Kritiken
Die Masken des Genies Thomas Manns Exiljahre in Princeton und Kalifornien von Jörg Auberg In seiner Aphorismensammlung Minima Moralia insistierte Theodor W. Adorno, dass jeder Intellektuelle in der Emigration ausnahmslos beschädigt sei und sich permanent dieser Beschädigung bewusst sein müsse. »Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in Weiterlesen […]
Sylvia Asmus und Uwe Wittstock — Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen
Der Grosse Zampano Marcel Reich-Ranickis Rollen in kritischen Zeiten von Jörg Auberg In der Literaturgeschichte der Bundesrepublik nimmt Marcel Reich-Ranicki die Rolle des »mächtigen Literaturkritikers« ein, wie Helmut Böttiger in seiner persönlich gehaltenen Literaturgeschichte der 1970er Jahre unterstrich1. In der Retrospektive war er in den Augen von Autoren nicht – wie beispielsweise Edmund Wilson oder Weiterlesen […]
Kai Lindemann — Die Politik der Rackets
Herrschaft oder Anarchie Kai Lindemann durchleuchtet die Praxis der Rackets von Jörg Auberg Der Begriff »Racket« hat im gängigen Sprachgebrauch mittlerweile eine Reihe von Bedeutungen. In erster Linie wird er mit dem Tennisschläger in Verbindung gebracht. Darüber hinaus bezeichnet er (unter anderem) eine Programmiersprache, eine Social-Media-Audio-App (»Let’s Make a Racket«) und ein Medien-Start-up in Minnesota.1 Weiterlesen […]
Bert Rebhandl — Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär
Ungenügend Bert Rebhandls Godard-Biografie Von Wolfram Schütte Jean-Luc Godard ist unter den Filmmachern, was Picasso unter den Bildenden Künstlern war: »Der permanente Revolutionär«. Zutreffend für das heute kaum noch zu überblickende Oeuvre des Neunzigjährigen lautet so der Untertitel der Biographie, die der 1964 geborene österreichische Filmkritiker Bert Rebhandl dem französischen Regisseur widmete. Seit dem von Weiterlesen […]
Mordecai Richler — Eine Straße in Montreal
Erinnerung und Befreiung Mordecai Richlers autobiografische Erzählungen über St. Urbain von Jörg Auberg Das Montrealer Viertel um die St. Urbain Street war – dem kanadischen Filmregisseur Ted Kotcheff zufolge – für Mordecai Richler das, was für William Faulkner Yoknapatawpha war: seine Domäne der Erinnerung und literarischen Fiktion.1 Hatte er sich in seinem Debütroman The Weiterlesen […]
Rezensionen
Thomas Pynchon: Sterblichkeit und Erbarmen in Wien
Seit Jahrzehnten grübeln Pynchonologen darüber, warum Thomas Pynchon die Kurzgeschichte »Mortality and Mercy in Vienna«, die er er 22-jähriger Student im Frühjahr 1959 im Studentenmagazin Epoch der Cornell University veröffentlichte, niemals für eine Republikation in Betracht zog. Für den im Jahre 1984 herausgegebenen Band Slow Learner (dt. Spätzünder, 1985), der Pynchons frühe Erzählungen enthielt, kam er nicht in Betracht. In der Einleitung zu der Sammlung schrieb Pynchon: »As nearly as I can remember, these stories were written between 1958 and 1964.« Während in der englischsprachigen Ausgabe der Autor vom Passivum Gebrauch macht, behauptet der Autor in der deutschen Ausgabe: »Soweit ich mich irgend erinnern kann, schrieb ich diese Erzählungen zwischen 1958 und ’64.« Thomas Pynchon: V. (Rowohlt, 1976) Die Erzählung kombiniert Elemente, die Pynchon in die Romane seines Frühwerks integriert: Partyszenen, Reminiszenzen an seine Collegezeit, ethnische Stereotypen und Anlehnungen an das Genre des Spionageromans. Der Diplomat Siegel kehrt nach einem Aufenthalt im Ausland nach Washington zurück und gerät als früher Gast auf eine Party, in deren Verlauf ihm der Gastgeber Lupescu seine Rolle aufnötigt, nachdem er einen Schweinefötus an den Türrahmen genagelt hat. Die Party endet im Blutbad, als der Ojibwa Irving Loon mit einem Maschinengewehr die Partygäste niedermetzelt. Im Titel spielte der Nabokov-Student Pynchon auf Shakespeares Stück Maß für Maß (Measure for Measure) an, wobei in neueren Übersetzungen »Mortality and Mercy« mit »Todesstrafe und Begnadigung« übertragen werden. Möglicherweise war die effekthascherische, mit rassistischen Untertönen behaftete und auch amateurhafte Erzählung aus den Katakomben postmoderner Schreibversuche im Rahmen der »Creative Writing«-Seminare dafür verantwortlich, dass Pynchon diese frühe Erzählung nicht in den späteren Pynchon-Kanon aufnehmen wollte und sie lieber der Vergessenheit überantwortete. Thomas Pynchon, Sex, and Gender (University of Georgia Press, 2018) Wie Molly Hite in ihrem Essay »When Pynchon was a Boys’ Club« schrieb, war der studentische Autor von »Mortality and Mercy Weiterlesen […]
Tom Gauld: Revenge of the Librarians
Tom Gauld returns with his wittiest and most trenchant collection of literary cartoons to date. Perfectly composed drawings are punctuated with the artist’s signature brand of humor, hitting high and low. After all, Gauld is just as comfortable taking jabs at Jane Eyre and Game of Thrones. […]
Bernd Eilert: Meine Île de Ré
Bretonisches Chill-Out Bernd Eilerts Hommage an die Île de Ré von Jörg Auberg Nachdem ich die erste Hälfte des Sommers (mehr oder minder) damit verbracht hatte, durch den hartnäckigen Zitatenbeton von Paul Austers Stephen-Crane-Biografie In Flammen mich zu bohren und das Name-Dropping-Panoptikum von Colm Tóibíns Thomas-Mann-Roman The Magician zu ertragen, stieß ich (durch einen Newsletter-Hinweis des Hamburger Mare-Verlages in meinem Postfach) auf das schöne Buch Bernd Eilerts über die bretonische Insel Île de Ré vor der Küste von La Rochelle. Entspannt und selbstironisch zeichnet Eilert, geboren 1949 in Oldenburg und dreißig Jahre später einer der Mitbegründer der Frankfurter Satirezeitschrift Titanic, ein impressionistisches Bild »seiner Insel« aus einem reichen Fundus politischer, kultureller und persönlicher Erinnerung. Fritz J. Raddatz, Mein Sylt (Marebuchverlag, 2006) Obwohl das Buch in der Tradition der »marebibliothek« aus früheren Jahren steht (die von Denis Scheck herausgegeben wurde und den Untertitel »Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer« trug), übernimmt es nicht die Prätentiösität von Vorgängerbüchern wie Fritz J. Raddatz’ Mein Sylt, das mit Fragen wie »Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?« begann, um im Verlauf des Textes mit Plattitüden wie »Fraglos hat das Meer nicht nur etwas Lockendes, sondern auch etwas Bedrohliches; im Französischen ist das Meer weiblich – la mer« aufzuwarten. Eilerts Buch verzichtet auf stilisierte Schwarzweißbilder der Insel, die Raddatz’ Buch mit ihrer fotografischen Beschwörung einer scheinhaften Urtümlichkeit der Insel mit Schilf, Schaf und Reetdach in einer nahezu menschenleeren Landschaft durchziehen. Bevor Eilert den Boden der Île de Ré betritt (zu der ihn seine Frau aus Frankfurt geleitet) reflektiert er seine »Insel-Biografie«. Sein Vater war als Besatzungssoldat in La Rochelle stationiert, der nach dem Krieg seinem Sohn die Erinnerung an die »Nazi-Zeit« und eine Sammlung von deutschtümelnden Reclam-Heften hinterließ. Als Fünfjähriger verbrachte Eilert den ersten Inselurlaub auf der Insel Wangerooge, wo er in einem Zimmer mit den streitenden Eltern hausen Weiterlesen […]
Peter Burschel: Die Herzog August Bibliothek
Die Bibliothek zwischen Kultur und Barbarei Peter Burschels Geschichte der Herzog August Bibliothek In seiner Sozialgeschichte des Wissens beschrieb Peter Burke Gottfried Wilhelm Leibniz als die Inkarnation eines Universalgelehrten, der den Philosophen mit dem Bibliothekar in sich vereinte. Als Bibliothekar der 1572 gegründeten Herzog August Bibliothek (HAB) insistierte er in einem Brief aus dem Jahre 1679, dass eine Bibliothek ein Äquivalent zu einer Enzyklopädie sein sollte. Ursprünglich hatte Herzog Julius zu Braunschweig und Lüneburg die Bibliothek begründet und den lutherischen Kantor Leonhart Schröter als »Bibliothecarius« berufen. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die bescheidene herzogliche Büchersammlung, die den Grundstock der Bibliothek bildete, zu einer Kollektion größeren Ausmaßes an. Der Erwerb von Büchern, schreibt der seit 2016 als »Administrator« der Bibliothek fungierende Peter Burschel in einer kurzen, reichhaltig illustrierten Abhandlung über die Geschichte der HAB, diente dazu, die feudale Herrschaft sowohl politisch, ökonomisch und juristisch als auch ethisch und theologisch zu festigen. Im historischen Kontext der Reformation wurden Büchersammlungen als »kulturelle Ressourcen identifiziert, taxiert, funktionalisiert und transformiert«. Julius’ Nachfolger Herzog August verbrachte dreißig Jahre seiner Herrschaft mit seiner Bibliothek »lesend, schreibend und sammelnd«, während er als »Landesvater« (im Alltagsgeschäft) die »Hexenverfolgung« tatkräftig unterstützte. Zwischen 1610 und 1615 wurden im Rahmen dieser Exterminationen mutmaßlich siebzig Frauen und Männer öffentlich verbrannt. Die Herzog August Bibliothek gilt mit ihrer einzigartigen Sammlung von Büchern der europäischen Wissensgeschichte als »achtes Weltwunder«, doch zugleich ist dieses eindrucksvolle historische Monument der Buchkultur ein in Stein gehauenes – mit Walter Benjamin gesprochen – Dokument der Barbarei, die mit Beutezügen über den europäischen Kontinent ihre Magazine aufwändig bestückte. Im Jahre seines Todes 1666 hinterließ Herzog August hinterließ er der Nachwelt 30.000 Bände, ein »Bücherhaus«, das an die Dimensionen der Vatikanischen Bibliothek heranreichte. In seinem Insel-Band über die Herzog August Bibliothek erzählt Peter Burschel die »Geschichte dieser einzigartigen Sammlung als Wissensgeschichte in Weiterlesen […]
Philip Oltermann: The Stasi Poetry Circle
Der Club der roten Dichter Philip Oltermann erzählt die seltsame Geschichte eines Stasi-Poeten-Zirkels Wie aus grauer Vorzeit wabern diese Worte in die Gegenwart. »In einer Welt«, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1950, »in der die Gedanken mehr als je in Zweckzusammenhänge verflochten sind, genügt es nicht vom Frieden zu reden. Man muß fragen, wer vom Frieden redet, in wessen Auftrag und in welcher Funktion.« In propagandistischen Fantasiegemälden wurde die DDR wurde als Ort der »demokratischen Erneuerung Deutschlands« verherrlicht, als »Literaturgesellschaft«, in der Literatur und Poesie als entscheidende Triebkräfte einer höheren menschlichen Existenzform eingesetzt wurden. In seinem Buch The Stasi Poetry Circle spürt Philip Oltermann, der Leiter der Berliner Guardian-Büros, einem seltsamen Zirkel von Angehörigen der DDR-Staatssicherheit nach, die ihre Aufgabe der »Landesverteidigung« (was die Abwehr äußerer Feinden als auch die Ausspähung innerer Saboteure der nationalen Ordnung beinhaltete) mit Versuchen in der Poesie zu verbinden suchten. Seit den frühen 1960er Jahren hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit einen erlauchten Kreisen von »schreibenden Tschekisten«, die in ihrer regulären Tagesarbeit mit einer uniformierten, gestanzten Sprache umgingen und in lyrischen Abendstunden sich in der Produktion jambischer Verskunst abmühten. Der Mentor dieses Zirkels war der Lyriker Uwe Berger (1928–2014), der im Hauptberuf als Lektor im Aufbau-Verlag tätig war und von 1970 bis 1989 als »ein einflussreicher Auftragnehmer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Literaturbetrieb der DDR« arbeitete (wie der Wikipedia-Eintrag über ihn resümiert). Während Berger – wie Oltermann schreibt – konkurrierende Autoren gern als verkappte Faschisten denunzierte, betrachtete er sich selbst als »Staatsorgan«: Kritik an ihm bedeutete eine illegitime, wenn nicht gar staatsgefährdende Infragestellung der Existenz der DDR. Als die linksliberale Frankfurter Rundschau eine seiner Lyrik-Anthologie verriss, witterte Berger eine von westlichen Kapitalisten und östlichen Dissidenten angezettelte Verschwörung. Obwohl Berger kein Parteimitglied war, wurde er für seine Leistungen von der Staatssicherheit mit einer Weiterlesen […]