurz­ge­schich­te her­vor­hebt, ist der nor­we­gi­sche Fischer eine Inkar­na­ti­on des Arbei­ters, der sei­ne Exis­tenz ris­kiert, wäh­rend der ame­ri­ka­ni­sche Tou­rist in der Rol­le des Voy­eurs ver­harrt, der vom Fels­vor­sprung einen risi­ko­frei­en Blick auf die Gefahr (den Maelstrom) wer­fen möch­te, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen.12 Nach Hayes iden­ti­fi­zier­te sich Poe mit dem alten Fischer: Im kom­mer­zi­el­len Publi­ka­ti­ons­ge­schäft, das im urba­nen Ame­ri­ka zu einem vita­len Sek­tor der Öko­no­mie wur­de, wäh­rend zugleich in Städ­ten wie Phil­adel­phia (wo Poe sich in den frü­hen 1840er Jah­ren nie­der­ge­las­sen hat­te) gewalt­tä­ti­ge Rackets mit ter­ro­ris­ti­scher Gewalt unter Ein­satz von Xeno­pho­bie und Ras­sis­mus das urba­ne Gesche­hen bestimm­ten, betrach­te­te sich Poe als »Arbei­ter«, der sei­ne Gesund­heit und sei­nen Ver­stand für den Lebens­un­ter­halt sei­ner Fami­lie ein­setz­te.13 Im kapi­ta­lis­ti­schen Betrieb, wo er als Autor per­ma­nent Novi­tä­ten zu lie­fern hat­te, ohne dass die Poten­ta­ten der Maga­zin­un­ter­neh­men ent­spre­chend sei­ne Leis­tung hono­rier­ten, wur­de er vom Stru­del des Sys­tems in immer tie­fe­re dunk­le Regio­nen des Aus­nah­me­zu­stands gezo­gen. Der Ent­wurf des Schre­ckens »Poes Maelstrom ist ein Ent­wurf des Schre­ckens«, schreibt der Gra­fi­ker Klaus Det­jen in der Aus­ga­be der Kurz­ge­schich­te in der Typo­gra­phi­schen Biblio­thek. »Der Mensch der unbe­re­chen­ba­ren Natur aus­ge­lie­fert, wird dar­in zum Prüf­stein sei­ner selbst.«14 Wäh­rend die bei­den Brü­der von einer Sturm­böe über Bord geris­sen oder angst­er­füllt para­ly­siert sind, kann sich der drit­te nach »sechs Stun­den töd­li­chen Grau­ens«15 mit beson­ne­ner Ver­nunft ret­ten. »You must get over the­se fan­ci­es«16 , belehrt der Fischer den ame­ri­ka­ni­schen Tou­ris­ten am Ran­de des Klip­pen­vor­sprungs. In dem »Erzähl­kon­zert« Hin­ab in den Maelström, das auf der Über­set­zung der früh ver­stor­be­nen Schrift­stel­le­rin Gise­la Etzel (1880–1918) beruht, wer­den die »fan­ci­es« des Ori­gi­nals zu »Angst­vor­stel­lun­gen«, wäh­rend sie in spä­te­ren Über­set­zun­gen abschwä­chend als »Ein­bil­dun­gen« über­setzt wer­den.17 In die­ser Auf­trags­pro­duk­ti­on des Hes­si­schen Rund­funks aus dem Jah­re 2023 kom­bi­niert der mehr­fach aus­ge­zeich­ne­te Kom­po­nist Mar­tin Auer mit sei­nem gleich­na­mi­gen Quin­tett und dem Spre­cher Chris­ti­an Brück­ner den Text Poes mit einer dezen­ten, küh­len »sound­scape« in der Tra­di­ti­on des moder­nen Jazz. Die Kom­po­si­ti­on (in der Trom­pe­te, Saxo­fon, Pia­no, Bass und Schlag­zeug akzen­tu­ie­rend ein­ge­setzt wer­den) umkreist den Text, ohne zum belang­lo­sen Klang­tep­pich oder effekt­ha­sche­ri­schen Rumor zu ver­kom­men. Chris­ti­an Brück­ners Instru­ment ist die tie­fe, etwas rau­chig klin­gen­de Stim­me, mit der in ruhi­ger Gelas­sen­heit und einem emo­tio­na­len Under­state­ment die Erfah­rung des Ent­set­zens im Meer, im Stru­del und im Trich­ter, im Ange­sicht des Todes und in der Erleich­te­rung des Ent­rin­nens vor­trägt, obgleich auch das Ent­kom­men mit ewi­gen Nar­ben erkauft ist. Wie in ande­ren Pro­duk­tio­nen Brück­ners – Brück­ner Beat (2001) und Brück­ner Ber­lin (2017) – , in denen Musik (in ers­ter Linie Jazz) und Spra­che kom­bi­niert wur­de, ist das Erzähl­kon­zert eine beein­dru­cken­de und über­zeu­gen­de »mul­ti­künst­le­ri­sche« Umset­zung der Poe’schen Alle­go­rie, zumal durch die zurück­hal­ten­de Inter­pre­ta­ti­on das Moment der Sen­sa­ti­on als kata­stro­phi­sche Regres­si­on (wie sie Ador­no der Moder­ne und ihren frü­hen her­aus­ra­gen­den Reprä­sen­tan­ten Poe und Bau­de­lai­re zuschrieb18) unter­lau­fen wird. In der Kopro­duk­ti­on des Mar­tin Auer Quin­tetts mit dem erfah­re­nen Sprach­vir­tuo­sen Brück­ner wird die »Welt des Ent­set­zens und der Aus­weg­lo­sig­keit«, die Bernd Lenz in einem kur­zen Text über Poes Erzäh­lung benennt, ein Meer der Schat­ten, »vor dem die Ver­nunft letzt­lich kapi­tu­lie­ren« müs­se19, neu­er­lich erfahr­bar. Die Ein­zig­ar­tig­keit die­ser Pro­duk­ti­on wird umso deut­li­cher, wenn man als Ver­gleich die »alt­frän­ki­sche« Lesung Charles Brau­ers unter dem Titel Im Wir­bel des Mal­stroms aus dem Jah­re 2001 her­an­zieht, deren Wir­kung von der dama­li­gen Kri­tik als ein­schlä­fernd und »dra­ma­tisch hin­ge­haucht« jen­seits aller Authen­ti­zi­tät beur­teilt wur­de.20 Wäh­rend Brau­er Poes Erzäh­lung im seda­tiv­en Ton in die Gruft ver­ab­schie­det, legen Brück­ner und das Mar­tin Auer Quin­tett die zeit­ge­mä­ße Qua­li­tät und die (durch­aus wider­sprüch­li­che) Moder­ni­tät des Poe’schen Tex­tes offen. In der Figur des über­le­ben­den Fischers mate­ria­li­siert sich – mit den Wor­ten des ame­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gen John Bel­la­my Fos­ter – die dia­lek­ti­sche Ver­nunft, die Natur sowohl als äuße­re Rea­li­tät mensch­li­cher Akti­vi­tät als auch als die inne­re Rea­li­tät der mensch­li­chen Exis­tenz begreift.21 Für Fos­ter ist Öko­lo­gie der Beweis der Dia­lek­tik. Im Rah­men der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se ori­en­tier­te sich Poe an den Gege­ben­hei­ten und den Ansprü­chen des Mark­tes. Die Ent­schei­dung für die Kurz­ge­schich­te, die er meis­ter­lich beherrsch­te, ent­sprang nicht einer frei­en Wahl für die »kon­zi­se Erzähl­form«, wie Bernd Lenz schrieb, son­dern weil in den 1840er Jah­re – wie Lewis Mum­ford kon­sta­tier­te – ein »Bedürf­nis nach kur­zen Hap­pen der Ent­span­nung in der Rou­ti­ne eines Arbeits­ta­ges« herrsch­te.22 Trotz aller Inte­gra­ti­on in den kom­mer­zi­el­len Markt und der Sym­pa­thien für die kon­ser­va­ti­ve Poli­tik der Whigs (den Vor­läu­fern der Repu­bli­ka­ner) schmug­gel­te Poe jen­seits von »Öko­phi­lie« und »Öko­pho­bie«23 eine öko­lo­gi­sche Per­spek­ti­ve in sei­ne Lite­ra­tur, die über die gän­gi­gen Kli­schees von Grau­en und Ent­set­zen in der natür­li­chen Umwelt hin­aus­geht und die Zeit »töd­li­chen Ent­set­zens« (wie Gise­la Etzel den Ter­mi­nus »dead­ly ter­ror« über­setzt) mit­tels einer erken­nen­den und selbst­kri­ti­schen Ver­nunft zu tran­szen­die­ren ver­mag. Am Ende muss nicht der Unter­gang »im Maul des Abgrunds«24 ste­hen. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Edgar Allan Poe. Hin­ab in den Maelström. Über­setzt von Gis­la Etzel. Spre­cher: Chris­ti­an Brück­ner. Kom­po­nist, Trom­pe­te: Mar­tin Auer. Saxo­fon: Flo­ri­an Trübs­bach. Pia­no: Jan Esch­ke. Bass: Andre­as Kurz. Schlag­zeug: Bas­ti­an Jüt­te. Ber­lin: Argon Ver­lag, 2023. Audio-CD, Lauf­zeit: 1 Stun­de 13 Minu­ten, 20 Euro. ISBN: 978–3‑7324–2091‑9. Wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen: Hin­ab in den Maelström mit Chris­ti­an Brück­ner und dem Mar­tin Auer Quin­tett Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Hin­ab in den Maelström © Argon Ver­lag Cover Phan­tas­ti­sche Fahr­ten © dtv (Celes­ti­no Piat­ti) Cover The Coll­ec­ted Tales and Poems of Edgar Allan Poe © Modern Libra­ry Cover Ein Sturz in den Mal­strom © Wall­stein Verlag/Büchergilde Guten­berg Cover Erzäh­lun­gen in zwei Bän­den (Bd. 2) © Bücher­gil­de Guten­berg Cover Im Wir­bel des Mal­stroms © Hör­buch Ham­burg Nach­wei­se Wal­ter Ben­ja­min, »Zen­tral­park«, in: Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. I:2, hg. Rolf Tie­de­mann und Her­mann Schwep­pen­häu­ser (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 683 ↩ Mar­shall Ber­man, All That Is Solid Melts Into the Air: The Expe­ri­ence of Moder­ni­ty (New York: Pen­gu­in Books, 1988), S. 16; Karl Marx und Fried­rich Engels, »Mani­fest der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei«, in: MEW, Bd. 4 (Ber­lin: Dietz Ver­lag, 1990), S. 465 ↩ Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 318 ↩ The Poe Log: A Docu­men­ta­ry Life of Edgar Allan Poe, 1809–1849, hg. Dwight Tho­mas und David K. Jack­son (Bos­ton: G. K. Hall, 1987), https://www.eapoe.org/papers/misc1921/tplgc06a.htm ↩ Jef­frey Mey­ers, Edgar Allan Poe: His Life and Lega­cy (New York: First Coo­per Squa­re Press, 2000), EPUB-Ver­­­si­on, S. 153 ↩ Charles Bau­de­lai­re, »Edgar Poe, Leben und Werk«, in: Edgar Allan Poe, Unheim­li­che Geschich­ten, hg. Charles Bau­de­lai­re, übers. Andre­as Nohl (Mün­chen: dtv, ²2018), S. 377 ↩ Cf. John Tresch, »Poe invents sci­ence fic­tion«, in: The Cam­bridge Com­pa­n­ion to Edgar Allan Poe, hg. Kevin J. Hayes (Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press, ⁵2007), S. 113–132 ↩ Paul Valé­ry, »Die Situa­ti­on Bau­de­lai­res«, übers. August Brü­cher, in: Paul Valé­ry, Wer­ke, Bd. 3: Zur Lite­ra­tur, hg. Jür­gen Schmidt-Rade­­feldt (Ber­lin: Suhr­kamp, 2021), S. 224 ↩ Cf. Mar­ga­ret J. Yon­ce, »The Spi­ri­tu­al Des­cent into the Maelström: A Debt to ›The Rime of the Anci­ent Mari­ner‹«, Poe News­let­ter, 2, Nr. 2 (April 1969), S. 26–29 ↩ Mari­na War­ner, Ein­lei­tung zu: Samu­el Tay­lor Coler­idge, The Rime of the Anci­ent Mari­ner (Lon­don: Vin­ta­ge Books, 2004), S. ix‑x; Dan­te Ali­ghe­ri, Die Gött­li­che Kom­mö­die, übers. Karl Voss­ler (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1978), S. 89 ↩ Edgar Allan Poe, »Mor­ning on the Wis­sa­hic­con«, https://www.eapoe.org/works/essays/mrnwisa.htm; Dia­na Roy­er, »Edgar Allan Poe’s ›Mor­ning on the Wis­sa­hic­con‹: An Elegy for His Penn Maga­zi­ne Pro­ject«, Penn­syl­va­nia Histo­ry, 61, Nr. 3 (July 1994), S. 318–331 ↩ Kevin J. Hayes, Edgar Allan Poe (Cri­ti­cal Lives) (Lon­don: Reak­ti­on Books, 2009), EPUB-Ver­­­si­on, S. 78 ↩ Scott Pee­p­les, The Man of the Crowd: Edgar Allan Poe and the City (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2020), EPUB-Ver­­­si­on, S. 69–102 ↩ Klaus Det­jen, »Typo­gra­phie als Rui­ne. Zur Gestal­tung«, in: Edgar Allan Poe, Ein Sturz in den Mal­strom, übers. Hans Woll­schlä­ger, Typo­gra­phi­sche Biblio­thek, Bd. 7 (Göt­tin­gen: Wal­l­stein-Ver­­lag und Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 2011), S. 68 ↩ Poe, Ein Sturz in den Mal­strom, S. 33 ↩ Edgar Allan Poe, »A Des­cent into the Maelström«, in: The Coll­ec­ted Tales and Poems of Edgar Allan Poe (New York: Modern Libra­ry, 1992), S. 127 ↩ Edgar Allan Poe, »Hin­ab in den Maelström« (Gise­la Etzel), https://www.projekt-gutenberg.org/poe/maelstro/maelstro.html; Poe, »Im Stru­del des Mael­stroms«, in: Edgar Allan Poe, Erzäh­lun­gen in zwei Bän­den, übers. Hed­da Eulen­berg, Bd. 2 (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1966), S. 255; Poe, Ein Sturz in den Mal­strom (Hans Woll­schlä­ger), S. 34; Poe, Unheim­li­che Geschich­ten (Andre­as Nohl), S. 228 ↩ Ador­no, Mini­ma Mora­lia, S. 318 ↩ Bernd Lenz, Nach­wort zu: Edgar Allan Poe, Phan­tas­ti­sche Fahr­ten (Mün­chen: dtv, 1985), S. 141 ↩ https://www.perlentaucher.de/buch/edgar-allan-poe/im-wirbel-des-malstroms.html ↩ John Bel­la­my Fos­ter, The Return of Natu­re: Socia­lism and Eco­lo­gy (New York: Month­ly Review Press, 2020), S. 254 ↩ Lenz, Nach­wort zu: Edgar Allan Poe, Phan­tas­ti­sche Fahr­ten, S. 141; Lewis Mum­ford, Tech­nics and Civi­liza­ti­on (1934; rpt. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press, 2010), s. 197 ↩ Cf. Sara L. Crosby, »Bey­ond Eco­phi­lia: Edgar Allan Poe and the Ame­ri­can Tra­di­ti­on of Eco­hor­ror«, Inter­di­sci­pli­na­ry Stu­dies in Lite­ra­tu­re and Envi­ron­ment , 21, Nr. 3 (Som­mer 2014), S. 513–525 ↩ Poe, Unheim­li­che Geschich­ten, S. 240 ↩ […]
  • Richard Brautigan: Forellenfischen in AmerikaRichard Brau­tig­an: Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka18. Novem­ber 2023Trou­vail­les (I) Vom Spiel mit dem Buch als Buch Nach­be­trach­tun­gen zu Richard Brau­tig­ans Roman »Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka« von Jörg Auberg Kürz­lich erstand ich in dem exqui­sit bestück­ten Ver­sand­an­ti­qua­ri­at Abend­stun­de, das von Wolf­gang Schä­fer in Lud­wigs­ha­fen betrie­ben wird, ein Exem­plar von Richard Brau­tig­ans Roman Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, der 1971 in der Über­set­zung von Céli­ne und Hei­ner Bas­ti­an bei Han­ser erschien. Gestal­tet wur­de der Band von dem legen­dä­ren Gra­fik­de­si­gner Heinz Edel­mann, der als Art Direc­tor für den Bea­t­­les-Film Yel­low Sub­ma­ri­ne (1968) fun­gier­te und für die ZDF-Spiel­­fil­m­­rei­he Der phan­tas­ti­sche Film den Vor­spann kre­ierte. In dem Stan­dard­werk Wer­ke der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur von 1890 bis zur Gegen­wart cha­rak­te­ri­sie­ren Wolf­gang Kar­rer und Eber­hard Kreut­zer Brau­tig­ans Text als Unter­mi­nie­rung der Unter­schei­dung zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, wobei die schein­ba­re Idyl­le des Angelns mit den gegen­wär­ti­gen Erschei­nun­gen der Indus­tria­li­sie­rung und Kom­mer­zia­li­sie­rung kon­tras­tiert wird. In ihrer knap­pen Ein­ord­nung beschrei­ben sie Brau­tig­ans Roman als »Erzähl­mi­nia­tu­ren mit per­ma­nen­ter Leser-Irri­­ta­­ti­on (Ver­schie­bung, Ver­keh­rung, Ver­rät­se­lung)«, in denen sich die »Ten­denz zu skur­ri­len Ara­bes­ken, sur­rea­lis­ti­schen Bil­dern, gro­tes­ker Über­trei­bung, Geschich­ten ohne Poin­te, par­odis­ti­schen Effek­ten« arti­ku­lie­re. Es sei, dia­gnos­ti­zie­ren K&K, ein »Spiel mit dem Buch als Buch (ein­schließ­lich Umschlag und Typo­gra­phie)«.1 POMO is a Four-Let­ter Word Wie Bil­ly Coll­ins in einem Vor­wort zu einer spä­te­ren ame­ri­ka­ni­schen Aus­ga­be schreibt2, war der selt­sa­me, iro­ni­sche Selbst­be­zug des Buches augen­fäl­lig und gab Brau­tig­ans Roman wenn nicht ein Allein­stel­lungs­merk­mal, so doch ein kri­ti­sches selbst­re­fle­xi­ves Moment, das spä­ter im Post­mo­der­nis­mus (vul­go Pomo) häu­fig zum selbst­ge­nüg­sa­men Kli­schee der geis­ti­gen wie poli­ti­schen Lee­re, Belie­big­keit oder Ober­fläch­lich­keit, zum Inge­ni­um des post-1968er Zeit­geis­tes der neo­kon­ser­va­ti­ven Rea­­gan-Ära wur­de.3 Obwohl Brau­tig­an in den spä­ten 1960er Jah­ren zum Best­­sel­­ler-Autor avan­cier­te, erklomm er – im Gegen­satz zu Tho­mas Pyn­chon, Robert Coo­ver oder Donald Bart­hel­me – als Autor kaum den kri­ti­schen Olymp der zeit­ge­nös­si­schen Kri­tik. In Stan­dard­wer­ken über den 1968er Zeit­geist wie in Mor­ris Dick­steins Gates of Eden: Ame­ri­can Cul­tu­re in the Six­ties (1977) oder Todd Git­lins The Six­ties: Years of Hope, Days of Rage (1987) kam er nicht vor, wäh­rend er von den Hütern des kri­ti­schen Moder­nis­mus als Nach­züg­ler der Bea­t­­nik-Lite­ra­­tur ver­ach­tet wur­de. In einer Kri­tik von Brau­tig­ans Erst­lings­werk A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur (1965) warf ihm Phil­ip Rahv, der Doy­en der ame­ri­ka­ni­schen mar­xis­ti­schen Lite­ra­tur­kri­tik, in der New York Review of Books vor, dass er anstatt einer Geschich­te nur eine Serie von impro­vi­sier­ten Sze­nen in der Manier Jack Kerou­acs pro­du­zie­re. Das Buch sei »Pop-Schrei­­be­­rei in ihrer schlimms­ten Art«, monier­te Rahv, der die Bezü­ge von Brau­tig­ans kali­for­ni­schen Prot­ago­nis­ten zu den Kon­fö­de­rier­ten des ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­kriegs nur als selt­sa­mes Geheim­nis des Autors abtat.4 Nach dem Abflau­en des gegen­kul­tu­rel­len Zeit­geis­tes und der Inkor­po­ra­ti­on ehe­mals wider­stän­di­ger Pro­duk­te in den Main­stream-Kor­­pus nahm sich die New York Review of Books der »Pop-Schrei­­be­­rei« Brau­tig­ans noch ein­mal an. »Das Brau­­ti­g­an-Phä­­no­­men, Kali­for­ni­en gefil­tert durch Brau­tig­an, ent­wi­ckelt sich seit eini­gen Jah­ren in Pro­sa und Ver­sen wei­ter«, hieß es in einem Arti­kel mit dem Titel »Brau­tig­an Was Here« im Jah­re 1971. »Wie weit ist es gekom­men und wohin geht es? Wie die Anhal­ter, die neben der Rou­te 1 ste­hen und gleich­zei­tig in bei­de Rich­tun­gen fah­ren, han­delt es sich um ein cha­rak­te­ris­ti­sches Phä­no­men, das schwer ein­zu­schät­zen ist.«5 Im Gegen­satz dazu nahm Tony Tan­ner in City of Words (1971), sei­nem bahn­bre­chen­den Buch über die US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Lite­ra­tur von den 1950er bis zu den spä­ten 1960er Jah­ren, Brau­tig­an als Kul­tur­kri­ti­ker wahr: Obwohl er vor­der­grün­dig »extrem lus­tig« sei, herr­sche in sei­nen Tex­ten ein durch­drin­gen­der Strom von Ver­lust, Ver­wüs­tung und Tod, eine »kali­for­ni­sche Trau­rig­keit« jen­seits der jovia­len Ober­flä­che vor.6 Wie Mal­com Brad­bu­ry in sei­ner Geschich­te des moder­nen ame­ri­ka­ni­schen Romans schrieb, hat­te Brau­tig­an das Stig­ma, der »John Len­non des Hip­­pie-Romans« zu sein, obgleich er sich auf die­se Klas­si­fi­ka­ti­on nicht redu­zie­ren ließ.7. In der kri­ti­schen Tra­di­ti­on von C. Wright Mills kämpf­te er mit lite­ra­ri­schen Mit­teln gegen den »mili­­tä­risch-indus­­tri­el­­len Kom­plex«, woll­te im Zeit­al­ter der Hoch­tech­no­lo­gie und der über­bor­de­nen mili­tä­ri­schen Macht eine »pas­to­ra­le ame­ri­ka­ni­sche Unschuld« zurück­ge­win­nen8 – ein Unter­fan­gen, das einem mehr­fach gewen­de­ten leni­­nis­­tisch-trot­z­kis­­ti­­schen Par­ti­san im Kal­ten Krieg wie Phil­ip Rahv, der aus Russ­land über Paläs­ti­na in die USA emi­griert war, nicht nur unver­ständ­lich erschien, son­dern über­aus suspekt vor­kom­men muss­te.9 Weit­aus kla­rer arbei­te­te Leo Marx die Kri­tik am tech­no­lo­gie­fi­xier­ten ame­ri­ka­ni­schen Kapi­ta­lis­mus in sei­ner Stu­die The Machi­ne in the Gar­den (1964) her­aus, in der er die öko­lo­gi­sche Gesell­schafts­kri­tik der »Neu­en Lin­ken« der 1960er Jah­re anti­zi­pier­te und den Bogen vom anar­chis­ti­schen Außen­sei­ter Hen­ry David Tho­reau zum Akti­vis­ten der Bür­ger­rechts­be­we­gung Mario Savio spann­te. Leo Marx’ Kri­tik der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung ging ein­her mit den kri­ti­schen Ein­las­sun­gen von Lewis Mum­ford und Mur­ray Book­chin, die ein neu­es öko­lo­gi­sches Bewusst­sein nicht nur im Umgang mit natür­li­chen Res­sour­cen, son­dern auch mit mensch­li­chen Herr­schafts­for­men jen­seits von Domi­nanz und Unter­wer­fung in den öko­no­mi­schen Pro­zes­sen in Fabri­ken, Uni­ver­si­tä­ten und Fami­li­en the­ma­ti­sier­ten.10 War Kaf­ka Apa­che? In einem Essay über die Hoff­nung und Ent­täu­schung, die das Kon­strukt »Ame­ri­ka« dar­stellt, zitier­te Marx aus einem Gedicht Her­man Mel­vil­les aus dem Jah­re 1860, in dem er über die »Übel mei­nes Lan­des« reflek­tier­te, wo »die schöns­te Hoff­nung der Welt« mit dem schlimms­ten Ver­bre­chen der Mensch­heit ver­bun­den sei.11 Ähn­lich äußer­te sich in Brau­tig­ans Buch Trout Fishing in Ame­ri­ca ein Jahr­hun­dert spä­ter die Span­nung zwi­schen Uto­pie und Ent­täu­schung: Es begann mit typo­gra­fi­schen Spie­le­rei­en, unmit­tel­bar gefolgt von einer Refle­xi­on über das »Cover« des Buches – bei­de Momen­te gehen in der deut­schen Aus­ga­be ver­lo­ren. Der Umschlag eines Buches erfasst nicht »The Cover for Trout Fishing in Ame­ri­ca« in Gän­ze, bei dem die apo­ka­lyp­ti­schen Unter­tö­ne aus dem ver­gan­ge­nen Jahr­zehnt der abso­lu­ten tech­no­lo­gi­schen Mach­bar­keit im Über­le­ben der von Poli­tik und Tech­no­lo­gie ver­strahl­ten Indi­vi­du­en in »Duck and Cover«-Übungen im Kal­ten Krieg mit­schwan­gen. Im Som­mer 1945 bomb­ten sich – wie Dwight Mac­do­nald in sei­ner anar­cho­pa­zi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics schrieb – die »Ver­tei­di­ger der Zivi­li­sa­ti­on« auf das mora­li­sche Niveau der »Bes­ti­en von Mai­danek«, wobei die Wis­sen­schaft­ler des mili­tä­ri­schen Pro­jekts sich als Spe­zia­lis­ten und Tech­ni­ker begrif­fen, die sich ihrer indi­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung ent­schlu­gen.12 Wie der däni­sche Atom­wis­sen­schaft­ler Niels Bohr sei­nen US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Kol­le­gen ins Stamm­buch schrieb, muss­te das gan­ze Land in eine Fabrik für die Anrei­che­rung von Plu­to­ni­um und Was­ser­stoff­ent­wick­lung ver­wan­delt wer­den. Das Land in der Nähe von Los Ala­mos, wo die Wis­sen­schaft­ler im Auf­trag der US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Regie­rung die Bom­be ent­wi­ckel­ten, wur­de zum nuklea­ren Test­ge­biet und die ansäs­si­gen »Nati­ve Ame­ri­cans« zu Test­per­so­nen der ato­ma­ren Kon­ta­mi­nie­rung im Lau­fe von mehr als hun­dert Deno­ta­tio­nen.13 In Brau­tig­ans Anfangs­ka­pi­tel erscheint Kaf­ka in der ame­ri­ka­ni­schen Land­schaft: War es Kaf­ka, der durch das Lesen der Auto­bio­gra­fie Ben­ja­min Fran­k­lins Ame­ri­ka ken­nen­lern­te … Kaf­ka, der sag­te, »ich mag die Ame­ri­ka­ner, weil sie gesund und opti­mis­tisch sind«.14 Mög­li­cher­wei­se war Kaf­ka in sei­nem »roman­ti­schen Anti­ka­pi­ta­lis­mus« (wie Cos­tas Despi­nia­dis schreibt) eher den »Nati­ve Ame­ri­cans« zuge­tan, wie nicht nur in dem kur­zen Text »Wunsch, India­ner zu wer­den« zum Aus­druck kam.15 In Arthur Holit­schers Repor­ta­ge Ame­ri­ka heu­te und mor­gen (die Kaf­ka zu sei­nem Ame­ri­­ka-Roman inspi­rier­te) heißt es zum Stich­wort »India­ner«: Nicht gera­de dar­um, weil die India­ner ein so schwer zivi­li­sier­ba­res Natur­volk sind, stel­len sie ein solch sym­pa­thi­sches Wun­der im neu­en Welt­teil vor. Son­dern dar­um, weil alles rings um die­ses stol­ze, beraub­te und miß­han­del­te Volk her­um sich der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on erfreut und der India­ner es vor­zieht, in sei­nen Ber­gen und Gebü­schen elend zugrun­de zu gehen. Dar­um hat der India­ner auf irgend­ei­ne Wei­se sich die Lie­be der Men­schen erwor­ben, die die Erde lie­ben, die aber die Zivi­li­sa­ti­on eini­ger­ma­ßen krank gemacht hat.16 Zu den bit­te­ren Iro­nien der kapi­ta­lis­ti­schen Geschich­te gehört, dass Kaf­ka von den Adep­ten des digi­ta­len Kapi­ta­lis­mus für die Ver­mark­tung ihrer Pro­duk­te in Dienst genom­men wird, wie etwa bei der vor­geb­lich »frei­en Soft­ware« Apa­che Kaf­ka, die als »ver­teil­tes Mes­­sa­­ging-Sys­­tem« für den Kom­plex Big Data Daten­strö­me spei­chert und ver­ar­bei­tet. Auf die Fra­ge, wor­in die Bezie­hung zwi­schen »Kaf­ka the wri­ter« und »Apa­che Kaf­ka« bestehe, weiß das künst­li­che Super­hirn ChatGPT zu berich­ten, dass kei­ne Bezie­hung bestehe. Das »ver­teil­te Mes­­sa­­ging-Sys­­tem« habe sich nach dem Autor zu Ehren sei­nes Wer­kes benannt, das oft von »The­men der Ent­frem­dung und Büro­kra­ti­sie­rung« han­de­le. Mit den Wor­ten der Situa­tio­nis­ten: »Eine Geis­tes­krank­heit hat unse­re Welt befal­len: die Herr­schaft der Bana­li­tät.«17 Alles wird in die »Daten­ver­ar­bei­tung« inte­griert, und der Autor, der gegen das auto­ri­tä­re Sys­tem anschrieb, wird zum Namens­ge­ber eines tech­no­lo­gi­schen Sys­tems, in dem jede Regung gespei­chert und ver­ar­bei­tet wird, gewis­ser­ma­ßen als frei flu­ten­de Auto­ma­ti­on eines »kaf­ka­es­ken Pro­zes­ses«. Im Zeit­al­ter der omni­prä­sen­ten Daten ist die Gesell­schaft inte­gral, beob­ach­te­te Theo­dor W. Ador­no bereits in den spä­ten 1940er Jah­ren, »schon ehe sie tota­li­tär regiert wird«. »Noch Kaf­ka wird zum Inven­tar­stück des unter­ge­mie­te­ten Ate­liers.«18 Die intel­lek­tu­el­le Arm­se­lig­keit brei­tet sich ihre Bah­nen durch die magi­schen Kanä­le des Immer­glei­chen, die im News­peak des tech­no­lo­gi­schen Digi­­tal-Mar­ke­­tings als Gegen­welt der »frei­en Inhal­te«, der »frei­en Platt­for­men« und der »frei­en Pro­gram­me« allen­falls als Bei­trä­ge zur Geis­tes­ge­schich­te in einer unter­ge­gan­ge­nen Welt fir­mie­ren kön­nen. Schrei­ben und Fischen Kaf­ka habe, schrieb Ador­no, »die tota­le Robin­so­na­de geschrie­ben, die in einer Pha­se, in der jeder Mensch sein eige­ner Robin­son wur­de und auf einem mit zusam­men­ge­raff­tem Zeug bela­de­nen Floß ohen Steu­er umher­treibt«19 Auch Brau­tig­ans Wer­ke sind »Robin­so­na­den« in einer ein­fa­chen und kla­ren Spra­che, die ihre Vor­bil­der in Sher­wood Ander­son und Ernest Heming­way hat­te. Zuwei­len wur­de Brau­tig­an als der »Heming­way der Sech­zi­ger«20 titu­liert, und der Titel Trout Fishing in Ame­ri­ca spiel­te auf Heming­ways kur­zen Arti­kel »Trout Fishing in Euro­pe« an, der 1923 in der Zei­tung Toron­to Star Weekly erschien, sowie auf die vie­len Pas­sa­gen über das Forel­len­fi­schen in Heming­ways Werk, den Kampf um das Schrei­ben und Fischen in der Vor­stel­lung von Mas­ku­li­ni­tät, der letzt­lich um die Fra­ge von Gelin­gen und Schei­tern der männ­li­chen Exis­tenz in der Aus­ei­an­der­set­zung mit der Natur kreis­te.21 Schon seit frü­hen Jah­ren prä­sen­tier­te sich Heming­way gern als erfolg­rei­cher Kämp­fer mit sei­ner Beu­te – im Fal­le des Fisch­fangs reich­te sie von der Forel­le bis zum Schwert­fisch – und demons­trier­te in die­ser Pose die Unter­wer­fung der Natur durch einen wil­lens­star­ken Mann. Bei Brau­tig­an geht es auch um das Erkun­den von Fang­grün­den, doch oft steht »das Buch« im Vor­der­grund, das in ver­viel­fäl­tig­ter Form wie ein unüber­schau­ba­res Kon­vo­lut von anti­quier­ten, ver­mo­dern­den Beu­te­stü­cken zur Schau gestellt wird, obwohl der geis­ti­ge Nutz- und Nähr­wert in Zei­ten des Ver­ges­sens, des Zer­falls und der Demenz nicht ein­mal nach­weis­bar ist. In einer mit »Sea, Sea Rider« beti­tel­ten Vignet­te beschreibt Brau­tig­an einen Buch­händ­ler, der Geor­ge Orwell und Edmund Wil­son moch­te und im Alter von sech­zehn Jah­ren zuerst durch Dos­to­jew­ski und spä­ter die Huren von New Orleans sei­ne Lebens­er­fah­rung sam­mel­te. Der Buch­la­den war ein Park­platz für alte Fried­hö­fe, Tau­sen­de alter Fried­hö­fe stan­den hier in Rei­hen geparkt wie Autos. Die meis­ten Schwar­ten waren ver­grif­fe­ne Aus­ga­ben, und nie­mand woll­te sie mehr lesen, und die Leu­te, die die Bücher gele­sen hat­ten, waren ver­stor­ben oder hat­ten sie ver­ges­sen, aber durch den orga­ni­schen Pro­zeß der Musik waren die Bücher wie­der Jung­frau­enm gewor­den. Sie tru­gen ihre alter­tüm­li­chen Copy­rights wie neue Jung­fern­häu­te.22 In dem spä­te­ren Roman The Abor­ti­on (1971) arbei­tet der Prot­ago­nist in einer Biblio­thek für unpu­bli­zier­ba­re Bücher in San Fran­cis­co, in der »Ver­lie­rer des Lebens« ihre Manu­skrip­te depo­nie­ren kön­nen. Dort wer­den sie in Emp­fang genom­men, regis­triert und ein­sor­tiert. Die Trans­for­ma­ti­on zu Büchern wer­den sie nicht erle­ben, Leser*innen wer­den sie nicht fin­den, aber sie wer­den – von wem auch immer – geschätzt. Out of the Past Wie Kath­ryn Hume beob­ach­te­te, erlosch Brau­tig­ans lite­ra­ri­sche Bedeu­tung nach dem Ende der gegen­kul­tu­rel­len Eupho­rie in der kri­ti­schen Ver­ges­sen­heit.23 Sei­ne kate­go­ria­le Ver­knüp­fung mit der kali­for­ni­schen Bea­t­­nik- und Flower-Power-Bewe­­gung wur­de ihm – ohne dass er es ver­hin­dern konn­te – zum Ver­häng­nis. Er war weni­ger das lite­ra­ri­sche Sprach­rohr der Hip­­pie-Gene­ra­­ti­on, denn ein radi­ka­ler Expe­ri­men­ta­tor, der die kri­ti­sche US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Tra­di­ti­on mit der Infra­ge­stel­lung popu­lä­rer Mytho­lo­gien in Form des Wes­tern und des Kri­mi­nal­ro­mans ver­band – ähn­lich wie bei Robert Coo­ver oder Paul Aus­ter, die enger in die post­mo­der­ne Infra­struk­tur seit den 1980er Jah­ren ein­ge­bun­den waren als das schein­ba­re Relikt der 1960er Jah­re. Im Lau­fe der Zeit schien er aus der Welt zu fal­len und die Kon­trol­le über sein Leben zu ver­lie­ren: Oft war er »betrun­ken, mür­risch und gehetzt«, wie Keith Abbott in sei­nen Erin­ne­run­gen an Brau­tig­an schrieb.24 Auf einer Deut­sch­­land-Tour­­nee bemerk­te sein deut­scher Über­set­zer Gün­ter Ohne­mus, dass er außer Kon­trol­le war, Lesungs­ter­mi­ne nicht ein­hielt oder Ver­an­stal­tun­gen tor­pe­dier­te und Mög­lich­kei­ten, in Euro­pa mit sei­ner Lite­ra­tur ein beschei­de­nes Aus­kom­men zu fin­den, in den Wind schlug. Im mythi­schen Jahr 1984 fand man den 49-jäh­ri­­gen Autor tot neben einer Alko­hol­fla­sche und einer Waf­fe vom Kali­ber .44. In einem spä­te­ren Nach­ruf schrieb der Schrift­stel­ler Her­mann Peter Piwitt: Als vor eini­gen Mona­ten der Tod Richard Brau­tig­ans gemel­det wur­de, war mir, als hät­te mir Augen­tha­ler ins Knie getre­ten. Brau­tig­an schrieb die zärt­lichs­ten, ver­rück­tes­ten, kunst­volls­ten und zugleich schlich­tes­ten Geschich­ten, die mir unter­ge­kom­men sind, seit ich vor 12 Jah­ren ›In Was­ser­me­lo­nen Zucker‹ las. Wovon sie han­deln? Es sind alle­samt Epi­pha­ni­en des All­tags, eine betö­ren­der als die ande­re, vol­ler unschein­ba­rer uner­hör­ter Bege­ben­hei­ten — und viel zu scha­de, um vor­her etwas aus­zu­plau­dern.25   Oder um es anders aus­zu­drü­cken:  »I hope that Richard Brau­tig­an will for­gi­ve me for wri­ting this sto­ry.«26 © Jörg Auberg 2023 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Richard Brau­tig­an. Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka. Über­setzt von Céli­ne und Hei­ner Bas­ti­an. Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag, 1971. 136 Sei­ten. ISBN: 3–446–11496–3. Wei­te­re Wer­ke: Richard Brau­tig­an. A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur (1964). Ein­lei­tung von Black Fran­cis. Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014. 142 Sei­ten, £ 8,99. ISBN: 978–1‑78211–379‑9. Richard Brau­tig­an. Trout Fishing in Ame­ri­ca (1967). Ein­lei­tung von Bil­ly Coll­ins. Bos­ton: Mari­ner Books, 2010. 112 Sei­ten, US-$ 13,95. ISBN: 978–0‑547–25527‑9. Richard Brau­tig­an. In Water­me­lon Sugar (1968). Lon­don: Vin­ta­ge Books, 2015. 141 Sei­ten, £ 8,99. ISBN: 978–0‑099–43759‑8. Richard Brau­tig­an. The Abor­ti­on: A His­to­ri­cal Romance 1966 (1971). Lon­don: Vin­ta­ge Books, 2002. 171 Sei­ten, £ 12,99. ISBN: 978–0‑099–43758‑1. Richard Brau­tig­an. Reven­ge of the Lawn: Sto­ries 1962–1970 (1972). Ein­lei­tung von Sarah Hall. Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014. 146 Sei­ten, £ 8,99. ISBN: 978–1‑78211–378‑2. Richard Brau­tig­an. The Haw­k­li­ne Mons­ter: A Gothic Wes­tern (1974). Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017. 172 Sei­ten, £ 9,99. ISBN: 978–1‑78689–042‑9. Richard Brau­tig­an. Som­bre­ro Fall­out: A Japa­ne­se Novel (1976). Ein­lei­tung von Jar­vis Cocker. Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014. 177 Sei­ten, £ 9,99. ISBN: 978–0‑85786–264‑8. Richard Brau­tig­an. Dre­a­ming of Baby­lon: A Pri­va­te Eye Novel 1942 (1977). Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017. 185 Sei­ten, £ 8,99. ISBN: 978–1‑78689–044‑3. Richard Brau­tig­an. So the Wind Won’t Blow It All Away (1982). Ein­lei­tung von Jef­frey Lent. Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017. 104 Sei­ten, £ 9,99. ISBN: 978–1‑78689–046‑7. Richard Brau­tig­an. A Unfort­u­na­te Woman: A Jour­ney (2000). Ein­lei­tung von Jef­frey Lent. Edin­burgh: Canon­ga­te, 2001. 110 Sei­ten, £ 9,99. ISBN: 978–1‑84195–146‑1. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka © Carl Han­ser Verlag/Heinz Edel­mann Cover Trout Fishing in Ame­ri­ca © Mari­ner Books Cover A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur © Canon­ga­te Cover Heming­way on Fishing © Scrib­ner Clas­sics Publi­ci­­ty-Foto von Richard Brau­tig­an © John Frey­er (www.brautigan.net) Nach­wei­se Wolf­gang Kar­rer und Eber­hard Kreut­zer, Wer­ke der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur von 1890 bis zur Gegen­wart, 4. erwei­ter­te Auf­la­ge (Mün­chen: dtv, 1989), S. 305 ↩ Bil­ly Coll­ins, »Intro­duc­tion«, in: Richard Brau­tig­an, Trout Fishing in Ame­ri­ca (New York: Mari­ner Books, 2010), S. xi ↩ Todd Git­lin, »Post­mo­der­nism: Roots and Poli­tics«, Dis­sent, Win­ter 1989, S. 100–108 ↩ Phil­ip Rahv, »New Ame­ri­can Fic­tion«, New York Review of Books, 8. April 1965, https://www.nybooks.com/articles/1965/04/08/new-american-fiction/ ↩ Robert M. Adams, »Brau­tig­an Was Here«, New York Review of Books, 22. April 1971, https://www.nybooks.com/articles/1971/04/22/brautigan-was-here/ ↩ Tony Tan­ner, City of Words: A Stu­dy of Ame­ri­can Fic­tion in the Mid-Twen­­tieth Cen­tu­ry (Lon­don: Jona­than Cape, 1971), S. 406 ↩ Mal­colm Brad­bu­ry, The Modern Ame­ri­can Novel (New York: Pen­gu­in Books, 1983, rev. 1994), S. 217 ↩ Brad­bu­ry, The Modern Ame­ri­can Novel, S. 217–218 ↩ Zum Hin­ter­grund sie­he Jef­frey Mey­ers, »The Trans­for­ma­ti­ons of Phil­ip Rahv«, Sal­magun­di, Nr. 202–203 (Früh­­jahr-Som­­mer 2019), S. 179–209; und Jörg Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le: Eine poli­­tisch-kul­­tu­­rel­­le Geschich­te von Auf­stieg und Nie­der­gang, 1930–2020 (Bie­le­feld: Tran­­script-Ver­­lag, 2022), S. 267–276 ↩ Leo Marx, The Machi­ne in the Gar­den: Tech­no­lo­gy and the Pas­to­ral Ide­al in Ame­ri­ca (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 1964; rev. 2000), S. 367–386; Lewis Mum­ford, Tech­nics & Civi­liza­ti­on (1934; rpt. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press, 2010); Lewis Her­ber (d. i. Mur­ray Book­chin), Our Syn­the­tic Envi­ron­ment (1962; rpt. East­ford, CT: Mar­ti­no Fine Books, 2018) ↩ Leo Marx, »Belie­ving in Ame­ri­ca: An Intellec­tu­al Pro­ject and a Natio­nal Ide­al«, Bos­ton Review, 1. Dezem­ber 2003, https://www.bostonreview.net/articles/leo-marx-believing-america/; Her­man Mel­ville, »Mis­gi­vings«, https://poets.org/poem/misgivings ↩ Dwight Mac­do­nald, Poli­tics Past (New York: Viking, 1957), S. 169–179 ↩ Ned Black­hawk, The Redis­co­very of Ame­ri­ca: Nati­ve Peo­p­les and the Unma­king of U. S. Histo­ry (New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2023), S. 210; Wolf­gang Haug, »Ein pas­sen­der Film zum mili­ta­ris­ti­schen Zeit­geist: ›Oppen­hei­mer‹«, Gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­on, Nr. 484 (Dezem­ber 2023), S. 17 ↩ Richard Brau­tig­an, Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, übers. Céli­ne und Hei­ner Bas­ti­an (Mün­chen: Han­ser, 1971), S. 8 ↩ Cos­tas Despi­nia­dis, The Ana­to­mist of Power: Franz Kaf­ka and the Cri­tique of Aut­ho­ri­ty (Mon­tré­al: Black Rose Books, 2019), S. 37–61; Franz Kaf­ka, Die Erzäh­lun­gen, hg. Roger Her­mes (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1996), S. 7 ↩ Arthur Holit­scher, Ame­ri­ka heu­te und mor­gen (Ber­lin: S. Fischer, 1913), S. 204 ↩ Der Gro­ße Schlaf und sei­ne Kun­den: Situa­tio­nis­ti­sche Tex­te zur Kunst, hg. Han­na Mit­tel­städt (Ham­burg: Edi­ti­on Nautilus/Edition Moder­ne, 1990), S. 16 ↩ Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 275–276 ↩ Theo­dor W. Ador­no, Pris­men: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 276 ↩ Jar­vis Cocker, Ein­lei­tung zu: Richard Brau­tig­an, Som­bre­ro Fall­out: A Japa­ne­se Novel (Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014), S. viii ↩ Heming­way on Fishing, hg. Nick Lyons (New York: Scrib­ner Clas­sics, 2012), S. 95–100 ↩ Brau­tig­an, Trout Fishing in Ame­ri­ca, S. 22; Brau­tig­an, Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, S. 27 ↩ Kath­ryn Hume, »Brautigan’s Psy­cho­ma­chia«, Mosaic, 34, Nr. 1 (März 2001), S. 89 ↩ Keith Abbott, Down­stream from Trout Fishing in Ame­ri­ca: A Memoir of Richard Brau­tig­an (Ver­mil­li­on, SD: Astro­phil Press, 2009), S. 97 ↩ Her­mann Peter Piwitt, »H.P. Piwitts klei­nes Feuil­le­ton: Epi­pha­ni­en des All­tags«, Kon­kret, Febru­ar 1986, S. 78 ↩ Richard Brau­tig­an, Reven­ge of the Lawn: Sto­ries 1962–1970 (Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014), S. 139 ↩ […]

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Ingrid Gilcher-Holtey — Warten auf Godot?

Ingrid Gilcher-Holtey und Eva Oberloskamp (Hgg.): Warten auf Godot? (Berlin: Walter de Gruyter, 2020)

Furien des Verschwindens   Anmerkungen zu einer Anthologie der »Intellectual History« nach 1968   von Jörg Auberg »Wie der Intel­lek­tu­el­le es macht, macht er es falsch.« Theo­dor W. Ador­no 1   Im Wort­schatz der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len, bemerk­te Euge­ne Good­he­art in einem kur­zen Abriss ihrer Geschich­te, bezeich­ne­te der Begriff »Aka­de­mi­ker« stets das...

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