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Moleskin Blues

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  • Thomas Sparr: ZauberbergeTho­mas Sparr: Zau­ber­ber­ge18. Juli 2024Der demo­kra­ti­sche Tod Tho­mas Manns »Jahr­hun­der­t­ro­man« Der Zau­ber­berg von Jörg Auberg »Der Faschis­mus ist grei­sen­haft und böse, in jeg­li­cher Gestalt.« Hans May­er1 Rück­bli­cke auf den Zau­ber­berg IIm Herbst 1924 erschie­nen die bei­den Bän­de des Romans Der Zau­ber­berg, die – mit den Wor­ten Tho­mas Manns in einer Ein­füh­rung des Wer­kes für Stu­den­ten an der Prince­ton Uni­ver­si­ty im Jah­re 1939 – »aus der der Kon­zep­ti­on der short sto­ry ent­stan­den waren« und ihren Autor »zwölf Jah­re in den Bann gehal­ten hat­ten«.2 Ursprüng­lich soll­te der Text »nichts wei­ter sein als ein humo­ris­ti­sches Gegen­stück zum ›Tod in Vene­dig‹, ein Gegen­stück auch dem Umfang nach, also eine nur etwas aus­ge­dehn­te short sto­ry«.  Die »Arbeits­zeit« an die­sem Werk war durch­aus not­wen­dig, da sowohl Autor als auch inten­dier­tes Lese­pu­bli­kum eine schock­haf­te Ent­wick­lung zu absol­vie­ren hat­ten, wie Wal­ter Ben­ja­min 1936 die Erfah­rung der ers­ten drei Jahr­zehn­te des 20. Jahr­hun­derts beschrieb: »Eine Gene­ra­ti­on, die noch mit der Pfer­de­bahn zur Schu­le gefah­ren war, stand unter frei­em Him­mel in einer Land­schaft, in der nichts unver­än­dert geblie­ben war als die Wol­ken unter ihnen, in einem Kraft­feld zer­stö­ren­der Strö­me und Explo­sio­nen, der win­zi­ge, gebrech­li­che Men­schen­kör­per.«3 In der Dik­ti­on Tho­mas Manns hieß es: Es sei­en »Erleb­nis­se nötig gewe­sen, die der Autor mit sei­ner Nati­on gemein­sam hat­te, und die er bei­zei­ten in sich hat­te kunst­reif machen müs­sen, um mit sei­nem gewag­ten Pro­dukt, wie ein­mal schon, im güns­tigs­ten Augen­blick her­vor­zu­tre­ten.« Die »Pro­ble­me« des Romans sei­en nicht »mas­sen­ge­recht« gewe­sen, kon­ze­dier­te der Dich­ter der Nati­on, »aber sie brann­ten der gebil­de­ten Mas­se auf den Nägeln, und die all­ge­mei­ne Not hat­te die Rezep­ti­vi­tät des brei­ten Publi­kums genau jene alchi­mis­ti­sche ›Stei­ge­rung‹ erfah­ren las­sen, die das eigent­li­che Aben­teu­er des klei­nen Hans Cas­torp aus­ge­macht hat­te«. Noch im unmit­tel­ba­ren Vor­feld des Zwei­ten Welt­krie­ges brüs­te­te sich Tho­mas Mann damit, dass der Zau­ber­berg »ein sehr deut­sches Buch« sei, und insis­tier­te Mann, dass »fremd­län­di­sche Beur­tei­ler sei­ne Welt­mög­lich­keit voll­kom­men unter­schätz­ten«. Sein Prot­ago­nist Hans Cas­torp sei ein »Grals­su­cher«, der den Gral der Huma­ni­tät auf­spü­ren möch­te, die auf »Ehr­furcht vor dem Geheim­nis des Men­schen« beru­he, wie der Autor des Zau­ber­bergs dun­kel for­mu­liert. Ein­wän­de wider­spens­ti­ger Leser en Stu­den­ten (ange­spro­chen als »Gen­tle­men«, da Prince­ton ein Män­ner­hort des zukünf­ti­gen eli­tä­ren Geis­tes war) emp­fahl der Dich­ter­fürst eine min­dest zwei­ma­li­ge Lek­tü­re sei­nes Wer­kes. »Wer aber mit dem ›Zau­ber­berg‹ über­haupt ein­mal zu Ende gekom­men ist, dem rate ich, ihn noch ein­mal zu lesen, denn sei­ne beson­de­re Mach­art, sein Cha­rak­ter als Kom­po­si­ti­on bringt es mit sich, daß das Ver­gnü­gen des Lesers sich beim zwei­ten Mal erhö­hen und ver­tie­fen wird, – wie man ja auch Musik ken­nen muß, um sie rich­tig zu genie­ßen.«  Das Ver­gnü­gen stell­te sich jedoch nicht bei jedem ein. In einer Umfra­ge der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on aus dem Jah­re 1975 bezüg­lich des gegen­wär­ti­gen Inter­es­ses am Werk Tho­mas Manns ant­wor­te­te Alfred Andersch: »Unlängst habe ich ver­sucht, den ›Zau­ber­berg‹ wie­der zu lesen – lei­der muß­te ich das Expe­ri­ment abbre­chen. Das all­zu inni­ge Beha­gen am Sti­lis­ti­schen ging mir ein­fach auf die Ner­ven.« In der glei­chen Umfra­ge gab Ror Wolf zu Pro­to­koll: »Das, was mich am meis­ten inter­es­siert im Zusam­men­hang mit Tho­mas Mann, ist die Fra­ge: war­um er mich nie inter­es­siert hat.«4 In einem Inter­view mit dem Autor Alain Elkann kate­go­ri­sier­te Alber­to Mora­via den Zau­ber­berg als »Unter­hal­tungs­ro­man« und stell­te ihn in eine Rei­he mit André Gides Die Falsch­mün­zer (1925) und Aldous Hux­leys Kon­tra­punkt des Lebens (1928): »drei Roma­ne, die mir nicht gefie­len und mir nichts sag­ten«, beschrieb Mora­via sei­ne Aver­si­on gegen die Prä­ten­tio­si­tät die­ser »Unter­hal­tungs­ro­ma­ne« der Moder­ne und füg­te wenig spä­ter hin­zu: »Italo Cal­vi­no hat etwas Rich­ti­ges gesagt: daß Tho­mas Mann alles gese­hen habe, aber von einem Bal­kon des 19. Jahr­hun­derts aus, wie alles zusam­men­stürz­te. Ich hal­te das für eine gute und rich­ti­ge Bemer­kung. Tho­mas Mann hat geahnt, wie Euro­pa enden wür­de, doch sei­ne Per­spek­ti­ve war die einer inzwi­schen über­hol­ten bür­ger­li­chen Kul­tur des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts. Wir dage­gen sind ein wenig wie jene Figur bei Poe, die in den Wir­bel des Mahl­strom-Trich­­ters stürzt.«5  Jen­seits der Kri­tik elb­st im »roten Jahr­zehnt« der post­fa­schis­ti­schen Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war Tho­mas Mann als »Dich­ter der Nati­on« über Kri­tik weit­ge­hend erha­ben. »Wer kri­ti­siert, ver­geht sich gegen das Ein­heits­ta­bu, das auf tota­li­tä­re Orga­ni­sa­ti­on hin­aus­will«, dia­gnos­ti­zier­te Theo­dor W. Ador­no in einem Bei­trag für SDR im Mai 1969. »Der Kri­ti­ker wird zum Spal­ter und, mit einer tota­li­tä­ren Phra­se, zum Diver­sio­nis­ten.«6 Als Han­jo Kes­t­ing, der lang­jäh­ri­ge Lei­ter der NDR-Kul­­tur­­re­­dak­­ti­on, in einem kri­ti­schen The­sen­ar­ti­kel für den Spie­gel Manns Ver­strickt­heit in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus, sei­ne eli­tä­re Vor­stel­lung von Demo­kra­tie und sein Miss­trau­en gegen­über dem Volk (das er in ers­ter Linie als Mas­se und Mob wahr­nahm) the­ma­ti­sier­te und ihn als »Statt­hal­ter der bür­ger­li­chen Kul­tur­tra­di­ti­on« beschrieb, die längst ver­fault sei, echauf­fier­te sich augen­blick­lich der zum absur­den Kli­schee geron­ne­ne Phan­­tom­­bür­­ger-Mob in den Leser­brief­spal­ten des Spie­gel, der den »Dich­ter­fürs­ten« nicht von einem »Kri­tik­as­ter« des noto­ri­schen NDR-«Rotfunks« beschmutzt sehen woll­te.7 Mitt­ler­wei­le ist der »Rot­funk« abge­wi­ckelt, Han­jo Kes­t­ing seit 2006 im Ruhe­stand, und dem Autor der »pole­mi­schen The­sen« ist das »auf­säs­si­ge Pro­dukt« aus sei­ner »Sturm- und Drang-Zeit« pein­lich. »Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an«, schreibt Kes­t­ing im Vor­wort zu sei­nem Buch Tho­mas Mann: Glanz und Qual, »vor allem bei den Ver­eh­rern des ›Zau­be­rers‹.« Mitt­ler­wei­le ist auch der ehe­ma­li­ge Kri­ti­ker Kes­t­ing zum »Ver­eh­rer« Tho­mas Manns kon­ver­tiert, auch wenn er nicht jeden Kri­tik­punkt wider­ru­fen will. Doch erscheint ihm im Rück­blick »das aus einem ödi­pa­len Reflex ent­stan­de­ne The­sen­pa­pier ziem­lich unaus­ge­go­ren«. 8 Schon weni­ge Jah­re nach der Revol­te und dem ver­kün­de­ten Tod der Lite­ra­tur ver­zwerg­ten sich die »Schreib­pro­du­zen­ten« im Schat­ten des Rie­sen Tho­mas Mann. »Die Revol­te ist vor­über, die Nost­al­gie geblie­ben«9, gab der lin­ke Schrift­stel­ler Ger­hard Zwe­renz 1979 zu Pro­to­koll. Vier Jah­re zuvor hat­te Zwe­renz in Rowohlts Lite­ra­tur­ma­ga­zin, dem Zen­tral­or­gan für die »Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur«, den »Unter­hal­tungs­schrift­stel­ler« Tho­mas Mann als Vor­bild für künf­ti­ge Autor*innen der Lite­ra­tur­pro­duk­ti­on emp­foh­len. Von ihm sei zu ler­nen, insis­tier­te Zwe­renz, »wie man anschreibt gegen einen Vul­ga­ris­mus, der die Welt zurück­zie­hen« wol­le. »Tho­mas Mann und der Faschis­mus waren unver­träg­lich, auch wenn unser Autor 1933 sich nur unwil­lig aus­schei­den ließ. Wir kön­nen das Poten­ti­al der Unver­träg­lich­keit mit dem Faschis­mus durch Lite­ra­tur ver­grö­ßern. Mehr kön­nen wir nicht. Aber ich hal­te das schon für sehr viel.«10 Selbst für den Mar­xis­ten Georg Lukács reprä­sen­tier­te Tho­mas Mann im ideo­lo­gi­schen Ver­fall der bür­ger­li­chen Klas­se noch »das Bes­te in der deut­schen Bour­geoi­sie« und war in sei­nen Augen der »letz­te gro­ße bür­ger­li­che Autor«.11 Demo­kra­tie einer Eli­te n sei­nem schma­len Band Zau­ber­ber­ge titu­liert der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Ver­lags­lek­tor Tho­mas Sparr Tho­mas Manns Roman Der Zau­ber­berg als »Jahr­hun­der­t­ro­man«, wobei unklar bleibt, wodurch die­ser Roman den Rang eines »Jahr­hun­der­t­ro­mans« erhält. »Was macht die­sen Roman«, fragt Sparr in sei­nem Vor­wort, »nach ein­hun­dert Jah­ren so zugäng­lich, ver­gan­gen und doch gegen­wär­tig, erschlos­sen und doch rätsel‑, ja zau­ber­haft?«12 Für Sparr ist »Demo­kra­tie« das »Schlüs­sel­wort des Romans«, und der Zau­ber­berg ist eine über­di­men­sio­nier­te Revo­ka­ti­on von Manns anti­eu­ro­päi­schen und anti­de­mo­kra­ti­schen Sua­den in den Zei­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, als bei­spiels­wei­se US-ame­ri­­ka­­ni­­sche Autoren wie John Dos Pas­sos gegen die Bar­ba­rei der moder­nen indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie oppo­nier­ten, die sowohl die Eroi­­ca-Sym­­­pho­­nie als auch die Rui­nen von Reims pro­du­ziert hat­te.13 »In den Jah­ren des Ers­ten Welt­kriegs führt Tho­mas Mann einen Feld­zug gegen die Moder­ne«, schreibt Sparr, »gegen die Demo­kra­tie, gegen das, was er mit Gering­schät­zung ›Civi­li­sa­ti­on‹ nann­te, an ihrer Spit­ze den ›Civi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten‹, das vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum.«14 Im Zau­ber­berg erwei­se sich »die Dis­kus­si­on, die Aus­ein­an­der­set­zung, das Für und Wider« als »Kern­ele­ment der Demo­kra­tie«, argu­men­tiert Sparr und stellt die The­se auf, der Zau­ber­berg las­se sich »als demo­kra­ti­scher, ja sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Roman lesen«.15 Selt­sam mutet Sparrs Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie an. Der Tod sei, behaup­tet er, »im Zau­ber­berg das gro­ße demo­kra­ti­sche Ele­ment, so wie der Roman auf die sozia­len Unter­schie­de ach­tet.«16 Ist das Wesen der Demo­kra­tie, dass alle an Krank­heit oder auf dem »Welt­fest des Todes«17 ster­ben kön­nen? Im Zau­ber­berg exis­tiert allen­falls eine »Demo­kra­tie von Ehren­ti­schen«18 für die sol­ven­ten kran­ken Bür­ger jen­seits des »Flach­lan­des«, wo die Krea­tu­ren hau­sen, wel­che die Zeche für die Bar­ba­rei zu zah­len haben. Die Dicho­to­mie von Gesund­heit und Krank­heit, die den Roman durch­zieht, ist von Beginn von ver­schlei­er­ten Klas­sen­ver­hält­nis­sen gezeich­net, als ein »ein­fa­cher jun­ger Mensch« namens Hans Cas­torp, der rea­li­ter ein Abkömm­ling einer bür­ger­li­chen han­sea­ti­schen Fami­lie ist, sich mit sei­ner »kro­ko­dils­lern­den Hand­ta­sche« auf die Rei­se zum Zau­ber­berg begibt.19 Gesund­heit sei in die­sem Roman »so etwas wie die leib­li­che Sei­te von Demo­kra­tie«, kon­sta­tiert Sparr, wäh­rend Krank­heit »immer als mora­li­sches, see­li­sches, auch geis­ti­ges Defi­zit« erschei­ne: Gesund­heit sei in den Bil­dern Tho­mas Manns »immer nur vor­über­ge­hend, ein Zustand vol­ler Täu­schun­gen, Selbst­täu­schun­gen«, wäh­rend die Krank­heit, »die unaus­weich­li­che Ent­täu­schung«, das letz­te Wort behal­te.20 Wie der mar­xis­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans May­er kurz nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges kon­sta­tier­te, ent­hal­te der Zau­ber­berg den Quer­schnitt durch die bür­ger­li­che Gesell­schaft der Zeit um 1914, doch alle sei­en krank und ver­ur­teilt. »Die bür­ger­li­che Demo­kra­tie weist zwar den Weg ins Freie, doch die­se freie Ebe­ne hat die Gestalt eines Schüt­zen­gra­bens ange­nom­men«, resü­miert May­er. »Nun geht es dar­um, mag Cas­torp unter­ge­hen, daß neue Gene­ra­tio­nen, die nicht mehr krank sind, bewuß­te Par­tei­gän­ger des Lebens wer­den, statt sol­cher Krank­heit und der todes­süch­ti­gen Nacht.«21 Unmit­tel­bar nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges domi­nier­te die Erin­ne­rung an Manns Enga­ge­ment gegen den Faschis­mus in sei­nem US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil, wäh­rend sei­ne For­mu­lie­rung »Welt­fest des Todes« im Zau­ber­berg »beschwie­gen« wur­de.  Zumin­dest bei Kes­t­ing bestehen wei­ter Zwei­fel, ob Mann »die Rea­li­tät des vier Jah­re wäh­ren­den gro­ßen Mor­dens auf den Schlacht­fel­dern Euro­pas an sich her­an­kom­men ließ, als er sei­nen wüten­den Geis­tes­kampf aus­trug«22. Wäh­rend der Schul­ab­bre­cher Mann, der sich als Künst­ler und Bür­ger in Per­so­nal­uni­on insze­nier­te und für das »Neger­fran­zö­sisch«23 sei­ner Schul­zeit schäm­te, das »Men­schen­ma­te­ri­al« der indus­tri­el­len Staats­ma­schi­ne­rie igno­rier­te, lob­te ihn Lukács als »Autor und Rea­list«, der nie »modern im deka­den­ten Sin­ne« gewe­sen sei.24 Die Kop­pe­lung von Moder­ne und Deka­denz als Gegen­bild zum »Rea­lis­mus« repe­tiert die Ran­kü­ne gegen das »vaga­bun­die­ren­de Lite­ra­ten­tum«, das sowohl dem Bür­ger als auch dem Büro­kra­ten im Auf­trag der Herr­schaft suspekt ist. Das Gegen­pro­gramm zur kran­ken Eli­ten­ge­sell­schaft ist nicht die Uto­pie einer ega­­li­­tär-demo­­kra­­ti­­schen Gesell­schaft, son­dern das inner­li­che Stramm­ste­hen. »Wir sind wirk­lich etwas ver­sim­pelt«, erklärt Cas­torps sol­da­ti­scher Vet­ter Joa­chim. »Aber man kann sich schließ­lich zusam­men­rei­ßen.«25 Der geis­ti­ge Dienst mit der Waf­fe as sol­da­ti­sche Ver­ständ­nis war schon in der Figur des Gus­tav Aschen­bach in der Novel­le der Tod im Vene­dig (1912) ange­legt (»auch er war Sol­dat und Kriegs­mann gewe­sen«26). Der »High-School-Dro­­pout« Tho­mas Mann erwarb sei­ne »deut­sche Bil­dung«, wie der Mann-Bio­­­graph Her­mann Kurz­ke schrieb, »auto­di­dak­tisch und nach Bedarf von Fall zu Fall«27. Im Jah­re 1914 führ­te die »deut­sche Bil­dung« zu der Erkennt­nis, dass der Krieg »Rei­ni­gung« und »Befrei­ung« dar­stel­le. In dem Auf­satz »Gedan­ken im Krie­ge« (»Essay« hät­te für den Natio­na­lis­ten Tho­mas Mann ver­mut­lich zu »fremd­län­disch« geklun­gen) wand­te sich der bür­ger­li­che Autor gegen den »gal­li­schen Radi­ka­lis­mus«, der ihm als Sack­gas­se erschien, »an deren Ende es nichts als Anar­chie und Zer­set­zung« gebe. »Deutsch­lands gan­ze Tugend und Schön­heit« ent­fal­te sich erst im Krieg, pos­tu­lier­te Mann, der als Lite­ra­tur­pro­du­zent von dem Ver­lan­gen nach bil­li­gen Buch­aus­ga­ben pro­fi­tier­te, die an die Front­sol­da­ten ver­schickt wer­den konn­ten. Im natio­na­lis­ti­schen Fie­ber sah der Dich­ter der Nati­on sein Vater­land als Opfer eines bösen Euro­pas: »Ihr woll­tet uns umzin­geln, abschnü­ren, aus­til­gen, aber Deutsch­land, ihr sehet es schon, wird sein tie­fes, ver­haß­tes Ich wie ein Löwe ver­tei­di­gen, und das Ergeb­nis eures Anschla­ges wird sein, daß ihr stau­nend genö­tigt sehn wer­det, uns zu stu­die­ren.«28 In sei­nem über­bor­den­den Essay Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen (den er im US-ame­ri­­ka­­ni­­schen Exil spä­ter als »ein müh­se­li­ges Werk der Selbst­er­for­schung und des Durch­le­bens der euro­päi­schen und Streit­fra­gen« und als »geis­ti­gen Dienst an der Waf­fe« bezeich­ne­te) erei­fer­te er sich in manisch-chau­­vi­­nis­­ti­­scher Manier über den Typus des »Zivil­a­ti­ons­li­te­ra­ten« – ein Begriff, der nach der Zäh­lung eines Rezen­sen­ten etwa 200 Mal in dem Werk auf­taucht29. Ihm grau­te vor der Vor­stel­lung, eine mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge Deutsch­land hät­te ein »Impe­ri­um der Zivi­li­sa­ti­on« zur Fol­ge haben kön­nen. Das »Ergeb­nis wäre«, mut­maß­te der deutsch­na­tio­na­le Bür­ger Mann, »ein Euro­pa gewe­sen, – nun, ein wenig drol­lig, ein wenig platt-human, tri­­vi­al-ver­­­derbt, femi­­nin-ele­­gant, ein Euro­pa, schon etwa all­zu ›mensch­lich‹, etwas preß­ban­di­ten­haft und gro­ß­­mäu­­lig-demo­­kra­­tisch, ein Euro­pa der Tan­­go- und Two-Step-Gesi­t­­tung, ein Geschäfts- und Lust­eu­ro­pa«, »ein Mon­­te-Car­­lo-Euro­­pa, lite­ra­risch wie eine Pari­ser Kokot­te«.30 Die »Demo­kra­ti­sie­rung Deutsch­lands« lie­fe auf die »Ent­deut­schung« hin­aus31, befürch­te­te Mann, ohne dass er mit sei­nem Essay die­sen Pro­zess auf­hal­ten konn­te. »Das Erschei­nen die­ses anti­de­mo­kra­ti­schen Buches«, kon­sta­tiert der Mann-Bio­­­graf Ronald Hay­man, »fiel zusam­men mit der Bil­dung einer demo­kra­tisch ori­en­tier­ten Regie­rung.«32 Wie Wal­ter Boeh­lich in einem Argu­men­ta­ti­ons­ver­such gegen den Zeit­geist der Tho­­mas-Mann-Ido­la­­trie insis­tier­te, gehör­te das Buch »in die Vor­ge­schich­te des deut­schen Faschis­mus«33 und war »der wort­rei­che Ver­such, das poli­ti­sche Ver­sa­gen des Bür­ger­tums in sei­ne eigent­li­che Tugend umzu­schmin­ken«. Die Betrach­tun­gen hät­ten Furo­re gemacht, urteil­te Boeh­lich, »und es ist gleich­gül­tig, wie Tho­mas Mann selbst sie jeweils ver­stan­den sehen woll­te; nicht gleich­gül­tig ist, wie sie gewirkt haben.« Das kon­ser­va­ti­ve Deutsch­land habe sie als »Recht­fer­ti­gungs­schrift« ver­stan­den. »Ent­schul­det« wird Tho­mas Mann – bei­spiels­wei­se von dem Essay­is­ten Erich Hel­ler – mit dem Hin­weis auf sei­nen Cha­rak­ter als »iro­ni­scher Deut­scher« und Künst­ler, der gegen »den Sozi­al­mo­ra­lis­mus des Zivi­li­sa­ti­ons­li­te­ra­ten« mit einer »skep­ti­schen Intel­li­genz« beharrt und in den Betrach­tun­gen »ein qua­­si-poli­­ti­­sches Traum­bild der kon­ser­va­ti­ven Phan­ta­sie« ent­wor­fen habe.34 Die Argu­men­ta­ti­on von kon­ser­va­ti­ven Autoren wie Hel­ler oder Mar­cel Reich-Rani­­cki baga­tel­li­siert das poli­ti­sche Enga­ge­ment Manns mit der Begrün­dung, dass sei­ne poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen ama­teur­haft gewe­sen sei­en und daher nicht ernst genom­men wer­den müss­ten.35 Auf die­se Wei­se wird der intel­lek­tu­el­le Ästhet vor dem poli­ti­schen Kom­men­ta­tor geret­tet. Für Sparr wer­den im Zau­ber­berg »die Argu­men­te für Huma­ni­tät, für Maß und Mäßi­gung geschärft«36, ohne dass er selbst die­se Argu­men­te kri­tisch hin­ter­fragt. Der »Poli­ti­ker« Tho­mas Mann plä­die­re »für einen mili­tan­ten Huma­nis­mus; Frei­heit und Duld­sam­keit hät­ten das Recht und die Pflicht, sich zu weh­ren«37. Mann ver­knüpft auf zwei­fel­haf­te Wei­se Huma­ni­tät und Mas­ku­li­ni­tät. »Euro­pa wird nur sein«, sag­te er in einer Rede in Buda­pest im Juni 1936, »wenn der Huma­nis­mus sei­ne Männ­lich­keit ent­deckt und nach der Erkennt­nis han­delt, daß die Frei­heit selbst kein Frei­brief ihrer Tod­fein­de und ihrer Mör­der wer­den darf.«38 In den Ohren Sparrs klin­gen die­se »Sät­ze wie aus der Gegen­wart«, wobei das auto­ri­­tär-regier­­te Ungarn von 1936 wie ein Spie­gel­bild des Orban-Ungarns von 2024 erscheint. In die­ser Vor­stel­lung erscheint Poli­tik stets nur als Wie­der­ho­lung des Immer­glei­chen, als käme der Faschis­mus wie ein unab­wend­ba­res Unheil aus dem Nichts. Tho­mas Mann man­gel­te es »an Kon­se­quenz des Den­kens«, insis­tier­te Wal­ter Boeh­lich. »Nichts wäre anders gewor­den, wenn er weni­ger bür­ger­lich, weni­ger kon­ser­va­tiv gewe­sen wäre; er konn­te nichts ändern.« Aber gera­de des­halb sei er »zum Lieb­lings­schrif­stel­ler der Deut­schen« gewor­den. Ver­mut­lich macht auch dies den Zau­ber­berg zu einem »Jahr­hun­der­t­ro­man«. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Tho­mas Sparr. Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos. Ber­lin: Beren­berg, 2024. 80 Sei­ten, 22 Euro. ISBN: 978–3‑949203–82‑4. Han­jo Kes­t­ing. Tho­mas Mann: Glanz und Qual. Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023. 400 Sei­ten, 28 Euro. ISBN: 978–3‑8353–5413‑5. Bild­quel­len (Copy­rights) Foto Der Zau­ber­berg © Foto H.-P.Haack — Quel­le: «Erst­aus­ga­ben Tho­mas Manns» (2011). Her­aus­ge­ber: Anti­qua­ri­at Dr. Haack D – 04105 Leip­zig Foto Alber­to Mora­via © Pao­lo Mon­ti, via Wiki­me­dia Com­mons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48078570 Cover Tho­mas Mann: Glanz und Qual © Wall­stein Ver­lag Cover Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4 © Rowohlt Ver­lag Foto Tho­mas Mann in sei­nem Haus in Mün­chen Quel­le: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R15883 / Autor/-in unbe­kannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436366 Cover Hans May­er: Tho­mas Mann © Suhr­kamp Ver­lag Sze­nen­fo­to All Quiet on the Wes­tern Front Archiv des Autors Cover Text + Kri­tik © edi­ti­on text + kri­tik Foto Fami­lie Mann am Strand von Los Ange­les © Tho­­mas-Mann-Archi­­v/ETH-Biblio­­thek Zürich Nach­wei­se Hans May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S 170 ↩ Tho­mas Mann, »Ein­füh­rung in den Zau­ber­berg für Stu­den­ten der Prince­ton Uni­ver­si­tät«, in: Mann, Der Zau­ber­berg, Stock­hol­mer Gesamt­aus­ga­be (Stock­holm: Ber­­mann-Fischer Ver­lag, 1939, rpt., Frankfurt/Main: S. Fischer, 1950), S. xx; zum Hin­ter­grund cf. Stan­ley Corn­gold, The Mind in Exi­le: Tho­mas Mann in Prince­ton (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2022), S. 186–189 ↩ Wal­ter Ben­ja­min, »Der Erzäh­ler«, in: Ben­ja­min, Gesam­mel­te Schrif­ten, Band II, hg. Rolf Tie­de­mann und Her­mann Schwep­pen­häu­ser (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 439 ↩ »Deut­sche Schrift­stel­ler über Tho­mas Mann«, in: Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, hg, Heinz Lud­wig Arnold (Mün­chen: edi­ti­on text + kri­tik, 1976, erw. ²1982), S. 197, 235 ↩ Alber­to Mora­via und Alain Elkann, Vita di Mora­via: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hart­mann (Frei­burg: Beck & Glück­ler, 1991), S. 53 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Kri­tik«, in: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 10, hg. Rolf Tie­de­mann et al. (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 2003), S. 788 ↩ Han­jo Kes­t­ing, »Tho­mas Mann oder der Selbst­er­wähl­te«, Spie­gel, Nr. 22 (25. Mai 1975), https://www.spiegel.de/kultur/thomas-mann-oder-der-selbsterwaehlte-a-4c7324bb-0002–0001–0000–000041521068; Spie­­gel-Haus­­mi­t­­tei­­lung, 8. Juni 1975, https://www.spiegel.de/politik/datum-9-juni-1975-thomas-mann-a-7a006ac7-0002–0001–0000–000041483678 Leser­brie­fe in der glei­chen Aus­ga­be: https://www.spiegel.de/politik/thomas-mann-6-juni-1875-a-9d5fffed-0002–0001–0000–000041483691 ↩ Han­jo Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual (Göt­tin­gen: Wall­stein, 2023), S. 8 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Der Schock sitzt tie­fer«, in: Nach dem Pro­test: Lite­ra­tur im Umbruch, hg, W. Mar­tin Lüd­ke (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1979), S. 41 ↩ Ger­hard Zwe­renz, »Wir Zwer­ge hin­ter den Rie­sen: Über Tho­mas Mann und uns«, in: Lite­ra­tur­ma­ga­zin 4: Die Lite­ra­tur nach dem Tod der Lite­ra­tur – Bilanz der Poli­ti­sie­rung, hg. Hans Chris­toph Buch (Rein­bek: Rowohlt, 1975), S. 25, 33 ↩ Georg Lukács, Essays on Tho­mas Mann, übers. Stan­ley Mit­chell (Lon­don: Mer­lin Press, 1964, rpt. 1979), S. 11–12, 15 ↩ Tho­mas Sparr, Zau­ber­ber­ge: Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos (Ber­lin: Beren­berg, 2024), S. 8 ↩ John Dos Pas­sos, »A Hum­ble Pro­test« (1916), in: John Dos Pas­sos: The Major Non­fic­tion­al Pro­se, hg. Donald Pizer (Detroit: Way­ne Sta­te Uni­ver­si­ty Press, 1988), S. 30–34 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 22–23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 26, 28 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 27–28 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1022 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 1009 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 3 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 35 ↩ Hans May­er, »Der ›Zau­ber­berg‹ als päd­ago­gi­sche Pro­vinz« (1949), in: May­er, Tho­mas Mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1984), S. 131 ↩ Kes­t­ing, Tho­mas Mann: Glanz und Qual, S. 80 ↩ Her­mann Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk – Eine Bio­gra­phie (Frankfurt/Main: Fischer, 2013), S. 38 ↩ Lukács, Essays on Tho­mas Mann, S. 45 ↩ Mann, Der Zau­ber­berg, S. 79 ↩ Tho­mas Mann, Der Tod in Vene­dig (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022), S. 74 ↩ Kurz­ke, Tho­mas Mann: Das Leben als Kunst­werk, S. 38 ↩ Tho­mas Mann, »Gedan­ken im Krie­ge«, in: Tho­mas Mann, Essays II: 1914–1926, hg. Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002), S. 37, 39, 45; Ronald Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy (Lon­don: Bloomsbu­ry, 1997), S. 284 ↩ Flo­ri­an Kei­sin­ger, Rezen­si­on von: Tho­mas Mann: Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, Frank­furt a.M.: S. Fischer 2009, in: sehe­punk­te 10 (2010), Nr. 4, https://www.sehepunkte.de/2010/04/17764.html ↩ Tho­mas Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, hg, Her­mann Kurz­ke (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2009), S. 73 ↩ Mann, Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, S. 75 ↩ Hay­man, Tho­mas Mann: A Bio­gra­phy, S. 309 ↩ Wal­ter Boeh­lich, »Zu spät und zu wenig: Tho­mas Mann und die Poli­tik«, Text + Kri­tik, Son­der­band über Tho­mas Mann, S. 55 ↩ Erich Hel­ler, Tho­mas Mann: Der iro­ni­sche Deut­sche (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1970), S. 157, 192 ↩ Hans Rudolf Vaget, »Mann and His Bio­graph­ers«, Jour­nal of Eng­lish and Ger­ma­nic Phi­lo­lo­gy, 96, Nr. 4 (Okto­ber 1997), S. 599 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 23 ↩ Sparr, Zau­ber­ber­ge, S. 36 ↩ Tho­mas Mann, »Der Huma­nis­mus und Euro­pa«, in: Mann, An die gesit­te­te Welt: Poli­ti­sche Schrif­ten und Reden im Exil (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986), S. 154 ↩ […]
  • Leonardo Sciascia: Die Affaire MoroLeo­nar­do Scia­scia: Die Affai­re Moro10. Juni 2024Das Ita­lie­ni­sche Ver­häng­nis Leo­nar­do Scia­sci­as Refle­xio­nen zur »Affä­re« Aldo Moro   von Jörg Auberg   Am Mor­gen des 16. März 1978 lau­er­te in der Via Fani in Rom ein Kom­man­do der »Roten Bri­ga­den« (Bri­ga­te Ros­se, eines Zer­falls­pro­dukts der ita­lie­ni­schen Revol­te der spä­ten 1960er Jah­re) dem christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Aldo Moro auf und ent­führ­te ihn, nach­dem es inner­halb von drei Minu­ten die fünf Beglei­ter sei­ner Eskor­te erschos­sen hat­te. Die fol­gen­den 55 Tage ver­brach­te Moro in einem »Volks­ge­fäng­nis« der Bri­ga­te Ros­se (BR), in dem ihm die selbst­er­mäch­tig­ten Terrorist*innen den Pro­zess mach­ten, ehe sie ihn am 9. Mai 1978 erschos­sen und sei­nen Leich­nam in einem Renault 4 in der Via Caeta­ni in Rom abstell­ten. Wie Adri­an Lyt­tel­ton betont, wur­de die­ser Ort aus sym­bo­li­schen Grün­den aus­ge­wählt: Er lag auf hal­bem Wege zwi­schen den Zen­tra­len der Christ­de­mo­kra­ten und der Kom­mu­nis­ten.1 Der detek­ti­vi­sche Leser ährend die­ser Gefan­gen­schaft schrieb Moro 80 Brie­fe an sei­ne Fami­lie und eini­ge »Par­tei­freun­de«, auf deren Hil­fe er ver­ge­bens hoff­te. Die­se Brie­fe unter­zog Leo­nar­do Scia­scia, der vor allem als Autor von Kri­mi­nal­ro­ma­nen über das Mafia-Milieu bekannt ist, in sei­nem Buch Die Affai­re Moro (1978) einer detail­lier­ten und prä­zi­sen Lek­tü­re und zeig­te (mit den Wor­ten der Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin Mai­ke Albath) auf, »wie die Christ­de­mo­kra­ten ihren Vor­sit­zen­den, den lang­jäh­ri­gen Minis­ter­prä­si­den­ten und Archi­tek­ten des com­pro­mes­so sto­ri­co im Stich gelas­sen und des­sen Äuße­run­gen miss­ver­stan­den hat­ten«2 Ob sei­ne »Par­tei­freun­de« ihn tat­säch­lich »miss­ver­stan­den« hat­ten, ist eher frag­lich. Für die ita­lie­ni­schen Christ­de­mo­kra­ten war Moro – wie Scia­scia schreibt – »eine Art schmer­zen­der Gal­len­stein« gewor­den, den es »aus einem Orga­nis­mus zu ent­fer­nen galt«3 Scia­scia beleuch­tet den Fall Moro nicht im Sti­le eines spek­ta­kel­haf­ten und spe­ku­la­ti­ven Polit-Thril­­lers, son­dern in einem kom­ple­xen, viel­schich­ti­gen und enig­ma­ti­schen Text, der in sei­nem mora­li­schen Impe­tus an Émi­le Zolas klas­si­sches Intel­lek­tu­el­len­pam­phlet J’accuse erin­nert.4 Die Geschich­te Moros in sei­ner letz­ten Lebens­pha­se reflek­tiert Scia­scia durch lite­ra­ri­sche Pris­men (wie Pier Pao­lo Paso­li­ni, Lui­gi Piran­del­lo, Jor­ge Luis Bor­ges und Edgar Allan Poe) und gewinnt auf die­se Wei­se Ein­sich­ten, die ihn in sei­ner Uner­bitt­lich­keit und Unbe­irr­bar­keit gegen die herr­schen­de Mei­nung nahe­zu aller poli­ti­schen Rich­tun­gen bestär­ken. Bel­la Ita­lia in schwarz n einer Kri­tik von Scia­sci­as Roman Can­di­do oder ein Traum in Sizi­li­en (1977), der das Schei­tern des demo­kra­ti­schen Neu­auf­baus nach der Nie­der­la­ge ver­han­delt, kon­sta­tier­te Gore Vidal, dass es Ita­li­en nach dem Zwei­ten Welt­krieg »mit cha­rak­te­ris­ti­scher Kunst­fer­tig­keit« gelun­gen sei, ein gesell­schaft­li­ches Gemisch aus den am wenigs­ten attrak­ti­ven Aspek­ten des Sozia­lis­mus und prak­tisch allen Las­tern des Kapi­ta­lis­mus her­zu­stel­len. Über die schö­nen Land­stri­che Ita­li­ens wucher­te so eine »rie­si­ge metas­ti­sie­ren­de Büro­kra­tie«, die sich aus den Geschwü­ren der Ver­gan­gen­heit wie der Gegen­wart nähr­te.5 In den Augen des gro­ßen ita­lie­ni­schen Roman­ciers Alber­to Mora­via war es zuvör­derst iro­nisch, dass – mit den Wor­ten des Roma­nis­ten Tho­mas Erling Peter­son – »so vie­le Ita­lie­ner tole­rant gegen­über auto­ri­tä­ren Ideo­lo­gien waren, so dass die Nati­on nach dem Sturz des Faschis­mus bestrebt zu sein schien, dem Regime zu ver­ge­ben und sei­ne Feh­ler zu wie­der­ho­len«.6 Die Ver­harm­lo­sung des faschis­ti­schen Regimes – trotz der Ermor­dung und Ein­ker­ke­rung von poli­ti­schen Gegner*innen, der Zer­schla­gung der Gewerk­schaf­ten, der »Ver­ban­nung« oder domic­i­lio coat­to von Oppo­si­tio­nel­len und Homo­se­xu­el­len auf abge­le­ge­ne Inseln oder die Depor­ta­ti­on von Jüd*innen im Zuge der ita­lie­ni­schen Ras­sen­ge­set­ze nach 1938 – gehör­te zum ideo­lo­gi­schen Inven­tar der ita­lie­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft. »Der ita­lie­ni­sche Faschis­mus«, schrieb Umber­to Eco, »war der ers­te, der sich eine mili­tä­ri­sche Lit­ur­gie, eine Folk­lo­re und sogar eine eige­ne Klei­der­mo­de schuf – womit er im Aus­land mehr Erfolg als Arma­ni, Benet­ton oder Ver­sace haben soll­te.« Er stell­te einen Arche­typ für Nach­ah­mer in Euro­pa und Sym­pa­thi­san­ten selbst in den USA dar, wo der faschis­ti­sche Staat als Erlö­sung in der demo­kra­ti­schen Des­il­lu­si­on erschien und als Gar­ten der Schön­heit, der Tran­szen­denz und des Frie­dens idea­li­siert wur­de.7 Das Land befrei­te sich nach 1945 nie von der Herr­schaft der Rackets, die – mit den Wor­ten Max Hork­hei­mers – mit der »Bru­ta­li­tät der Stär­ke­ren gegen die Schwä­che­ren, als die unbe­schrie­be­ne Gemein­heit des Mobs gegen die Ohn­macht« agier­ten.8 In ihrer Rein­form ope­rier­ten die Rackets unter den Appa­ra­tu­ren und Kos­tü­men der Mafia, deren Prak­ti­ken Scia­scia in sei­nen Kri­mi­nal­ro­ma­nen beschrieb oder auch par­odier­te. In den Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Par­tei­en in den kar­gen ideo­lo­gi­schen Land­schaf­ten sah er ledig­lich eine poli­ti­sche Klas­se am Wer­ke, »wo nur die Macht um der Macht wil­len zähl­te«9 Rackets agier­ten als Platt­for­men der Macht, die über öko­no­mi­sche, tech­no­lo­gi­sche und medi­en­po­li­ti­sche Mecha­nis­men ihre Herr­schaft sicher­ten, wobei die in sich gekap­sel­te Kom­mu­ni­ka­ti­on eine beson­de­re Form der Herr­schafts­si­che­rung spiel­te.10 In den 1970er Jah­ren ent­glitt den Platt­for­men in der ita­lie­ni­schen poli­ti­schen Land­schaft zuneh­mend die tech­ni­sche Hand­hab­bar­keit der Macht, wie Pier Pao­lo Paso­li­ni in sei­nen Frei­beu­ter­schrif­ten kon­sta­tier­te. Bei­spiel­haft sei Aldo Moro, schrieb Paso­li­ni, »der gera­de am wenigs­ten in all die abscheu­li­chen Din­ge ver­wi­ckelt sce­int, die von 1969 bis heu­te von denen orga­ni­siert wur­den, die um kei­nen Preis die Macht aus den Hän­den geben wol­len – was ihnen bis­lang auch, for­mal gese­hen, gelun­gen ist.«11 In Paso­li­nis Sicht agier­ten die »christ­de­mo­kra­ti­schen Poten­ta­ten« in einer Lee­re, in einem Vaku­um. »Die rea­le Macht braucht sie nicht mehr, und sie haben nichts mehr in der Hand außer ein paar nutz­lo­sen Appa­ra­ten, die höchs­tens noch ihren trau­ri­gen Zwei­rei­hern Rea­li­tät ver­lei­hen.«12 In der für vie­le ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Sze­na­ri­en emp­fäng­li­chen ita­lie­ni­schen Land­schaft schloss die Erwar­tung für die Zukunft ledig­lich einen Staats­streich und die Restau­ra­ti­on des Faschis­mus ein. Die Unsicht­bar­keit des Offen­sicht­li­chen m Zuge der zuneh­men­den poli­ti­schen Gewalt wur­de Paso­li­ni, der kurz von sei­nem Tod 1975 noch die »Kri­mi­na­li­tät des Staa­tes«13 anpran­ger­te, als intel­lek­tu­el­ler Urhe­ber des Ter­ro­ris­mus stig­ma­ti­siert. Paso­li­ni habe, hieß es, in sei­nen öffent­li­chen Invek­ti­ven gefor­dert, den füh­ren­den christ­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­kern den »Pro­zess« zu machen – einen Pro­zess, den nun die Mit­glie­der des BR-Ter­ror­­kom­­man­­dos in ihrem »Volks­ge­fäng­nis« in die Tat umsetz­ten. »Abge­se­hen von der rein for­ma­len Tat­sa­che«, insis­tier­te Paso­li­nis Bio­graf Enzo Sici­lia­no, dass »Paso­li­ni von einem ›Pro­zess vor einem ordent­li­chen Gericht‹ gespro­chen hat­te, muß­te man in sei­nen Wor­ten jedoch das Fest­hal­ten an rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en und an sozia­lis­ti­schen Wer­te her­aus­hö­ren . Gera­de die ›Ord­nungs­mä­ßig­keit‹ und die Öffent­lich­keit des Gerichts­ver­fah­rens waren für Paso­li­ni schon wegen ihres Sym­bol­ge­halts höchs­te Wer­te.«14 Auch Scia­scia war – ob sei­ner vor­geb­li­chen intel­lek­tu­el­len Käl­te und sei­ner »Wei­ge­rung, sich vor­be­halt­los an die Sei­te des Staa­tes zu stel­len« – star­ken Anfein­dun­gen aus­ge­setzt und des »ver­ba­len Ter­ro­ris­mus« bezich­tigt. Wie Poes detek­ti­vi­scher Pri­va­tier Augus­te Dupin agiert Scia­scia mit einer »intel­lek­tu­el­len Arro­ganz« gegen­über den Akteu­ren des Staa­tes, der Medi­en und der ver­meint­li­chen Stadt­gue­ril­la, die für ihn in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen das immer­glei­che auto­ri­tä­re Phä­no­men in der ita­lie­ni­schen Land­schaft reprä­sen­tie­ren. »Scia­scia ist sein eige­ner Dupin«, kon­sta­tiert Joseph Far­rell, »aber sein Ziel ist nicht, den Schul­di­gen zu iden­ti­fi­zie­ren, son­dern ein Ver­ständ­nis für den Zustand eines Men­schen zu gewin­nen, der dem Tod ins Auge blickt, für die Denk­wei­se derer, die mit dem Tod Han­del trei­ben, und die Wer­te jener Mäch­ti­gen, die ihn zulas­sen.«15 In den Augen Scia­sci­as war Moro – trotz sei­ner lang­jäh­ri­gen par­tei­po­li­ti­schen Kar­rie­re – bis zum Tag sei­ner Ent­füh­rung kei­nes­wegs – wie ihn die öffent­li­che Mei­nung im Nach­hin­ein sti­li­sier­te – ein »gro­ßer Staats­mann« gewe­sen. Selbst im »Volks­ge­fäng­nis« der BR blieb er »ein gewal­ti­ger Strip­pen­zie­her der Poli­tik«, die »Anten­nen immer auf Emp­fang, scharf­sin­nig, berech­nend«16 Aus der Sicht Scia­sci­as war Moro weder ein »gro­ßer Staats­mann« noch ein »Held«, der sich für den ita­lie­ni­schen Staat im Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus opfern woll­te. Die Brie­fe, die sei­ne Ent­füh­rer aus dem Ker­ker des »Volks­ge­fäng­nis­ses« nach drau­ßen lie­ßen, waren »in der Spra­che der Nicht­kom­mu­ni­ka­ti­on« abge­fasst, die sich im schein­bar aus­drucks­lo­sen Argot der Rackets an den »Boss der Scher­gen« Fran­ces­co Cos­si­ga (sei­nes Zei­chens Innen­mi­nis­ter in der aktu­el­len ita­lie­ni­schen Regie­rung) rich­te­ten. Wie Poes Dupin ent­deckt Scia­scia in den Brie­fen Moros ein »Über­maß an Offen­sicht­li­chem«, etwa die Anwei­sung für das stra­te­gi­sche Hin­hal­ten der Ent­füh­rer in Ver­hand­lun­gen, um die Zeit zu nut­zen, den Ent­führ­ten aus dem Ker­ker zu befrei­en.17 Doch wie schon bei Poe ist der dumpf agie­ren­de Poli­zei­ap­pa­rat nicht in der Lage den »ver­steck­ten Gegen­stand« (in die­sem Fall ein Ent­füh­rungs­op­fer) zu ent­de­cken. Die Intel­li­genz der poli­zei­li­chen Agen­tu­ren konn­te sich auf die »Geris­sen­heit« der Straf­tä­ter nicht ein­stel­len: »Ihre Unter­su­chungs­me­tho­den«, heißt es bei Poe, »ken­nen kei­ne Fle­xi­bi­li­tät.«18 Tri­umph des Mobs Ich bin ein poli­ti­scher Gefan­ge­ner«, heißt es in einem Brief Moros an den christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Benig­no Zac­ca­gni­ni, »den eure brüs­ke Ent­schei­dung, euch jeg­li­cher Dis­kus­si­on über ande­re gleich­falls gefan­ge­ne Per­so­nen zu ver­schlie­ßen, in eine unhalt­ba­re Situa­ti­on gebracht hat. Die Zeit eilt dahin und ist lei­der knapp. Jeden Moment könn­te es zu spät sein.«19 Nach der Inter­pre­ta­ti­on Scia­sci­as befand sich Moro in der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen zwei »Sta­li­nis­men«: den des ita­lie­ni­schen Staa­tes, den sich das Racket der Demo­cra­zia Cris­tia­na (DC) als Beu­te­stück unter den Nagel geris­sen hat­te, und dem der BR, die sich »in ihrer Mona­de ideo­­lo­­gisch-rech­t­spre­chen­­den Wahn­sinns«20 ver­kap­selt hat­ten und allen ideo­lo­gi­schen Eska­mo­tie­run­gen zum Trotz nicht mehr als Tech­ni­ker einer abs­trak­ten Macht ope­rier­ten, die ledig­lich das Nega­tiv der »mili­­tä­risch-büro­­­kra­­ti­­schen Staats­ma­schi­ne« reprä­sen­tier­ten, das sie zu atta­ckie­ren vor­ga­ben. Moro »beginnt«, heißt es bei Scia­scia, »sich à la Piran­del­lo von Form zu lösen, da er sich nun auf tra­gi­sche Wei­se ins Leben ein­ge­las­sen hat.« 21 Von der öffent­li­chen Per­sön­lich­keit wan­delt er sich zum »allein­ge­las­se­nen Men­schen«, zur »Krea­tur«, die sich nach sei­ner »Ver­wand­lung« dage­gen sträubt, von den herr­schen­den »Sta­li­nis­men« zer­quetscht zu wer­den, als wäre sie am Ende »ganz und gar kre­piert«22. Wie ande­re Ter­ro­ris­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen der Zeit agie­ren die roten Bri­ga­den (mit den Wor­ten des Sozi­al­wis­sen­schaft­lers Peter Brück­ner) »im Gefan­ge­nen­la­ger des Extrems«23 und beflei­ßig­ten sich eines »Faschis­mus der Anti­fa­schis­ten«24 (um einen Aus­druck Paso­li­nis zu bemü­hen). Scia­scia betont jedoch den expli­zit ita­lie­ni­schen Cha­rak­ter der roten Bri­ga­den: »Die Bri­ga­te ros­se funk­tio­nie­ren per­fekt: Aber (und das Aber braucht es hier) sie sind ita­lie­nisch. Sie sind ›cosa nos­t­ra‹, unse­re Sache, wie sehr sie auch mit revo­lu­tio­nä­ren Sek­ten oder Geheim­diens­ten ande­rer Staa­ten ver­zahnt sein mögen.«25 Vor­ge­wor­fen wird Scia­scia, dass er Moro (oder des­sen Figur in einer poli­ti­schen Tra­gö­die) als Opfer eines dia­bo­li­schen Macht­kar­tells mit mafiö­sen Struk­tu­ren sti­li­sie­re, wobei er mit sim­pli­fi­zie­ren­den Über­tra­gun­gen aus sei­nen sizi­lia­ni­schen Kri­mi­nal­ro­ma­nen die Mög­lich­keit von Dif­fe­ren­zie­run­gen unter­lau­fe. »Scia­scia ist nicht ein­mal im Ansatz in der Lage«, urteilt die Roma­nis­tin Hele­ne Harth, »die – wie immer auch spä­ter durch tat­säch­li­che Aktio­nen per­ver­tier­ten – Zie­le des lin­ken Ter­ro­ris­mus als von ihrer Inten­ti­on her revo­lu­tio­nä­re Zie­le zu begrei­fen. Für ihn sind viel­mehr die Bri­ga­te Ros­se iden­tisch mit der Mafia und die­nen mit sta­li­nis­ti­schen Metho­den der Zemen­tie­rung eines tod­brin­gen­den Macht­blocks.«26 Wor­in die »revo­lu­tio­nä­ren Zie­le« der BR bestehen soll­ten, ver­mag Harth nicht dar­zu­le­gen. Wie bereits die lin­ke Publi­zis­tin Rossa­na Ross­an­da insis­tier­te, befan­den sich die roten Bri­ga­den mit ihren bru­ta­len Tak­ti­ken und ihrem sta­li­nis­ti­schen Jar­gon im Wider­spruch zu den meis­ten Strö­mun­gen der zeit­ge­nös­si­schen Lin­ken in Ita­li­en, doch gehör­ten sie auch zum »Fami­li­en­al­bum«, zu einer Geschich­te, die nie ver­ging.27 Scia­sci­as Buch lässt einen auf­ge­wühl­ten, wenn nicht beun­ru­hig­ten Leser zurück. Mit den Wor­ten Jor­ge Luis Bor­ges’: »Der beun­ru­hig­te Leser sieht sich noch ein­mal in den ent­spre­chen­den Kapi­teln um und ent­deckt eine ande­re Lösung, die ech­te.«28 Die Beun­ru­hi­gung hält bis zum Moment an, da das euro­päi­sche Pro­jekt – einst untrenn­bar ver­bun­den mit der Befrei­ung vom Faschis­mus und der Über­win­dung eng­stir­ni­ger Natio­na­lis­men – mit einem ita­lie­ni­schen Zom­­bie-Faschis­­mus kon­fron­tiert ist, der den Kon­ti­nent zurück in die vor­de­mo­kra­ti­sche, auto­ri­tä­re Dun­kel­heit einer längst über­wun­den geglaub­ten Ver­gan­gen­heit zu kata­pul­tie­ren droht.29 Dass in den Mas­sen tat­säch­lich die Demo­kra­tie »ein ver­dräng­tes, unter­ir­di­sches Dasein führt«, wie Hork­hei­mer in den 1940er Jah­ren mut­maß­te, ist ange­sichts der aktu­ell herr­schen­den Zustän­de ver­mut­lich eher ein Wunsch­traum. © Jörg Auberg 2024 Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Leo­nar­do Scia­scia. Die Affai­re Moro. Ein Roman. Mit einem Nach­wort von Fabio Stas­si. Über­setzt von Moni­ka Lus­tig. Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023. 240 Sei­ten, 24 Euro. ISBN: 978–3‑949558–18‑4. Bild­quel­len (Copy­rights) Foto Aldo Moro Quel­le: Auf­nah­me eines BR-Mit­­glie­­des, Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Cover L’Af­fai­re Moro © Édi­ti­ons Gras­set Cover Die Affai­re Moro © Edi­ti­on Con­ver­so Foto Pier Pao­lo Paso­li­ni Quel­le: clubalfa.it Illus­tra­ti­on zu Der ent­wen­de­te Brief Quel­le: Fré­dé­ric Théo­do­re Lix, Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Leo­nar­do Scia­scia Quel­le: Dop­pio­ze­ro Nach­wei­se Adri­an Lyt­tel­ton, »Mur­der in Rome«, New York Review of Books, 34, Nr. 11 (25. Juni 1987), https://www.nybooks.com/articles/1987/06/25/murder-in-rome/ ↩ Mai­ke Albath, »Klar­heit, Ver­nunft und Häre­sie«, in: Leo­nar­do Scia­scia, Ein Sizi­lia­ner von fes­ten Prin­zi­pi­en (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2021), S. 158 ↩ Leo­nar­do Scia­scia, Die Affai­re Moro. Ein Roman, übers. Moni­ka Lus­tig (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023), S. 63 ↩ Joseph Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter (Flo­renz: Leo S. Olsch­ki Edi­to­re, 2022), S. 198 ↩ Gore Vidal, »On the Assassin’s Trail«, New York Review of Books, 26, Nr. 16 (25. Okto­ber 1979), https://www.nybooks.com/articles/1979/10/25/on-the-assassins-trail/ ↩ Tho­mas Erling Peter­son, Ein­lei­tung zu: Alber­to Mora­via, Two Fri­ends (New York: Other Press, 2011), S. xvii ↩ Umber­to Eco, Der ewi­ge Faschis­mus, übers. Burk­hart Kroeber (Mün­chen: Han­ser, 2020), S. 23, 27–28; Ian Kers­haw, To Hell and Back: Euro­pe 1914–1949 (Lon­don: Allen Lane, 2015), S. 228–232, 274–282; Nun­zio Per­ni­co­ne und Fraser M. Otta­nel­li, Ass­as­sins Against the Old Order: Iali­an Anar­chist Vio­lence in Fin de Siè­cle Euro­pe (Cham­paign, IL: Uni­ver­si­ty of Illi­nois Press, 2018); Alan John­s­ton, »A Gay Island Com­mu­ni­ty Crea­ted by Italy’s Fascists«, BBC, 13. Juni 2013, https://www.bbc.com/news/magazine-22856586; Katy Hull, The Maschi­ne Has a Soul: Ame­ri­can Sym­pa­thy with Ita­li­an Fascism (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2021), S. 65–83, 116–149 ↩ Max Hork­hei­mer, »Die Rackets und der Geist«, in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, hg. Gun­ze­lin Schmid-Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 291 ↩ Leo­nar­do Scia­scia, Das Gesetz des Schwei­gens: Sizi­lia­ni­sche Roma­ne, übers. Hele­ne Moser et al. (Wien: Zsol­nay, 2018), S. 368 ↩ Cf. Ulri­ke Klin­ger et al., Plat­forms, Power, and Poli­tics: An Intro­duc­tion to Poli­ti­cal Com­mu­ni­ca­ti­on in the Digi­tal Age (Lon­don: Poli­ty Press, 2024), S. 32–49 ↩ Pier Pao­lo Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten: Die Zer­stö­rung der Kul­tur des Ein­zel­nen durch die Kon­sum­ge­sell­schaft, übers. Tho­mas Eisen­hart (Ber­lin: Wagen­bach, 2011), S. 110 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 110 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 117 ↩ Enzo Sici­lia­no, Paso­li­ni: Leben und Werk, übers. Chris­tel Gal­lia­ni (Wein­heim: Beltz, 1994), S. 530Fn76 ↩ Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter, S. 199 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 31 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 37, 45, 53 ↩ Edgar Allan Poe, »Der ent­wen­de­te Brief«, übers. Andre­as Nohl, in: Poe, Unheim­li­che Geschich­ten, hg. Charles Bau­de­lai­re (Mün­chen: dtv, 2018), S. 72 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 60 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 103 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 75; zu Scia­sci­as Inter­pre­ta­ti­on von Piran­del­lo und Sizi­li­en als poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Meta­pher cf. Leo­anrdo Scia­scia, Piran­del­lo et la Sici­le, übers. Jean-Noël Schi­fa­no (Paris: Édi­ti­ons Gras­set, 1980) ↩ Franz Kaf­ka, Die Ver­wand­lung (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 2024), S. 83 ↩ Peter Brück­ner, Über die Gewalt: Sechs Auf­sät­ze zur Rol­le der Gewalt in der Ent­ste­hung und Zer­stö­rung sozia­ler Sys­te­me (Ber­lin: Wagen­bach, 1979), S. 90 ↩ Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 62 ↩ Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 137 ↩ Hele­ne Harth, »Macht und Gewalt im poli­ti­schen Ima­gi­nä­ren eines Sizi­lia­ners: Leo­nar­do Scia­scia und die Moro-Affä­­re«, in: Gewalt der Geschich­te – Geschich­ten der Gewalt: Zur Kul­tur und Lite­ra­tur Ita­li­ens von 1945 bis heu­te, hg. Peter Brock­mei­er und Caro­lin Fischer (Stutt­gart: M & P Ver­lag für Wis­sen­schaft und For­schung, 1998), S. 163 ↩ David Bro­der, Mussolini’s Grand­child­ren: Fascism in Con­tem­po­ra­ry Ita­ly (Lon­don: Plu­to Press, 2023), S. 11 ↩ Jor­ge Luis Bor­ges, Uni­ver­sal­ge­schich­te der Nie­der­tracht – Fik­tio­nen – Das Aleph, übers. Gis­bert Haefs et al. (Mün­chen: Han­ser, 2000), S. 146 ↩ David Bro­der, »Gior­gia Meloni’s Euro­pe«, Dis­sent, 71, Nr. 2 (Früh­jahr 2024):25–26 ↩ […]
  • Paul Auster: Bloodbath NationPaul Aus­ter: Blood­bath Nati­on12. Mai 2024Paul Aus­ters Ver­mächt­nis Ein nahe­zu klas­si­scher Essay über Waf­fen­ge­walt von Jörg Auberg Im Juli 1945, als der Zwei­te Welt­krieg noch im vol­len Gan­ge war, kon­sta­tier­te der ita­lie­ni­sche Emi­grant Nic­coló Tuc­ci in der New Yor­ker pazi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics: »Das Pro­blem ist nicht, wie man den Feind los­wird, son­dern eher, wie man den letz­ten Sie­ger los­wird. Denn was ist der Sie­ger etwas ande­res als einer, der gelernt hat, dass Gewalt funk­tio­niert? Wer wird ihm eine Lek­ti­on ertei­len?«1 In sei­nem schma­len Essay­band Blood­bath Nati­on, das nach sei­nem Tod sein poli­ti­sches Ver­mächt­nis dar­stellt, hat Paul Aus­ter die his­to­ri­sche »Gewalt­pro­ble­ma­tik« der USA mit ihrem Waf­fen­fe­tisch the­ma­ti­siert, die sich spek­ta­ku­lär in Amok­läu­fen und Mas­sen­mor­den in kür­ze­ren Inter­val­len immer wie­der mani­fes­tiert und deren men­schen­lee­ren Orte der Foto­graf Spen­cer Ost­ran­der in kar­gen Schwarz­weiß­bil­dern fest­hielt. Aus­ter hat­te nicht den Anspruch, in sei­nem knap­pen Essay Richard Slot­kins volu­mi­nö­se Tri­lo­gie über die Gewalt und Waf­fen­kul­tur der US-ame­ri­­ka­­ni­­schen »fron­tier« vom 16. Jahr­hun­dert bis in die Rea­­gan-Ära des 20. Jahr­hun­derts in geraff­ter Form zu erzäh­len.2 Er wähl­te einen per­sön­li­chen Ansatz, indem er von sei­ner Kind­heit berich­tet, in der die Idea­li­sie­rung des waf­fen­tra­gen­den Cow­boys, der mit Waf­fen­ge­walt die ihn umge­ben­den Ver­hält­nis­se regel­te, in die Vor­stel­lungs­welt eines Jun­gen ein­wan­der­te – und zwar in ers­ter Linie mit­tels der Popu­lär­kul­tur in den 1950er Jah­ren über die Nach­mit­tags­pro­gram­me des Fern­se­hens, in denen Dar­stel­ler wie Al »Fuz­zy« St. John oder Al »Lash« LaRue die »infan­ti­le Traum­welt der Fern­seh­cow­boys«3 ins Wohn­zim­mer und in die kind­li­che Ima­gi­na­ti­on tru­gen. Neben die­ser all­ge­mei­nen kul­tu­rel­len Prä­gung kam bei Aus­ter noch die eige­ne Fami­li­en­ge­schich­te ins Spiel: Sei­ne Groß­mutter Anna Aus­ter erschoss 1919 ihren Mann Har­ry Aus­ter wegen Geld­strei­tig­kei­ten, nach­dem ihre Bezie­hung in die Brü­che gegan­gen war. Aus Rache ver­such­te ihr Schwa­ger, sie zu erschie­ßen, was jedoch miss­lang.4 Wegen zeit­wei­li­ger Unzu­rech­nungs­fä­hig­keit wur­de die Groß­mutter im Gerichts­ver­fah­ren frei­ge­spro­chen. Das fami­liä­re Trau­ma zer­stör­te auch das Leben von Paul Aus­ters Vater, der »ver­einsamt und gebro­chen« durch sein Leben schlich. In den Augen sei­nes Soh­nes war es »die Waf­fe, die das Leben mei­nes Vater runiert hat«.5 Wie Chris­ti­ne Bold im Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment unter­streicht, erzähl­te Aus­ter mehr­fach in sei­nen auto­bio­gra­fi­schen Tex­ten – von The Inven­ti­on of Soli­tu­de (1982) bis zu Win­ter Jour­nal (2012). In Blood­bath Nati­on ist es nicht ledig­lich eine fami­liä­re Epi­so­de, son­dern eine tie­fer­ge­hen­de Erfah­rung mit einer durch Waf­fen­ge­walt gepräg­te und trau­ma­ti­sier­te Fami­li­en­ge­schich­te.6 Dar­über hin­aus rich­te­te Aus­ter sei­nen Blick von der indi­vi­du­el­len Erfah­rung auf das gesell­schaft­li­che Gan­ze: »War­um ist Ame­ri­ka so anders«, frag­te er sich, »– und was macht es zum gewalt­tä­tigs­ten Land der west­li­chen Welt?«7 In nahe­zu klas­si­scher Manier ver­fuhr der immer wie­der post­mo­der­ner Trick­ser bezeich­ne­te Autor in sei­nem Essay im kon­tem­pla­ti­ven Ver­we­ben von indi­vi­du­el­ler und his­to­ri­scher Erfah­rung. »Die Bezie­hung auf Erfah­rung – und ihr ver­leiht der Essay soviel Sub­stanz wie die her­kömm­li­che Theo­rie den blo­ßen Kate­go­rien – ist die auf die gan­ze Geschich­te«, kon­sta­tier­te Theo­dor W. Ador­no; »die bloß indi­vi­du­el­le Erfah­rung, mit wel­cher das Bewußt­sein als mit dem ihr nächs­ten anhebt, ist sel­ber ver­mit­telt durch die­über­grei­fen­de der his­to­ri­schen Mensch­heit; daß statt­des­sen die­se mit­tel­bar und das je Eige­ne das Unmit­tel­ba­re sei, blo­ße Selbst­täu­schung der indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaft und Ideo­lo­gie.«8 Nach Aus­ters Anga­ben sind 393 Mil­lio­nen Schuss­waf­fen im Besitz von US-Bürger*innen, und in einer Kul­tur der Gewalt, die mit­tels Aus­rot­tung der ansäs­si­gen und noma­den­haf­ten indi­ge­nen Völ­ker, Skla­ve­rei und Ras­sis­mus, Kapi­ta­lis­mus und Impe­ria­lis­mus die Ter­ri­to­ri­en und die Roh­stof­fe (inklu­si­ve der mensch­li­chen Indi­vi­du­en und Mas­sen) sich ein­ver­leib­te. Tat­säch­lich ging es im alten Wes­ten, wie Aus­ter beton­te, »wesent­lich zivi­li­sier­ter und fried­li­cher und siche­rer« zu als im aktu­el­len Ame­ri­ka, da in den Fron­­tier-Ter­ri­­to­ri­en nicht schieß­wü­ti­ge Revol­ver­hel­den ihr Unwe­sen trie­ben, son­dern in den Gemein­den aus Selbst­schutz kla­re Waf­fen­kon­trol­len durch­ge­führt wur­den.9 Gegen­wär­tig ist Waf­fen­be­sitz nicht ein Recht, son­dern nahe­zu eine Bür­ger­pflicht.10 die Waf­fen­ge­walt der staat­li­chen Auto­ri­tä­ten im Kampf gegen Min­der­hei­ten rief eine Gegen­ge­walt her­vor, mit der Aktivist*innen von Grup­pie­run­gen wie Red Power, den Young Lords oder den Black Pan­thers in den 1970er Jah­ren in medi­en­ge­rech­ter Sym­bo­lik mit Waf­fen in der Öffent­lich­keit auf­tra­ten, ohne dass dadurch die Gewalt- und Todes­spi­ra­le durch­bro­chen wur­de. »Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind durch Gewalt zustan­de gekom­men«, schloss Aus­ter sei­nen Essay, »haben aber durch eine Vor­ge­schich­te, hun­dert­acht­zig Jah­re in unun­ter­bro­che­nem Krieg mit den Urein­woh­nern des Lan­des, das wir ihnen weg­ge­nom­men haben, sowie kon­ti­nu­ier­li­che Unter­drü­ckung unse­rer ver­sklav­ten Min­der­heit – die zwei Sün­den, die wir in die Revo­lu­ti­ons­zeit mit­ge­bracht und für die wir bis heu­te nicht gebüßt haben.« 11 Schluss­end­lich hat­te Aus­ter kein Pro­gramm zur Lösung des grund­le­gen­den Pro­blems: Weder eine restrik­ti­ve Waf­fen­kon­trol­le (die ver­mut­lich einen ille­ga­len Waf­fen­han­del beför­dern wür­de) noch ein unbe­schränk­ter Zugang zu Schuss­waf­fen wür­de dem Ver­häng­nis ein Ende berei­ten, da die Ursa­chen in der Geschich­te und in der kol­lek­ti­ven Psy­che Ame­ri­kas ver­gra­ben sind. Er las­se die Leser*innen nach der Lek­tü­re des Essays rat­los zurück, lau­te­te der wie­der­hol­te Vor­wurf der Kri­tik. »Aus­ter, einer der bes­ten Geschich­ten­er­zäh­ler der eng­li­schen Spra­che, erweist sich als sach­kun­di­ger und auf­ge­klär­ter Füh­rer, wäh­rend er durch die The­ma­tik mäan­dert«, kon­ze­dier­te Gary Younge in einer Rezen­si­on im Guar­di­an. »Aber sein Ver­säum­nis, ein Ziel zu anzu­zei­gen, geschwei­ge denn eines zu errei­chen, lässt den Leser wie zu Beginn ver­lo­ren und in einem Gefühl der Hoff­nungs­lo­sig­keit zurück.«12 Dabei ver­kennt der Rezen­sent jedoch das Wesen des Essays: Er »fängt nicht mit Adam und Eva an son­dern mit dem, wor­über er reden will«, insis­tier­te Ador­no; »er sagt, was ihm dar­an auf­geht, bricht ab, wo er sel­ber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr blie­be: so ran­giert er unter den Allo­tria.« In sei­nen Roma­nen agier­te Aus­ter, wie Chris Ward schrieb, als »Autor-Gott«, der Mann, der in sei­nem lite­ra­ri­schen Uni­ver­sum die Fäden zog und im Kos­mos des Zufalls die Figu­ren mit magi­schen Kunst­stü­cken durch die Kulis­sen schob.13 Trotz allem sind die lite­ra­ri­schen Wer­ke kei­nes­wegs post­mo­der­ne Spie­le­rei­en, son­dern – wie Adria­no A. Ted­de – in einer kri­ti­schen ame­ri­ka­ni­schen Tra­di­ti­on von Hen­ry David Tho­reau und Walt Whit­man ver­wur­zelt und hal­ten die uto­pi­sche Flam­me eines »ande­ren Ame­ri­kas« als Gegen­be­we­gung zum his­to­ri­schen Nie­der­gang von »Ronald zu Donald« seit den 1980er Jah­ren auf­recht.14 Als Essay­ist muss­te er sich an die Erkennt­nis­se des alten Meis­ters hal­ten: »All of old. Not­hing else ever. Ever tried. Ever Fai­led. No matter.Try again. Fail again. Fail bet­ter.«15 © Jörg Auberg 2024   Biblio­gra­fi­sche Anga­ben: Paul Aus­ter. Blood­bath Nati­on. Mit Fotos von Spen­cer Ost­ran­der. Über­setzt von Wer­ner Schmitz. Ham­burg: Rowohlt Ver­lag, 2024. 192 Sei­ten, 26 Euro. ISBN: 978–3‑498–00323‑4. Bild­quel­len (Copy­rights) Cover Blood­bath Nati­on © Rowohlt Ver­lag Film­pla­kat Law of the Lash © Pro­du­cers Releasing Cor­po­ra­ti­on Foto Mas­sen­grab in Woun­ded Knee © Nor­thwes­tern Pho­to Co., Public domain, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Black Pan­ther Demons­tra­ti­on © CIR Online, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wiki­me­dia Com­mons Foto Paul Aus­ter © Siri Hustvedt/Grove Atlan­tic Nach­wei­se Nic­coló Tuc­ci, »Com­mon­non­sen­se«, Poli­tics 2, Nr. 7 (Juli 1945):196 ↩ Cf. Richard Slot­kin, Rege­ne­ra­ti­on Through Vio­lence: The Mytho­lo­gy of the Ame­ri­can Fron­tier, 1600–1860  (1973; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); The Fatal Envi­ron­ment: The Myth of the Fron­tier in the Age of Indus­tria­liza­ti­on, 1800–1890 (1985; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); Gun­figh­ter Nati­on: The Myth of the Fron­tier in Twen­­tieth-Cen­­­tu­ry Ame­ri­ca  (1992; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 1998) ↩ Paul Aus­ter, Blood­bath Nati­on, übers. Wer­ner Schmitz (Ham­burg: Rowohlt, 2024), S. 10 ↩ Paul Aus­ter, The Inven­ti­on of Soli­tu­de (Lon­don: Faber & Faber, 1992), S. 35–44 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21 ↩ Chris­ti­ne Bold, »The Gunk, Gore and Hor­ror: Paul Aus­ter Con­fronts the Hard Facts of US Gun Law«, Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment, 24. März 2023, https://www.the-tls.co.uk/articles/bloodbath-nation-paul-auster-spencer-ostrander-book-review-christine-bold/ ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21 ↩ Theo­dor W. Ador­no, »Der Essay als Form«, in: Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 18 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 83 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 70 ↩ Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 159 ↩ Gary Younge, »US Gun Vio­lence Under the Micro­scope«, Guar­di­an, 11. Janu­ar 2023, https://www.theguardian.com/books/2023/jan/11/bloodbath-nation-by-paul-auster-review-a-response-to-the-us-gun-crisis ↩ Chris Ward, Rea­ding Paul Aus­ter (o. O.: Wis­dom Twin Books, 2023), S. 33 ↩ Adria­no A. Ted­de, Mar­gi­na­li­sa­ti­on and Uto­pia in Paul Aus­ter, Jim Jar­musch and Tom Waits: The Other Ame­ri­ca (Lon­don: Rout­ledge, 2022) ↩ Samu­el Beckett, Nohow On (Lon­don: John Cal­der, 1992), S. 101 ↩ […]

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Richard Brautigan: Forellenfischen in Amerika

Richard Brautigan - Forellenfischen in Amerika

Trouvailles (I) Vom Spiel mit dem Buch als Buch Nachbetrachtungen zu Richard Brautigans Roman »Forellenfischen in Amerika« von Jörg Auberg Kürz­lich erstand ich in dem exqui­sit bestück­ten Ver­sand­an­ti­qua­ri­at Abend­stun­de, das von Wolf­gang Schä­fer in Lud­wigs­ha­fen betrie­ben wird, ein Exem­plar von Richard Brau­tig­ans Roman Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, der 1971 in der...

Ernst Schoen: Tagebuch einer Deutschlandreise 1947

Ernst Schoen: Tagebuch einer Deutschlandreise

Unversöhnliche Erinnerungen Ernst Schoens Tagebuch einer Deutschlandreise 1947 von Jörg Auberg In einer mit dem Titel »Staats-Räson« über­schrie­be­nen Notiz kurz nach sei­ner Rück­kehr nach West­deutsch­land in den spä­ten 1940er Jah­ren umriss Max Hork­hei­mer das »ver­stärk­te Lei­den« jener Men­schen, »die schon zivi­li­siert waren und nun aufs neue durch die Müh­le müs­sen«1 Die­se...

Richard Ford: Valentinstag

Endstation Realismus Richard Fords Pentalogie über die Mittelschichtsdämmerung  von Jörg Auberg In sei­nem drei Jah­re vor sei­nem selbst­ge­wähl­ten Tod erschie­nen Essay Was wird Lite­ra­tur? im Jah­re 2001 hielt der Lite­ra­tur­kri­ti­ker Lothar Bai­er der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur einen »quie­tis­ti­schen Bie­der­sinn« vor. »Kri­tik im Sinn fun­da­men­ta­ler, von ana­ly­ti­schem...

Marseille Transfer

Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Büchergilde Gutenberg, 2023)

Marseille Transfer Im Labyrinth von Exil und Widerstand während der 1940er Jahre von Jörg Auberg Prolog Im Okto­ber 1970 schrieb Alfred Kan­to­ro­wicz zur Vor­ge­schich­te sei­nes Erin­ne­rungs­bu­ches Exil in Frank­reich: Merk­wür­dig­kei­ten und Denkwürdigkeiten: Die wun­der­li­chen Umstän­de, die mein Ent­kom­men aus dem besieg­ten Frank­reich nach den USA ermög­lich­ten, lie­gen jetzt 30...

Blick zurück nach vorn

Blick zurück nach vorn  Eine Bücherlese des zurückliegenden Jahres 2022  von Jörg Auberg The Beat Goes On u den ver­dienst­vol­len Unter­neh­mun­gen des Rowohlt-Ver­la­ges gehört die Pfle­ge des »klas­si­schen Erbes« im sonst vor­nehm­lich auf Pro­fit und Ren­di­te aus­ge­rich­te­ten Holtz­brinck-Kon­zern. Seit Jah­ren wer­den Wer­ke von Autoren, wel­che die »Mar­ke« Rowohlt...

Die Masken des Genies

Stanley Corngold: The Mind in Exile (Princeton University Press, 2022)

Die Masken des Genies Thomas Manns Exiljahre in Princeton und Kalifornien von Jörg Auberg In sei­ner Apho­ris­men­samm­lung Mini­ma Mora­lia insis­tier­te Theo­dor W. Ador­no, dass jeder Intel­lek­tu­el­le in der Emi­gra­ti­on aus­nahms­los beschä­digt sei und sich per­ma­nent die­ser Beschä­di­gung bewusst sein müs­se. »Er lebt in einer Umwelt, die ihm unver­ständ­lich blei­ben muß, auch wenn er...

Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen

Sylvia Asmus und Uwe Wittstock - Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen (Frankfurt/Main: Deutsches Exilarchiv 1933-1945/Deutsche Nationalbibliothek, 2022)

Der Grosse Zampano Marcel Reich-Ranickis Rollen in kritischen Zeiten von Jörg Auberg In der Lite­ra­tur­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik nimmt Mar­cel Reich-Rani­cki die Rol­le des »mäch­ti­gen Lite­ra­tur­kri­ti­kers« ein, wie Hel­mut Böt­ti­ger in sei­ner per­sön­lich gehal­te­nen Lite­ra­tur­ge­schich­te der 1970er Jah­re unter­strich1. In der Retro­spek­ti­ve war er in den Augen von...

Die Politik der Rackets

Kai Lindemann - Die Politik der Rackets

Herrschaft oder Anarchie Kai Lin­de­mann durch­leuch­tet die Pra­xis der Rackets von Jörg Auberg Der Begriff »Racket« hat im gän­gi­gen Sprach­ge­brauch mitt­ler­wei­le eine Rei­he von Bedeu­tun­gen. In ers­ter Linie wird er mit dem Ten­nis­schlä­ger in Ver­bin­dung gebracht. Dar­über hin­aus bezeich­net er (unter ande­rem) eine Pro­gram­mier­spra­che, eine Social-Media-Audio-App (»Let’s Make a...

Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär

Bert Rebhandl - Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär (Zsolnay, 2020)

Ungenügend Bert Reb­handls Godard-Biografie Von Wolf­ram Schütte Jean-Luc Godard ist unter den Film­ma­chern, was Picas­so unter den Bil­den­den Künst­lern war: »Der per­ma­nen­te Revo­lu­tio­när«. Zutref­fend für das heu­te kaum noch zu über­bli­cken­de Oeu­vre des Neun­zig­jäh­ri­gen lau­tet so der Unter­ti­tel der Bio­gra­phie, die der 1964 gebo­re­ne öster­rei­chi­sche Film­kri­ti­ker Bert...

Mordecai Richler — Eine Straße in Montreal

Mordecai Richler: Eine Straße in Montreal (ars vivendi, 2021)

Erinnerung und Befreiung Mordecai Richlers autobiografische Erzählungen über St. Urbain von Jörg Auberg   Das Mont­rea­ler Vier­tel um die St. Urbain Street war – dem kana­di­schen Film­re­gis­seur Ted Kotcheff zufol­ge – für Mor­de­cai Rich­ler das, was für Wil­liam Faul­k­ner Yokna­pa­taw­pha war: sei­ne Domä­ne der Erin­ne­rung und lite­ra­ri­schen Fik­ti­on.1 Hat­te er sich in sei­nem...

Defining the Age — Daniel Bell, His Time and Ours

Defining the Age: Daniel Bell, His Time and Ours (Columbia University Press, 2022)

Verloren und abtrünnig   Daniel Bells Lamento einer verblassten Geschichte von Jörg Auberg Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Dani­el Bell (1919–2011) gilt als ein pro­to­ty­pi­scher Reprä­sen­tant der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len des 20. Jahr­hun­derts, der nicht nur den Weg von der »alten Lin­ken« in den 1930er Jah­ren zum Neo­kon­ser­va­tis­mus der Rea­gan-Ära beschritt, son­dern auch den...

Hommage an Cineaste

Cineaste: Ausgabe Frühjahr 2022 (47:2)

Kritik und Gegenöffentlichkeit Seit 1967 setzt die Zeitschrift Cineaste Massstäbe in der Filmpublizistik   von Jörg Auberg   »Kurz­um, der Film­kri­ti­ker von Rang ist nur als Gesell­schafts­kri­ti­ker denkbar.« Sieg­fried Kra­cau­er 1   Im Som­mer 1967 erschien die ers­te drei­ßig­sei­ti­ge Aus­ga­be der New Yor­ker Film­zeit­schrift Ciné­as­te (damals noch in der fran­zö­si­schen...

Joseph McBride — Billy Wilder: Dancing on the Edge

Joseph McBride: Billy Wilder: Dancing on the Edge (Columbia University Press, 2021)

Vom Zyniker zum Moralisten Joseph McBride und Noah Isenberg werfen einen neuen Blick auf das Werk Billy Wilders von Jörg Auberg In der klas­si­schen Film­ge­schichts­schrei­bung wird Bil­ly Wil­der immer wie­der als Zyni­ker eti­ket­tiert. In ihrer Geschich­te des Films (1962) sahen die bei­den Film­his­to­ri­ker Ulrich Gre­gor und Enno Pata­l­as in Fil­men wie The Seven Year Itch (1955), Some...

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