Die Bibliothek der flüchtigen Dinge
In der Rezension mit ID 6242 fehlt der Buchtitel.
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Der Aufbau-Verlag und die kriminelle Vereinigung in der SED und der Treuhandanstalt
Die Herzog August Bibliothek
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Männer vom Meer
Harry Blomberg:
Männer vom Meer.
Eine Erzählung von den Färöern.
Aus dem Schwedischen von Ernst Fall
Durchgesehen von Klaus-Jürgen Liedtke.
Als der schwedische Autor Harry Blomberg im Jahre 1950 im Alter von 56 Jahren starb, erschien selbst in der New York Times am 2. Februar 1950 eine kurze Notiz: »Harry Blomberg, schwedischer Autor« habe zunächst als Laufbursche, Drucker und Journalist für schwedische Zeitungen gearbeitet, ehe er Karriere als Erzähler und Romanautor machte.
In der Edition A · B · Fischer ist in einer überarbeiteten Übersetzung die Erzählung Männer vom Meer aus dem Jahre 1926 neu augelegt, die das Leben der Fischer auf den Faröer-Inseln beschreibt. Protagonist der Erzählung ist der heranwachsende Ole Jakob, der in der kargen Insellandschaft seine »Männlichkeit« durch Härte und Brutalität gegen die Ungestüme des Meeres beweist, während seine Brüder von der stürmischen See verschlungen werden.
In der von den Gewalten der Natur beherrschten Insel gibt es keinen gesellschaftlichen oder kommunitären Fortschritt. Stets sind die Generationen der Fischer der immergleichen Herrschaft von Schnee und Wasser, den »funkelnden Wettern« ausgeliefert. Das Überleben wird nur durch Taten der »Männlichkeit« gesichert: Im Abschlachten von Grindwalen beweisen sich »wettergebräunte Männer« ebenso wie in archaischen Familienstrukturen, in denen Frauen auf die Rolle von Subalternen verwiesen sind.
Im Gegensatz zu anderen Autoren der schwedischen Literatur wie Vilhelm Moberg oder Eyvind Johnson übt Blomberg keine gesellschaftliche Kritik: Trotz sozialistischer oder gewerkschaftlicher Überzeugungen blieb er eher freikirchlichen Strömungen als emanzipatorischen Ideen verhaftet. Ähnlich wie bei Knut Hamsun dominierte im Schreiben Blombergs die Natur als Ausdruck des Leidens, aber auch des Großartigen und Heroischen (wie Leo Löwenthal Hamsuns problematische »Naturflucht« beschrieb). Wie Bernd Erhard Fischer im Nachwort schreibt, ist ungewiss, ob Blomberg die Verhältnisse auf den Faröern tatsächlich selbst erlebt hat. Möglicherweise war es eine Projektion.
© Jörg Auberg 2022 (2022–02-13)
Der Aufbau-Verlag
Bernd F. Lunkewitz:
Der Aufbau-Verlag und die kriminelle Vereinigung in der SED und der Treuhandanstalt.
In seiner Farce Gespräche mit Professor Y (Entretiens avec le professeur Y, 1955) konstatierte Louis-Ferdinand Céline: »Alles in allem sieht man, wenn man es genau nimmt, eine ganze Menge Schriftsteller in der Gosse enden, andererseits findet man nur selten einen Verleger unter einer Brücke … ist das nicht zum Piepen?« Nicht alle Verleger enden so dramatisch wie Giangiacomo Feltrinelli und finden eine adäquate literarische Würdigung wie Nanni Balestrinis Roman Der Verleger, der sich über Form & Wort im Territorium der Herrschaft durchsetzt.
Dagegen fühlt sich der ehemalige Verleger der Aufbau-Verlages, Bernd F. Lunkewitz, als Betrogener der Geschichte und gibt eine weitschweifige Jeremiade über sein Leben und Überleben unter den »Buchmachern« in Deutschland zum Besten. Sein Buch Der Aufbau-Verlag und die kriminelle Vereinigung in der SED und der Treuhandanstalt beschreibt einerseits sehr dokumenten- und zitatenorientiert die Geschichte des Aufbau-Verlages in der DDR und will andererseits den Unternehmer Lunkewitz als Opfer des Nachwende-Kapitalismus in Gestalt der Treuhand darstellen. Obwohl der Aufbau-Verlag bis zum Ende der DDR zum Kulturbund und nicht zum »Volkseigentum« der SED gehört habe, sei er von der Treuhandanstalt verhökert worden, Wie Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung (10. Mai 2010) schrieb: »Tausendfünfhundert Lizenzen, die der Verlag zwischen 1990 und 2008 geschlossen und verkauft hat, sind rechtswidrig vergeben worden, weil der angebliche Eigentümer, die Aufbau Verlagsgruppe GmbH, über die Rechte nicht verfügen durfte. Lizenznehmer wie Filmstudios, Fernsehsender und Buchverlage in Europa, Asien und den USA haben Rechte in Anspruch genommen (und dafür bezahlt), ohne sie wirklich erworben zu haben. Epidemisch sind Urheber- und Markenrechte verletzt worden.«
Leyendecker beschreibt Lunkewitz als »Salonmarxisten«, der sich in Frankfurt/Main im Umkreis der maoistischen Splitterpartei KPD/ML umhertrieb und bereits im Alter von 29 Jahren mit dem Verkauf von Gewerbeimmobilien seine erste Million machte. Der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann spitzte ihn schließlich auf die Investition in den maroden DDR-Verlag an, der sich als vermögenslose Leiche erwies. »Der Verleger hat also«, resümierte Leyendecker 2010, »fast zwei Jahrzehnte in ein Unternehmen investiert, das ihm faktisch nicht gehörte, und plant jetzt, sich die Investitionen — allein in den Aufbau-Verlag hat er über die Jahre 27 Millionen Euro gesteckt — zurückzuholen.«
Das Buch ist ein Addendum für Lunkewitz’ Leidensgeschichte und entsprechend humorlos. Unentwegt und ausschweifend listet er alte Akten, Bilanzen, Briefe sowie Kassen- und Fünfjahrespläne der »HV Verlage und Buchhandel, Abteilung Ökonomie, Sektor Planung« auf.
Der Fünfjahresplan 1971–1975 wurde auf der Grundlage der zentralen Dokumente von Partei und Regierung und der Weisungen der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel ausgearbeitet und im Verlagskollektiv diskutiert und verabschiedet.«
Einzelne Textpassagen erinnern an Franz Kafkas Amtliche Schriften (Luchterhand, 1991), und Lunkewitz selbst bemüht den Vergleich mit Kafka: Unter der Kapitelüberschrift »Der Prozess« heißt am Schluss des Buches: »Jemand musste Bernd F. Lunkewitz verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde am 6.4.2020 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen.«
Das »Böse«, das er getan hatte, bestand darin, dass er Werke von Lion Feuchtwanger, »den Lunkewitz so gerne liest« (Leyendecker), und anderen Aufbau-Autoren, als Vermögensanlage nutzen wollte. Zwar behauptete er, der Verlag sei sein Lebenswerk, doch vor allem war er an der Rendite interessiert: Er wolle seinen »Schaden ersetzt bekommen«. So erbärmlich erweist sich der vorgebliche »Kämpfer gegen das Unrecht« einig mit den »deutschen Verhältnissen«.
© Jörg Auberg 2022 (2022–02-17)
Buchhandel: Da, wo wir Bücher kaufen
Vom Verschwinden des Buches
Ursula Töller:
Buchhandel: Da, wo wir Bücher kaufen.
Nach einem Besuch der Frankfurter Buchmesse im Jahre 1959 befiel Theodor W. Adorno »eine sonderbare Beklemmung«, die aus dem Umstand herrührte, dass »die Bücher nicht mehr aussehen wie Bücher«. In der globalen Warenwelt war auch das Buch nicht mehr als ein Konsumgut. »Bucheinbände sind, international, zur Reklame für das Buch geworden. Jene Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden, Hermetischen, das den Leser in sich hineinnimmt, gleichsam den Deckel schließt wie die Buchdeckel über den Text – das ist als unzeitgemäß beseitigt.« Zugleich war sich Adorno bewusst, dass die Bücher, die sich vordergründig der Massenproduktion entziehen, dem »Fluch des Kunstgewerbes« und der Idee des Reaktionären unterliegen.
Gerade in Zeiten, da die Totalität der analogen und digitalen Warenform die menschliche Existenz weitgehend bestimmt, werden die Buchhandlungen zu imaginären Refugien, zu »Orten der Sehnsucht«, zu »Leseparadiesen«, wie sie etwa der Leiter des Hamburger Literaturhauses, Rainer Moritz, kitschig beschreibt: Während alles der kapitalistischen Verwertung und dem Profitinteresse unterliegt, wird an der Mär vom entrückten, verzauberten Ort der Bücher gestrickt, die von den Beschädigungen und Verunstaltungen der menschlichen Existenz verschont bleiben. In Romanen mit Titeln wie Ein Buchladen zum Verlieben, Die Sehnsucht des Vorlesers, Der fabelhafte Buchladen des Mr. Livingstone, Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg, Der kleine Buchladen zum großen Glück, Meine wundervolle Buchhandlung und als Topping Penelope Fitzgeralds Die Buchhandlung wird der Illusion des falschen Glücks im kleinbürgerlichen Milieu jenseits des urbanen Molochs gefrönt. Und in Büchern wie The Bookseller’s Tale von Martin Latham (unter dem Label Particular Books unter dem Dach des gobalen Großkonzerns Penguin Random House vertrieben) inszeniert sich der Buchverkäufer als Großer Impressario der Buchkultur (die sich bei genauerem Hinsehen eher als vorläufig letzte Manifestation dessen erweist, was Dwight Macdonald einst als midcult verabscheute). In seinen »Bookshop Memories« schrieb George Orwell: »A bookseller has to tell lies about books, and that gives him distate for them; still worse is the fact that he is constantly dusting them and hauling them to and fro.« In grauer Vorzeit war der Buchladen – wie Peter Burke in seiner Studie A Social History of Knowledge: From Gutenberg to Diderot schreibt – ein Ort der Begegnung und des Austausches, der Ort für Neuentdeckungen, ein Ort, wo James Boswell auf Samuel Johnson stoßen konnte. In den Stationen von Thalia, Hugendubel und anderen Konzernen, wo »das Buch« eher »Beifang« im sonstigen Warenangebot ist, wird dies nicht stattfinden.
Die Prozesse der Veränderungen im Buchhandel versucht Ursula Töller in ihrer konzisen Abhandlung Buchhandel: Da, wo wir Bücher kaufen (die im Rahmen der Wallstein-Reihe »Ästhetik des Buches: Die Buchform und das Buch als Form« erschien) abzubilden, wobei sie jedoch auf den deutschsprachigen Raum und die dortigen Entwicklungen seit dem 16. Jahrhundert beschränkt. Thematisch beschränkt sie sich auf deutsche Buchhändler, Verleger und Autoren, widmet sich zwar auch der staatlichen Zensur, doch bleiben Themen wie Bücherverbrennungen oder bibliophile/bibliomanische/bibliokriminelle Absonderlichkeiten (wie sie beispielsweise in Arbeiten von Nicholas A. Basbanes, Andrew Piper oder Anders Rydell zum Ausdruck kommen) vollkommen unberücksichtigt.
Vor allem aber fehlt zur »kritischen Darstellung der Geschichte des Buchhandels« (die der Verlag hervorhebt) eine Berücksichtigung des »Mythos Maschine« (wie ihn Lewis Mumford und andere Autoren nach ihm beschrieben). So bleibt Töllers Abhandlung ein philologischer, von der herrschenden Realität abgekapselter Versuch. Mit Adorno gesprochen: »Philologie ist verschworen mit dem Mythos: sie versperrt den Ausweg.«
© Jörg Auberg 2022 (2022–02-22)
George Orwell: Reise durch Ruinen
In einer Welt der ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen
George Orwells Reportagen aus deutschen Ruinenlandschaften
In seinem letzten »Brief aus London«, den er im Sommer 1945 an die Redaktion der New Yorker Zeitschrift Partisan Review schrieb, verlieh George Orwell seiner Verwunderung Ausdruck, dass in den zurückliegenden Jahren die ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen – »Säuberungen, Deportationen, Massaker, Hungersnöte, Einkerkerung ohne Gerichtsverfahren, Angriffskriege, gebrochene Verträge« – weder die Öffentlichkeit erregten noch einen Niederschlag in der Diskussion fanden, wenn sie nicht dem jeweiligen politischen Zeitgeist willfahrten. Orwell echauffierte sich über die fehlende Empörung über »Dachau, Buchenwald etc.«, doch in den Reportagen aus dem Frühjahr 1945, die nun in dem schmalen Band Reise durch Ruinen erstmals auf deutsch erscheinen, fehlt auch bei Orwell der Hinweis auf die Extermination der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. 1945 war Buchenwald die Synekdoche für die Extermination durch die Nazis, eine Metapher für die Übel des 20. Jahrhunderts, ehe später Auschwitz zum Synonym für das kaum begreifbare Grauen wurde.
In den journalistischen Texten, die in der liberalen Tageszeitung Observer und in der sozialistischen Zeitschrift Tribune erschienen, beschreibt Orwell die Zustände in der zerbombten Ruinenlandschaft Deutschlands, über die bereits der ideologische Nebel des Kalten Krieges (zwischen »Russophilie« und »Russophobie«) wabert. »Nach diesem jahrelangen Krieg ist es ein eigenartiges Gefühl«, beoachtet Orwell, »jetzt endlich auf deutschem Boden zu stehen. Das Herrenvolk ist überall um einen herum, bahnt sich seinen Weg auf Farrädern durch die Trümmerberge oder rennt mit Kannen und Eimern zum Wasserwagen.« Trotz aller Verbrechen in den letzten Jahren läge in den Augen Orwell kein Vorteil darin, »Deutschland in ein agrarisches Elendsgebiet zu verwandeln«. Seine Gedanken liegen eher in der Zukunft – beim Aufbau einer neuen Zukunft – als in der Vergangenheit, um Frage von Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe zu verhandeln. So schrumpft die »monströse Gestalt« einer Nazi-Folterknechtes zu einem »kläglichen Wicht, der offensichtlich weniger eine Bestrafung brauchte als eine psychologische Behandlung«. Auch die Urheber der »ungeheuerlichsten Verbrechen und Katastrophen« wie »Göring, Ribbentropp und den Rest« interessieren Orwell nur peripher: »Die Bestrafung dieser Ungeheuer erscheint, sobald sie möglich ist, nicht mehr attraktiv. Wenn sie einmal hinter Schloss und Riegel sind, hören sie beinahe auf, Ungeheuer zu sein.«
Das Problem dieses kleinen Bandes ist die Dekontextualisierung: Ohne Orwells journalistische Texte in den historischen Zusammenhang – beispielsweise in seinem Engagement für den Krieg, wobei er Pazifisten als Helfershelfer des Faschismus verortete – zu setzen, verlieren sie sich im Ungefähren. Zwar gibt der Band vor, Orwells Reportagen aus den ersten Monaten im Jahre 1945 zu präsentieren, doch da sie nicht über sechzig Druckseiten hinauskommen, liefert der Verlag noch eine zweite Abteilung mit Artikeln aus der Zeit von 1940 bis 1945, in denen Orwell über Thomas Mann schreibt und ihn als Intellektuellen des 19. Jahrhunderts klassifiziert. Das Nachwort des Historikers und ZEIT-Journalisten Volker Ullrich verharrt ebenso im Ungefähren. Anders als die politischen Reportagen Simone Weils und Daniel Guérins aus den Jahren 1932/33, als der Faschismus in Deutschland triumphierte oder John Dos Passos’ Reportagesammlung Das Land des Fragebogens (die 1946 für die Zeitschrift Life produziert wurde und 1996 in einer Übersetzung Michael Kleebergs im Verlag Neue Kritik erschien), bleibt dieser Band ein dürftiger Abklatsch aus der Frühzeit des Kalten Krieges, der weit hinter die Erkenntnisse einer kritischen Forschung (wie sie bereits 1975 in der Orwell-Nummer der Modern Fiction Studies aufbereitet wurden) fallen.
© Jörg Auberg 2022 (2022–03-12)
Philip Oltermann: The Stasi Poetry Circle
Der Club der roten Dichter
Philip Oltermann erzählt die seltsame Geschichte eines Stasi-Poeten-Zirkels
Wie aus grauer Vorzeit wabern diese Worte in die Gegenwart. »In einer Welt«, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1950, »in der die Gedanken mehr als je in Zweckzusammenhänge verflochten sind, genügt es nicht vom Frieden zu reden. Man muß fragen, wer vom Frieden redet, in wessen Auftrag und in welcher Funktion.« In propagandistischen Fantasiegemälden wurde die DDR wurde als Ort der »demokratischen Erneuerung Deutschlands« verherrlicht, als »Literaturgesellschaft«, in der Literatur und Poesie als entscheidende Triebkräfte einer höheren menschlichen Existenzform eingesetzt wurden.
In seinem Buch The Stasi Poetry Circle spürt Philip Oltermann, der Leiter der Berliner Guardian-Büros, einem seltsamen Zirkel von Angehörigen der DDR-Staatssicherheit nach, die ihre Aufgabe der »Landesverteidigung« (was die Abwehr äußerer Feinden als auch die Ausspähung innerer Saboteure der nationalen Ordnung beinhaltete) mit Versuchen in der Poesie zu verbinden suchten. Seit den frühen 1960er Jahren hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit einen erlauchten Kreisen von »schreibenden Tschekisten«, die in ihrer regulären Tagesarbeit mit einer uniformierten, gestanzten Sprache umgingen und in lyrischen Abendstunden sich in der Produktion jambischer Verskunst abmühten. Der Mentor dieses Zirkels war der Lyriker Uwe Berger (1928–2014), der im Hauptberuf als Lektor im Aufbau-Verlag tätig war und von 1970 bis 1989 als »ein einflussreicher Auftragnehmer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Literaturbetrieb der DDR« arbeitete (wie der Wikipedia-Eintrag über ihn resümiert). Während Berger – wie Oltermann schreibt – konkurrierende Autoren gern als verkappte Faschisten denunzierte, betrachtete er sich selbst als »Staatsorgan«: Kritik an ihm bedeutete eine illegitime, wenn nicht gar staatsgefährdende Infragestellung der Existenz der DDR. Als die linksliberale Frankfurter Rundschau eine seiner Lyrik-Anthologie verriss, witterte Berger eine von westlichen Kapitalisten und östlichen Dissidenten angezettelte Verschwörung. Obwohl Berger kein Parteimitglied war, wurde er für seine Leistungen von der Staatssicherheit mit einer silbernen Medaille ausgezeichnet, wofür sich Berger mit dem Hinweis bedankte, er sei ein Partriot ohne Parteizugehörigkeit, stehe aber auf Seiten der Arbeiterklasse und ihrer Partei.
Oltermann bietet das biedere Personal eines Clubs auf, der ohne jegliche Ironie als »Kreisarbeitsgemeinschaft Schreibende Tschekisten« firmierte und das trostlose Abbild einer trostlosen Gesellschaft repräsentierte. Dass die selbstberufenen Poeten in Uniform ihre lyrische Aktivitäten als »subversive Aktion« begriffen und (wie bei William S. Burroughs) »schmutzige Limericks zwischen den Zeilen« hindurch schmuggelten, war von vornherein ausgeschlossen. So überrascht es auch nicht, wenn Oltermann von einem Stasi-Poeten namens Björn Vogel erzählt, der als Einundzwanzigjähriger in die Kohorten des autoritären DDR-Staates eintrat, für US-amerikanische Popmusik von Roy Orbison, Bruce Springsteen und Frank Zappa schwärmte und nach der Implosion der realsozialistischen Trutzburg im Jahre 2017 für die neofaschistische Plattform »Alternative für Deutschland« antisemitische Verschwörungstheorien und Hetztiraden gegen »Massenimmigration« verbreitete. Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie mutmaßte er eine Verschwörung globaler Eliten zur Errichtung einer weltweiten Diktatur.
Realiter bestand die Aufgabe des »Clubs der roten Dichter« nicht darin, ein »textimmanentes«, kritisches Verhältnis zu poetischen Verfahren im Kontext einer kulturellen Moderne aufzubauen, sondern mögliche subversive Strategien aus dem Inneren zu erkennen und (um noch einmal William Burroughs’ »alternative kritische Theorie« zu zitieren) mit Methoden einer autoritaristischen Lobotomie zu eliminieren. Der »Stasi Poetry Circle« diente als Stoßtruppe der Unterwanderung, deren Ziel die Aneignung des feindlichen Arsenals und dessen Zerstörung war. So endete die Utopie einer »Literaturgesellschaft« im Wahn und Mittelmaß eines dürftigen, zur Emanzipation unfähigen Personals.
© Jörg Auberg 2022 (2022–03-22)