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Das Elend der Fernsehkritik

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Das Elend der Fernsehkritik


Über das Stampfen der Fernsehmaschine

von Jörg Auberg

In einem pro­gram­ma­ti­schen Arti­kel über die destruk­tiv-vam­pi­ri­schen Mög­lich­kei­ten des Fern­se­hens aus dem Jah­re 1970 kon­sta­tier­ten die Film­kri­ti­ke­rin­nen Frie­da Gra­fe und Enno Pata­l­as: »Wir haben bekannt­lich das bes­te Fern­se­hen der Welt – und des­halb auch das schlech­tes­te Kino.«1 Ziel der Kri­tik war ein öffent­lich-recht­li­ches Fern­se­hen, das sich sei­ne Exis­tenz mit dem »Raub­bau am Kino« erkauf­te, um ein attrak­ti­ves Pro­gramm Tag um Tag zu gestal­ten, wäh­rend das Kino zuneh­mend in einer »Vam­pir-Öko­no­mie« öko­no­misch und geis­tig aus­ge­zehrt wur­de.2

Das vampiristische Medium 

Begeg­nun­gen mit dem Inten­dan­ten: Max Schreck in F. W. Murnaus Nos­fe­ra­tu

»Das Fern­se­hen beu­tet blind­lings aus, was das Kino, Thea­ter, Poli­tik und ande­re Medi­en her­vor­brin­gen«, dozier­ten Gra­fe & Pata­l­as. »Was Fern­se­hen sein könn­te? Die­ser Fra­ge ver­sagt sich nie­mand mehr als das Fern­se­hen. Selbst unpro­duk­tiv, bemäch­tigt es sich der Film­ge­schich­te nur, um sie zu ver­wer­ten und zu ver­wurs­ten.«3 In Para­phra­se der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung hät­ten Gra­fe & Pata­l­as auch schrei­ben kön­nen: »Ewig stampft die Fern­seh­ma­schi­ne«4. Den Pro­gramm­ma­che­rin­nen attes­tier­ten sie nur ein gering ent­wi­ckel­tes Bewusst­sein des Medi­ums jen­seits sei­nes vam­pi­ris­ti­schen und destruk­ti­ven Cha­rak­ters, der sich in der Immer­gleich­heit der Wie­der­ho­lun­gen und im Blick in den »Rück­spie­gel« (rear-view mir­ro­rism) der Medi­en­ge­schich­te (wie Mar­shall McLuhan die­ses rück­wärts­ge­wand­te Ver­hal­ten nann­te5) erschöpf­te.


In einer frü­hen Stu­die des kom­mer­zi­el­len US-Fern­se­hens aus dem Jah­re 1953 kam Theo­dor W. Ador­no zu dem Schluss, dass Fern­se­hen sein Ver­spre­chen oder sei­ne Uto­pie auf­grund der bestehen­den öko­no­mi­schen Macht­ver­hält­nis­se bis­lang nicht rea­li­sie­ren konn­te. »Was aus dem Fern­se­hen wer­den mag, läßt sich nicht pro­phe­zei­en«, kon­sta­tier­te er; »was es heu­te ist, hängt nicht an der Erfin­dung, nicht ein­mal an den beson­de­ren For­men ihrer kom­mer­zi­el­len Ver­wer­tung son­dern am Gan­zen, in wel­ches das Mira­kel ein­ge­spannt ist.«6


In den spä­ten 1960er und den 1970er-Jah­ren über­nah­men die öffent­lich-recht­li­chen Fern­seh­an­stal­ten auch die Funk­ti­on von Film­pro­duk­ti­ons­un­ter­neh­men, wel­che die sie­chen­de bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Film­wirt­schaft auf die Rol­le des Bitt­stel­lers in den büro­kra­ti­schen Appa­ra­ten redu­zier­ten. Ziel war es, wie Tors­ten Musi­al in sei­ner Geschich­te der WDR-Fern­seh­spiel­ab­tei­lung die­ser Jah­re (unter Beru­fung auf den WDR-Medi­en­un­ter­neh­mer Gün­ter Rohr­bach) schreibt, den deut­schen »Fern­seh­film von sei­ner muf­fi­gen Pro­vin­zia­li­tät« zu befrei­en und eine »Fil­mi­sie­rung des Fern­seh­spiels« zu betrei­ben, wobei sich der Appa­rat die krea­ti­ven Pro­duk­tiv­kräf­te von ambi­tio­nier­ten, auf­stre­ben­den Film­ta­len­ten wie Rai­ner Wer­ner Fass­bin­der, Edgar Reitz, Rudolf Thome, Klaus Lem­ke, Hans W. Gei­ßen­dör­fer oder Wim Wen­ders zunut­ze mach­te.7


»Die spä­ten 1960er und die 1970er Jah­re waren eine Blü­te­zeit des bun­des­deut­schen Fern­seh­spiels«8, lau­tet die Arbeits­prä­mis­se des Ban­des Die Fern­seh­spiel­re­dak­ti­on des WDR 1965–1979: Ein­sich­ten in die Wirk­lich­keit, der die Geschich­te der WDR-Fern­seh­spiel­pro­duk­ti­on jener Jah­re vor allem aus Unter­neh­mer­sicht wie Rohr­bach oder Peter Mär­the­s­hei­mer auf­be­rei­tet, die mit ihrer »jour­na­lis­ti­schen« oder »all­tags­rea­lis­ti­schen« Ori­en­tie­rung die TV-Pro­duk­ti­on in eine gesell­schaft­lich aner­kann­te Strö­mung drück­ten, ohne gro­ße Expe­ri­men­te in poli­ti­scher wie tech­ni­scher Hin­sicht zu ermög­li­chen. Dar­in drück­te sich – mit Orson Wel­les gespro­chen – die »Spar­sam­keit des Fern­se­hens« aus, das »Feind der klas­si­schen fil­mi­schen Wer­te« war, »nicht aber des Films sel­ber«.9

Obgleich beim WDR vor­geb­lich ein »gro­ßes Inter­es­se an den jun­gen Regis­seu­ren wegen deren neu­er Sicht auf das Fil­me­ma­chen, wegen der gemein­sa­men Ori­en­tie­rung an der Nou­vel­le Vague«10 herrsch­te, fan­den for­ma­le Expe­ri­men­te nicht statt. Bei­spie­le für den inno­va­ti­ven Film-Essay in der (selbst-) kri­ti­schen Form (wie ihn Jean-Luc Godard in den spä­ten 1960er und in den 1970er-Jah­ren ent­wi­ckelt hat­te) fand in der Bun­des­re­pu­blik eher im (inter­na­tio­nal aus­ge­rich­te­ten) Kon­kur­renz­for­mat Das klei­ne Fern­seh­spiel des ZDF statt, wo Godards Weg­ge­fähr­te Jean-Pierre Gorin in sei­nem Film Rou­ti­ne Plea­su­res (1986) die Film­kri­tik Man­ny Farb­ers mit der Welt US-ame­ri­ka­ni­scher Modell­ei­sen­bahn-Ama­teu­re ver­knüpf­te.11


Die »Legendisierung« der Fernseharbeiter

Eine der prä­gen­den Figu­ren des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Fern­seh­spiels war Wolf­gang Men­ge, der nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges zunächst als Jour­na­list für die neu­en Medi­en­kon­zer­ne Sprin­ger und Gru­ner & Jahr arbei­te­te, ehe er in den Bereich der Film- und Fern­seh­ar­beit wech­sel­te. In sei­ner Men­ge-Bio­gra­fie Wer war WM? (die ein Auf­guss der »Medi­en­bio­gra­phie« Men­ges aus der For­schungs­kon­fe­renz »Der Tele­vi­sio­när: Wolf­gang Men­ges trans­me­dia­les Werk« aus dem Jahr 2016 dar­stellt12 prä­sen­tiert sich der Autor Gun­dolf S. Frey­er­muth – ein Gon­zo-Vete­ran des Zeit­geist-Jour­na­lis­mus der 1980er-Jah­re – als inni­ger Freund sei­nes Bio­gra­fen-Sub­jekts, der über die Tech­nik­be­geis­te­rung sei­nes Freun­des Men­ge von Auto­mo­bi­len (Fiat Bal­il­la und MG TD Mid­get über Jagu­ar bis zur Audi-Limou­si­ne) bis zu Schreib­au­to­ma­ten von der Kugel­kopf-Schreib­ma­schi­ne oder zu frü­hen Com­pu­tern wie DOS-Win­dows oder Mac­in­tosh sich aus­lässt und immer wie­der in den Fokus der eige­nen Erzäh­lung rückt.

Gun­dolf S. Frey­er­muth: Wer war WM? (Kul­tur­ver­lag Kad­mos, 2025)


Für Frey­er­muth – den neo­li­be­ra­len Zeit­geist­jour­na­lis­ten aus der post­mo­der­nen Pha­lanx von Trans­at­lan­tik, Tem­po und Stern – ist Men­ge eine ideo­lo­gi­sche Pro­jek­ti­ons­flä­che des sys­tem­kon­for­men Jour­na­lis­ten, des Kar­rie­re­men­schen mit beson­de­rem Inter­es­se für Tech­nik & Kapi­tal und des Par­ve­nüs im bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Jus­te-Milieu, der in Ham­burg, Ber­lin und auf Sylt mit männ­li­cher Deu­tungs­ho­heit sich durch­setzt, wäh­rend ande­re Tei­le der Fami­lie ledig­lich als Anhäng­sel mit­ge­schleppt wer­den.13 Die Geschich­te von Men­ge im Umfeld von Sprin­ger, Gru­ner & Jahr, Kracht & Boe­nisch hät­te das Poten­zi­al für eine pyn­cho­nes­ke Medi­en­er­zäh­lung mit jenem Geist gehabt, »des­sen Vor­na­me eben­so­gut Zeit wie Pol­ter lau­ten konn­te«14, doch Frey­er­muth ist zu sehr in die herr­schaft­li­chen Gesetz­mä­ßig­kei­ten der Medi­en­in­dus­trie invol­viert, als dass er einen kri­ti­schen Blick auf die Mecha­nis­men der kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie rich­ten könnte.

Denis Scheck emp­fiehlt Wer war WM? | WDR 3 Mosa­ik (30.06.2025)


Sym­pto­ma­tisch ist die Lob­hu­de­lei des ehe­ma­li­gen Tem­po-Autors und Lite­ra­tur­ver­käu­fers Denis Scheck, der Men­ge markt­schreie­risch als »Jahr­hun­dert­ge­stalt« und »Tau­send­sas­sa« cha­rak­te­ri­siert15, wäh­rend Men­ges rea­le Film- und Fern­seh­pro­duk­tio­nen bei der zeit­ge­nös­si­schen Kri­tik ein eher ver­hal­te­nes Echo fan­den. Das Jür­gen-Roland-Vehi­kel Unser Wun­der­land bei Nacht (1959), zu dem (neben ande­ren Autoren) Men­ge das Dreh­buch bei­steu­er­te, kom­men­tier­te der Film­kri­ti­ker Diet­rich Kuhl­brodt mit den Wor­ten: »In grau­em Dilet­tan­tis­mus zer­flat­tert das Debü­tan­ten­werk.«16


Autorität und Fernsehen

In jenen Jah­ren resüs­sier­ten Roland und Men­ge vor allem mit der Adap­ti­on der US-ame­ri­ka­ni­schen Fern­seh­se­rie Drag­net, die zwi­schen 1951 und 1970 eine der erfolg­reichs­ten TV-Shows in den USA war und in der Bun­des­re­pu­blik unter dem Titel Stahl­netz zwi­schen 1958 und 1968 lief. Das US-ame­ri­ka­ni­sche Kon­zept wur­de blank auf das bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Milieu unter Aus­blen­dung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit über­tra­gen. Nie­mals kommt das poli­zei­li­che »Vor­le­ben« der Kom­mis­sa­re (wie etwa der von Rudolf Plat­te – der im Natio­nal­so­zia­lis­mus auch in NS-Pro­pa­gan­da­fil­men wie Hit­ler­jun­ge Quex oder Bluts­brü­der­schaft mit­ge­wirkt hat­te – dar­ge­stell­te Kri­mi­nal­ober­kom­mis­sar Fried­rich Rog­gen­burg) in der Zeit von 1933 bis 1945 zum Vor­schein. Stets ist der Kom­mis­sar Auto­ri­täts­fi­gur, die dem Bösen nach­spürt, ohne (mit Erich Fromm gespro­chen) die »gesell­schaft­li­che Auto­ri­täts­struk­tur« (der er selbst ent­stammt) in den kri­ti­schen Blick zu neh­men.17

Roland & Men­ge betrie­ben im Restau­ra­ti­ons­mi­lieu der Ade­nau­er-Repu­blik Fern­seh­un­ter­hal­tung mit Mit­teln des Poli­zei­staats. Im Zen­trum der Unter­hal­tungs­se­rie Stahl­netz ste­he – zitiert Frey­er­muth den Regis­seur Roland ohne jeg­li­che kri­ti­sche Hin­ter­fra­gung – die »Kri­mi­nal­po­li­zei und ihr Kampf gegen das Ver­bre­chen«.18


Stahl­netz prä­sen­tier­te sich immer wie­der mit der Behaup­tung der Authen­ti­zi­tät, und Frey­er­muth kocht die pseu­do­rea­lis­ti­sche Sup­pe mit einer »Stil­mi­schung aus Neo­rea­lis­mus und Film Noir«19 hoch, um das vor­geb­li­che Stil­ele­ment des »Voice­over-Kom­men­tars« des Film Noir der doku­men­ta­ri­schen Authen­ti­zi­tät der Stahl­netz-Rei­he unter­zu­ju­beln. »Bei­de Ele­men­te des Erzäh­lens aus dem Off, die Wir­kung des Authen­ti­schen und Objek­ti­ven wie des Fata­len und Sub­jek­ti­ven«, lob­hu­delt Frey­er­muth, »ver­schmilzt WM in sei­nen Stahl­netz-Dreh­bü­chern meis­ter­lich.«20 Unter­schla­gen wird frei­lich, dass im Voice­over-Kom­men­tar des Film Noir kei­nes­wegs ledig­lich die Hand­lung vor­an­ge­trie­ben wer­den soll­te, son­dern – wie Karen Hol­lin­ger kon­sta­tier­te – eine kom­ple­xe Refle­xi­vi­tät in der Rea­li­täts­wahr­neh­mung ver­ba­li­siert wur­de.21

Zudem war die ober­fläch­li­che kul­tu­rel­le Aneig­nung (oder Indienst­nah­me) des Film Noir-Stils für deut­sche Kri­mi­nal­fil­me eine noch­ma­li­ge spä­te Rache an den jüdi­schen Emi­gran­tin­nen (die den »Jewish Emi­g­ré Noir« nach ihrer erzwun­ge­nen Emi­gra­ti­on nach Hol­ly­wood begrün­det hat­ten), ohne ein Wort über die Sho­ah und die Ver­strickt­heit vie­ler Deut­scher in die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu ver­lie­ren.22

Auch der spek­ta­ku­lä­re Fern­seh­film Das Mil­lio­nen­spiel (1971), der auf der Kurz­ge­schich­te »The Pri­ze of Peril« (1959) des US-ame­ri­ka­ni­schen Sci­ence-Fic­tion-Autors Robert Sheck­ley beruht und spä­ter von Yves Bois­set unter dem Titel Le prix du dan­ger (1983) ver­filmt wur­de, trans­po­nier­te Men­ge die klas­si­sche US-ame­ri­ka­ni­sche Geschich­te eines ein­sa­men Hel­den, der für den Erfolg auch den Tod in Kauf nimmt, auf die deut­schen Ver­hält­nis­se: Aus Sheck­leys Prot­ago­nis­ten Jim Rae­der wird bei Men­ge der Lever­ku­se­ner Bern­hard Lotz (dar­ge­stellt als typi­scher gesell­schaft­li­cher Under­dog von Jörg Ple­va), der von gedun­ge­nen Kil­lern (der »Köh­ler-Ban­de«) bis ins Fern­seh­stu­dio zum »fina­len Ret­tungs­schuss« gejagt wird. Sheck­ley ver­ar­bei­te­te in sei­ner Kurz­ge­schich­te die Mecha­nis­men der Kul­tur­in­dus­trie, wie sie bereits Elia Kazan und Budd Schul­berg in ihrem Dra­ma A Face in the Crowd (1957) the­ma­ti­siert hatten. 

In Sheck­leys Kurz­ge­schich­te ist das Cha­rak­te­ris­ti­kum des Gejag­ten sei­ne Durch­schnitt­lich­keit, die im Fern­seh­fo­kus heroi­siert wird und im glei­ßen­den Schein­wer­fer­licht zum »Kul­tus des Bil­li­gen« zer­fällt (wie es in der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung heißt).23 Die Aura des Bil­li­gen umgibt auch den Chef der »Köh­ler-Ban­de«, der wie ein schmie­ri­ger Kri­mi­nel­ler aus fran­zö­si­schen B‑Film-Kri­mis der spä­ten 1960er-Jah­re wirkt. Für Rae­der ist das Fern­se­hen (das der Medi­en­so­zio­lo­ge Todd Git­lin spä­ter – in Anklang an den im Kal­ten Krieg popu­lä­ren Begriff des »mili­tä­risch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes« – als »Fern­seh-Indus­trie-Kom­plex«24 bezeich­ne­te), eine Stra­ße zu Ruhm & Reich­tum für einen Men­schen ohne beson­de­re Talen­te oder Bil­dung.25

Wäh­rend schon bei Sheck­ley das Fern­seh­sys­tem in Gestalt des JBC Net­work eine bestim­men­de Rol­le in der Erzäh­lung ein­nimmt, schreibt Frey­er­muth dem Dreh­buch­au­tor Men­ge ein beson­de­res Inge­ni­um in der Zeich­nung der »futu­ris­ti­schen tech­ni­schen Basis« des Fern­seh­films zu, die rea­li­ter durch die Musik der Musik­grup­pe Can oder die zeit­geis­tig-psy­che­de­li­schen Show­ein­la­gen von abs­trak­ten bun­ten Mas­sen­or­na­men­ten einer »ratio­na­len Leer­form des Kul­tes« (die bereits Sieg­fried Kra­cau­er in sei­ner Ana­ly­se der Mas­sen­kul­tur in den 1920er-Jah­ren ana­ly­sier­te) zustan­de kamen.26 Men­ges Fern­seh­spiel, behaup­tet Frey­er­muth, »über­zeich­net den zeit­ge­nös­sisch ein­set­zen Pro­zess der Media­li­sie­rung, der Zurich­tung des All­tags durch und für die Mas­sen­me­di­en, und macht mit die­ser Über­trei­bung die unschein­ba­ren Anfän­ge der ent­ste­hen­den Zukunft aller­erst sicht­bar«.27 Mit aka­de­mi­schem Halb­wis­sen über­höht der »Pro­fes­sor für Game Stu­dies und (Ko-) Grün­dungs­di­rek­tor des Colo­gne Game Lab der TH Köln« (wie ihn sein Ver­lag vor­stellt) Men­ge zum »Tele­vi­sio­när« und das tum­be, unmün­di­ge Fern­seh­pu­bli­kum, das im simu­lier­ten Mör­der­spiel nicht die Fein­hei­ten des sen­sa­tio­na­lis­ti­schen Simu­lak­rum verstand.

Frey­er­muth argu­men­tiert aus der Per­spek­ti­ve eines feti­schi­sier­ten Tech­ni­k­ap­pa­ra­tes und bür­det den »Mas­sen« die Schuld dafür auf, dass die media­le Pra­xis sie erst zu »Mas­sen« macht. Als Pri­vi­le­gier­ter des Sys­tems wäre es sei­ne intel­lek­tu­el­le Auf­ga­be, an der Bil­dung eines kri­ti­schen Bewusst­seins über die herr­schen­den Ver­hält­nis­se mit­zu­wir­ken, wor­an ihn aller­dings sei­ne medi­al-tech­ni­zis­ti­sche Tun­nel-Visi­on hin­dert. »Dies Bewußt­sein wäre zu erwe­cken«, for­der­te Theo­dor W. Ador­no 1963, »und dadurch die­sel­ben mensch­li­chen Kräf­te gegen das herr­schen­de Unwe­sen, die heu­te noch fehl­ge­lei­tet und ans Unwe­sen gebun­den sind«.28 Die vor­geb­li­che Gesell­schafts­kri­tik der aktu­el­len Medi­en­pra­xis zer­fällt in ein zetern­des, auf­ge­motz­tes Wabern des Spek­ta­ku­lä­ren im Sin­ne des »herr­schen­den Unwe­sens«, wobei die »per­fek­tio­nier­te Tech­nik« in der Medi­en­in­sze­nie­rung – wie es bereits in der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung hieß – »die Span­nung zwi­schen dem Gebil­de und dem all­täg­lich Dasein her­ab­setzt«29 Damit schlägt die behaup­te­te Medi­en- und Gesell­schafts­kri­tik ins Nich­ti­ge um und per­p­etu­iert die herr­schen­den Ver­hält­nis­se in den Apparaten.

Die Verelendung im öffentlich-rechtlichen Prekariat 

»Leben und arbei­ten in den Fern­seh­an­stal­ten«, Film­kri­tik, August 1975

Tat­säch­lich för­der­te das öffent­lich-recht­li­che Fern­se­hen (in ers­ter Linie WDR und NDR) trotz der spä­te­ren Heroi­sie­rung und Legen­den­bil­dung kein kri­ti­sches, Bewusst­sein, son­dern repro­du­zier­te »die Klas­sen- und Schich­ten­struk­tur der Gesell­schaft«30, wie Franz Drö­ge in einer Ana­ly­se der Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens 1973 schrieb. Wäh­rend sich Wolf­gang Men­ge immer wie­der über die schlech­te Bezah­lung durch öffent­lich-recht­li­che Sen­de­an­stal­ten beklag­te und trotz allem sich Sport­wa­gen und Resi­den­zen in Ber­lin oder auf Sylt leis­ten konn­te31, waren »freie« Mit­ar­bei­te­rin­nen in die­sem Sys­tem von pre­kä­ren Arbeits­be­din­gun­gen gebeu­telt, wo die Opti­on nur zwi­schen »Anpas­sung an den Appa­rat oder Wider­stand aus Koket­te­rie« bestand, wie Harun Faro­cki – ein Mit­glied der Film­kri­tik-Redak­ti­on und ein »frei­er« WDR-Mit­ar­bei­ter – schrieb. »Rund die Hälf­te des Gel­des gibt es bei Ablie­fe­rung, den Rest bei Sen­dung und auch dann noch min­des­tens 14 Tage spä­ter. Ohne die Zin­sen für zu spät aus­ge­zahl­te Hono­ra­re hät­ten alle Sen­der ein Stock­werk weni­ger.«32


Der WDR war nicht allein eine »Fern­seh­fa­brik« zwi­schen Kom­pli­zen­schaft und Mit­schuld, die Faro­cki in sei­nen Fern­seh­fea­tures und kri­ti­schen Arti­keln reflek­tier­te, son­dern auch ein Expe­ri­men­tier­feld für fil­mi­sche Essays in der Tra­di­ti­on von Godard und Ador­no.33 Wie Nora M. Alter in ihrer Ana­ly­se des Film­werks Faro­ckis in den 1970er- und 1980er-Jah­ren kon­sta­tier­te, ver­fiel Faro­cki nie auf auto­ri­tä­re Voice-Over-Kom­men­ta­re oder sons­ti­ge Inter­ven­tio­nen von außen, son­dern ließ die Erzäh­lung aus dem Mate­ri­al ent­ste­hen.34


Faro­ckis Essay­fil­me waren – mit Ador­no gespro­chen – »ein ein­zi­ger Pro­test gegen die töd­li­che Ver­su­chung, es sich leicht zu machen, indem man dem gan­zen Glück und der gan­zen Wahr­heit ent­sagt. Lie­ber am Unmög­li­chen zugrun­de gehen.«35 Faro­cki pro­jek­tier­te ein »ande­res Fern­se­hen«, schei­ter­te am Ende jedoch an den har­ten Rea­li­tä­ten des Appa­rat-Fern­se­hens. Bei­spiel­haft ist die WDR-Ver­pflich­tung des Nou­vel­le-Vague-Hel­den Samu­el Ful­ler für die Tat­ort-Rei­he (Tote Tau­be in der Beet­ho­ven­stra­ße, 1973): »der WDR steht in Köln ange­füllt mit der Tris­tesse gesamt­ka­pi­ta­lis­ti­scher Infor­ma­ti­ons­pro­duk­ti­on«, kom­men­tier­te Faro­cki. »Die Leu­te vom WDR sind die Film­be­am­ten, Ful­ler setzt immer alles auf eine Kar­te.«36 Am Ende setz­te sich die Lust­lo­sig­keit der Film­be­am­ten durch, die bis heu­te ihr Heil im Immer­glei­chen zu fin­den hoffen.


© Jörg Auberg 2025

Bibliographische Angaben:

Tors­ten Musi­al / Mar­tin Wie­bel (Hg.).
Die Fern­seh­spiel­re­dak­ti­on des WDR 1965–1979:
Ein­sich­ten in die Wirk­lich­keit.

Rei­he »Fernsehen.Geschichte.Ästhetik«, Bd. 7.
Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2025.
239 Sei­ten, 29 Euro.
ISBN: 978–3‑96707–942‑5.

Gun­dolf S. Frey­er­muth.
Wer war WM?
Auf den Spu­ren eines Tele­vi­sio­närs:
Wolf­gang Men­ges Leben und Werk.

Ber­lin: Kul­tur­ver­lag Kad­mos, 2025.
496 Sei­ten, 29,80 Euro.
ISBN: 978–3‑86599–577‑3.

Nora M. Alter.
Harun Faro­cki: Forms of Intel­li­gence.
New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2024.
272 Sei­ten, 35 US-$.
ISBN: 978–0‑23121–550‑3.

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Audio »Denis Scheck emp­fiehlt Wer war WM © WDR 
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Trai­ler Das Mil­lio­nen­spiel
© WDR
Cover Film­kri­tik
Archiv des Autors
Cover Harun Faro­cki
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Nachweise

  1. Frie­da Gra­fe und Enno Pata­l­as, »War­um wir das bes­te Fern­se­hen und des­halb das schlech­tes­te Kino haben«, Film­kri­tik, Nr. 9 (Sep­tem­ber 1970), S. 474
  2. Der Begriff »Vam­pir-Öko­no­mie« geht zurück auf Gün­ter Rei­mann, The Vam­pi­re Eco­no­my: Doing Busi­ness Under Fascism (1939; rpt. Aub­urn, AL: Mises Insti­tu­te, 2014)
  3. Gra­fe und Pata­l­as, »War­um wir das bes­te Fern­se­hen und des­halb das schlech­tes­te Kino haben«, S. 473
  4. Max Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 5, hg. Gun­ze­lin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 175
  5. Cf. Ele­na Lam­ber­ty, »Not just a Book on Media: Exten­ding The Guten­berg Gala­xy«, in: Mar­shall McLuhan, The Guten­berg Gala­xy: The Making of Typo­gra­phic Man (Toron­to: Uni­ver­si­ty of Toron­to Press, 2011), S. 44
  6. Theo­dor W. Ador­no, Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft (Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10), hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 516
  7. Tors­ten Musi­al, »Wirk­li­ches durch­schau­bar machen: Zur Geschich­te der Fern­seh­spiel­ab­tei­lung des WDR 1965–1979«, in: Die Fern­seh­spiel­re­dak­ti­on des WDR 1965–1979: Ein­sich­ten in die Wirk­lich­keit, hg. Tors­ten Musi­al und Mar­tin Wie­bel (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 2025), S. 149
  8. Tors­ten Musi­al und Mar­tin Wie­bel, Vor­wort zu: Die Fern­seh­spiel­re­dak­ti­on des WDR 1965–1979, S. 9
  9. André Bazin, Orson Wel­les, übers. Robert Fischer (Wetz­lar: Büch­se der Pan­do­ra, 1980), S. 190
  10. Musi­al, »Wirk­li­ches durch­schau­bar machen«, S. 149
  11. Man­ny Farb­er, »The Hid­den and the Plain«, in: Farb­er on Film: The Com­ple­te Film Wri­tin­gs of Man­ny Farb­er, hg. Robert Poli­to (New York: Libra­ry of Ame­ri­ca, 2016), S. 775
  12. Gun­dolf S. Frey­er­muth, »Wolf­gang Men­ge: Authen­zi­tät und Autor­schaft, Frag­men­te einer bun­des­deut­schen Medi­en­bio­gra­phie«, in: Der Tele­vi­sio­när: Wolf­gang Men­ges trans­me­dia­les Werk, hg. Gun­dolf S. Frey­er­muth und Lisa Got­to (Bie­le­feld: Tran­script-Ver­lag, 2016), S. 19–214
  13. Kris­tin Steen­bock, Zeit­geist­jour­na­lis­mus: Zur Vor­ge­schich­te deutsch­spra­chi­ger Pop­li­te­ra­tur: Das Maga­zin »Tem­po« (Bie­le­feld: Tran­script-Ver­lag, 2020), S. 96
  14. Tho­mas Pyn­chon, Vine­land, übers. Dirk van Guns­te­ren (Rein­bek: Rowohlt, 1993), S. 261
  15. Steen­bock, Zeit­geist­jour­na­lis­mus, S. 111–112; »Denis Scheck emp­fiehlt ›Wer war WM?‹«, WDR 3, 30. Juni 2025, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-mosaik/audio-denis-scheck-empfiehlt-wer-war-wm-100.html
  16. Film­kri­tik, 3, Nr. 9 (Sep­tem­ber 1959), S. 235, Film­kri­tik-Reprint, Bd. 1 (Frankfurt/Main: Zwei­tau­send­eins, 1976
  17. Erich Fromm et al., Stu­di­en über Auto­ri­tät und Fami­lie: For­schungs­be­richt aus dem Insti­tut für Sozi­al­for­schung (Paris: Librai­rie Félix Alcan, 1936), S. 145, Reprint »Juni­us-Dru­cke«
  18. Gun­dolf S. Frey­er­muth, Wer war WM? Auf den Spu­ren eines Tele­vi­sio­närs: Wolf­gang Men­ges Leben und Werk (Ber­lin: Kad­mos Kul­tur­ver­lag, 2025), S. 187
  19. Frey­er­muth, Wer war WM?, S. 185
  20. Frey­er­muth, Wer war WM?, S. 182
  21. Karen Hol­lin­ger, »Film Noir, Voice-Over, and the Femme Fata­le«, in: Film Noir Rea­der, hg. Alain Sil­ver und James Ursi­ni (New York: Lime­light, 2003), S. 244; zur Ver­wen­dung des Voice­over-Kom­men­tars in Doku­men­tar­fil­men cf. Bill Nichols, »The Voice of Docu­men­ta­ry«, Film Quar­ter­ly, 36, Nr. 3 (Früh­jahr 1983), S. 17–30; und Bill Nichols, Repre­sen­ting Rea­li­ty: Issues and Con­cepts in Docu­men­ta­ry (Bloo­ming­ton: India­na Uni­ver­si­ty Press, 1991), S. 32–75
  22. Cf. Vin­cent Brook, Dri­ven to Dark­ness: Jewish Émi­g­ré Direc­tors and the Rise of Film Noir (New Bruns­wick, NJ: Rut­gers Uni­ver­si­ty Press, 2009), S. 1–21; und Max Hork­hei­mer, »Alle sind kri­mi­nell«, in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 6, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Fischer, 1991), S. 359
  23. Robert Sheck­ley, Store of Infi­ni­ty (New York: Open Road Inte­gra­ted Media, 2014), S. 12; Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 5, S. 183
  24. Todd Git­lin, Insi­de Prime Time (Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 2000), S. 114–200
  25. Sheck­ley, Store of Infi­ni­ty, S. 12
  26. Sieg­fried Kra­cau­er, Das Orna­ment der Mas­se (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1977), S. 61
  27. Frey­er­muth, Wer war WM?, S. 305
  28. Theo­dor W. Ador­no, »Kann das Publi­kum wol­len?« (1963), in: Ador­no, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 20, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 347
  29. Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 5, S. 153
  30. Franz Drö­ge, »Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen des Fern­se­hens in der Bun­des­re­pu­blik und ihre Kon­se­quen­zen für die Pro­gramm­ge­stal­tung«, Film­kri­tik, 17, Nr. 9 (Sep­tem­ber 1973), S. 400
  31. Cf. »Gün­ter Gaus im Gespräch mit Wolf­gang Men­ge«, RBB, 14.01.2004, https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/menge_wolfgang.html
  32. Harun Faro­cki, »Not­wen­di­ge Abwechs­lung und Viel­falt«, Film­kri­tik, 19, Nr. 8 (August 1975), S. 369
  33. Harun Faro­cki, »Drü­cke­ber­ge­rei vor der Wirk­lich­keit: Das Fern­seh­fea­ture – Der Ärger mit den Bil­dern«, in: Faro­cki, Mei­ne Näch­te mit den Lin­ken: Tex­te 1964–1975, hg. Vol­ker Pan­ten­burg (Ber­lin: Neu­er Ber­li­ner Kunst­ver­ein, , 2018), S. 132–139
  34. Nora M. Alter, Harun Faro­cki: Forms of Intel­li­gence (New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2024), S. 7–8
  35. Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg, Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 125
  36. Faro­cki, Mei­ne Näch­te mit den Lin­ken, S. 128

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Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher