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Leonardo Sciascia: Die Affaire Moro

L

Das Italienische Verhängnis

Leonardo Sciascias Reflexionen zur »Affäre« Aldo Moro

 

von Jörg Auberg

 

Aldo Moro im »Volksgefängnis« der Brigate Rosse
Aldo Moro im »Volks­ge­fäng­nis« der Bri­ga­te Rosse

Am Mor­gen des 16. März 1978 lau­er­te in der Via Fani in Rom ein Kom­man­do der »Roten Bri­ga­den« (Bri­ga­te Ros­se, eines Zer­falls­pro­dukts der ita­lie­ni­schen Revol­te der spä­ten 1960er Jah­re) dem christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Aldo Moro auf und ent­führ­te ihn, nach­dem es inner­halb von drei Minu­ten die fünf Beglei­ter sei­ner Eskor­te erschos­sen hat­te. Die fol­gen­den 55 Tage ver­brach­te Moro in einem »Volks­ge­fäng­nis« der Bri­ga­te Ros­se (BR), in dem ihm die selbst­er­mäch­tig­ten Terrorist*innen den Pro­zess mach­ten, ehe sie ihn am 9. Mai 1978 erschos­sen und sei­nen Leich­nam in einem Renault 4 in der Via Caeta­ni in Rom abstell­ten. Wie Adri­an Lyt­tel­ton betont, wur­de die­ser Ort aus sym­bo­li­schen Grün­den aus­ge­wählt: Er lag auf hal­bem Wege zwi­schen den Zen­tra­len der Christ­de­mo­kra­ten und der Kom­mu­nis­ten.1

Der detektivische Leser

Leonardo Sciascia: L'Affaire Moro (Éditions Grasset, 1978)
Leo­nar­do Scia­scia: L’Af­fai­re Moro (Édi­ti­ons Gras­set, 1978)

Während die­ser Gefan­gen­schaft schrieb Moro 80 Brie­fe an sei­ne Fami­lie und eini­ge »Par­tei­freun­de«, auf deren Hil­fe er ver­ge­bens hoff­te. Die­se Brie­fe unter­zog Leo­nar­do Scia­scia, der vor allem als Autor von Kri­mi­nal­ro­ma­nen über das Mafia-Milieu bekannt ist, in sei­nem Buch Die Affai­re Moro (1978) einer detail­lier­ten und prä­zi­sen Lek­tü­re und zeig­te (mit den Wor­ten der Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin Mai­ke Albath) auf, »wie die Christ­de­mo­kra­ten ihren Vor­sit­zen­den, den lang­jäh­ri­gen Minis­ter­prä­si­den­ten und Archi­tek­ten des com­pro­mes­so sto­ri­co im Stich gelas­sen und des­sen Äuße­run­gen miss­ver­stan­den hat­ten«2 Ob sei­ne »Par­tei­freun­de« ihn tat­säch­lich »miss­ver­stan­den« hat­ten, ist eher frag­lich. Für die ita­lie­ni­schen Christ­de­mo­kra­ten war Moro – wie Scia­scia schreibt – »eine Art schmer­zen­der Gal­len­stein« gewor­den, den es »aus einem Orga­nis­mus zu ent­fer­nen galt«3 Scia­scia beleuch­tet den Fall Moro nicht im Sti­le eines spek­ta­kel­haf­ten und spe­ku­la­ti­ven Polit-Thril­lers, son­dern in einem kom­ple­xen, viel­schich­ti­gen und enig­ma­ti­schen Text, der in sei­nem mora­li­schen Impe­tus an Émi­le Zolas klas­si­sches Intel­lek­tu­el­len­pam­phlet J’accuse erin­nert.4 Die Geschich­te Moros in sei­ner letz­ten Lebens­pha­se reflek­tiert Scia­scia durch lite­ra­ri­sche Pris­men (wie Pier Pao­lo Paso­li­ni, Lui­gi Piran­del­lo, Jor­ge Luis Bor­ges und Edgar Allan Poe) und gewinnt auf die­se Wei­se Ein­sich­ten, die ihn in sei­ner Uner­bitt­lich­keit und Unbe­irr­bar­keit gegen die herr­schen­de Mei­nung nahe­zu aller poli­ti­schen Rich­tun­gen bestärken.

Bella Italia in schwarz

In einer Kri­tik von Scia­sci­as Roman Can­di­do oder ein Traum in Sizi­li­en (1977), der das Schei­tern des demo­kra­ti­schen Neu­auf­baus nach der Nie­der­la­ge ver­han­delt, kon­sta­tier­te Gore Vidal, dass es Ita­li­en nach dem Zwei­ten Welt­krieg »mit cha­rak­te­ris­ti­scher Kunst­fer­tig­keit« gelun­gen sei, ein gesell­schaft­li­ches Gemisch aus den am wenigs­ten attrak­ti­ven Aspek­ten des Sozia­lis­mus und prak­tisch allen Las­tern des Kapi­ta­lis­mus her­zu­stel­len. Über die schö­nen Land­stri­che Ita­li­ens wucher­te so eine »rie­si­ge metas­ti­sie­ren­de Büro­kra­tie«, die sich aus den Geschwü­ren der Ver­gan­gen­heit wie der Gegen­wart nähr­te.5 In den Augen des gro­ßen ita­lie­ni­schen Roman­ciers Alber­to Mora­via war es zuvör­derst iro­nisch, dass – mit den Wor­ten des Roma­nis­ten Tho­mas Erling Peter­son – »so vie­le Ita­lie­ner tole­rant gegen­über auto­ri­tä­ren Ideo­lo­gien waren, so dass die Nati­on nach dem Sturz des Faschis­mus bestrebt zu sein schien, dem Regime zu ver­ge­ben und sei­ne Feh­ler zu wie­der­ho­len«.6 Die Ver­harm­lo­sung des faschis­ti­schen Regimes – trotz der Ermor­dung und Ein­ker­ke­rung von poli­ti­schen Gegner*innen, der Zer­schla­gung der Gewerk­schaf­ten, der »Ver­ban­nung« oder domic­i­lio coat­to von Oppo­si­tio­nel­len und Homo­se­xu­el­len auf abge­le­ge­ne Inseln oder die Depor­ta­ti­on von Jüd*innen im Zuge der ita­lie­ni­schen Ras­sen­ge­set­ze nach 1938 – gehör­te zum ideo­lo­gi­schen Inven­tar der ita­lie­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft. »Der ita­lie­ni­sche Faschis­mus«, schrieb Umber­to Eco, »war der ers­te, der sich eine mili­tä­ri­sche Lit­ur­gie, eine Folk­lo­re und sogar eine eige­ne Klei­der­mo­de schuf – womit er im Aus­land mehr Erfolg als Arma­ni, Benet­ton oder Ver­sace haben soll­te.« Er stell­te einen Arche­typ für Nach­ah­mer in Euro­pa und Sym­pa­thi­san­ten selbst in den USA dar, wo der faschis­ti­sche Staat als Erlö­sung in der demo­kra­ti­schen Des­il­lu­si­on erschien und als Gar­ten der Schön­heit, der Tran­szen­denz und des Frie­dens idea­li­siert wur­de.7

Das Land befrei­te sich nach 1945 nie von der Herr­schaft der Rackets, die – mit den Wor­ten Max Hork­hei­mers – mit der »Bru­ta­li­tät der Stär­ke­ren gegen die Schwä­che­ren, als die unbe­schrie­be­ne Gemein­heit des Mobs gegen die Ohn­macht« agier­ten.8 In ihrer Rein­form ope­rier­ten die Rackets unter den Appa­ra­tu­ren und Kos­tü­men der Mafia, deren Prak­ti­ken Scia­scia in sei­nen Kri­mi­nal­ro­ma­nen beschrieb oder auch par­odier­te. In den Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Par­tei­en in den kar­gen ideo­lo­gi­schen Land­schaf­ten sah er ledig­lich eine poli­ti­sche Klas­se am Wer­ke, »wo nur die Macht um der Macht wil­len zähl­te«9 Rackets agier­ten als Platt­for­men der Macht, die über öko­no­mi­sche, tech­no­lo­gi­sche und medi­en­po­li­ti­sche Mecha­nis­men ihre Herr­schaft sicher­ten, wobei die in sich gekap­sel­te Kom­mu­ni­ka­ti­on eine beson­de­re Form der Herr­schafts­si­che­rung spiel­te.10

Pier Paolo Pasoloni vor seinem Alfa Romeo Giulia 2000 GT
Pier Pao­lo Paso­lo­ni vor sei­nem Alfa Romeo Giu­lia 2000 GT

In den 1970er Jah­ren ent­glitt den Platt­for­men in der ita­lie­ni­schen poli­ti­schen Land­schaft zuneh­mend die tech­ni­sche Hand­hab­bar­keit der Macht, wie Pier Pao­lo Paso­li­ni in sei­nen Frei­beu­ter­schrif­ten kon­sta­tier­te. Bei­spiel­haft sei Aldo Moro, schrieb Paso­li­ni, »der gera­de am wenigs­ten in all die abscheu­li­chen Din­ge ver­wi­ckelt sce­int, die von 1969 bis heu­te von denen orga­ni­siert wur­den, die um kei­nen Preis die Macht aus den Hän­den geben wol­len – was ihnen bis­lang auch, for­mal gese­hen, gelun­gen ist.«11 In Paso­li­nis Sicht agier­ten die »christ­de­mo­kra­ti­schen Poten­ta­ten« in einer Lee­re, in einem Vaku­um. »Die rea­le Macht braucht sie nicht mehr, und sie haben nichts mehr in der Hand außer ein paar nutz­lo­sen Appa­ra­ten, die höchs­tens noch ihren trau­ri­gen Zwei­rei­hern Rea­li­tät ver­lei­hen.«12 In der für vie­le ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Sze­na­ri­en emp­fäng­li­chen ita­lie­ni­schen Land­schaft schloss die Erwar­tung für die Zukunft ledig­lich einen Staats­streich und die Restau­ra­ti­on des Faschis­mus ein.

Die Unsichtbarkeit des Offensichtlichen

Im Zuge der zuneh­men­den poli­ti­schen Gewalt wur­de Paso­li­ni, der kurz von sei­nem Tod 1975 noch die »Kri­mi­na­li­tät des Staa­tes«13 anpran­ger­te, als intel­lek­tu­el­ler Urhe­ber des Ter­ro­ris­mus stig­ma­ti­siert. Paso­li­ni habe, hieß es, in sei­nen öffent­li­chen Invek­ti­ven gefor­dert, den füh­ren­den christ­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­kern den »Pro­zess« zu machen – einen Pro­zess, den nun die Mit­glie­der des BR-Ter­ror­kom­man­dos in ihrem »Volks­ge­fäng­nis« in die Tat umsetz­ten. »Abge­se­hen von der rein for­ma­len Tat­sa­che«, insis­tier­te Paso­li­nis Bio­graf Enzo Sici­lia­no, dass »Paso­li­ni von einem ›Pro­zess vor einem ordent­li­chen Gericht‹ gespro­chen hat­te, muß­te man in sei­nen Wor­ten jedoch das Fest­hal­ten an rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en und an sozia­lis­ti­schen Wer­te her­aus­hö­ren […]. Gera­de die ›Ord­nungs­mä­ßig­keit‹ und die Öffent­lich­keit des Gerichts­ver­fah­rens waren für Paso­li­ni schon wegen ihres Sym­bol­ge­halts höchs­te Wer­te.«14

Auch Scia­scia war – ob sei­ner vor­geb­li­chen intel­lek­tu­el­len Käl­te und sei­ner »Wei­ge­rung, sich vor­be­halt­los an die Sei­te des Staa­tes zu stel­len« – star­ken Anfein­dun­gen aus­ge­setzt und des »ver­ba­len Ter­ro­ris­mus« bezich­tigt.15 Wie Poes detek­ti­vi­scher Pri­va­tier Augus­te Dupin agiert Scia­scia mit einer »intel­lek­tu­el­len Arro­ganz« gegen­über den Akteu­ren des Staa­tes, der Medi­en und der ver­meint­li­chen Stadt­gue­ril­la, die für ihn in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen das immer­glei­che auto­ri­tä­re Phä­no­men in der ita­lie­ni­schen Land­schaft reprä­sen­tie­ren. »Scia­scia ist sein eige­ner Dupin«, kon­sta­tiert Joseph Far­rell, »aber sein Ziel ist nicht, den Schul­di­gen zu iden­ti­fi­zie­ren, son­dern ein Ver­ständ­nis für den Zustand eines Men­schen zu gewin­nen, der dem Tod ins Auge blickt, für die Denk­wei­se derer, die mit dem Tod Han­del trei­ben, und die Wer­te jener Mäch­ti­gen, die ihn zulas­sen.«16

Illustration für Edgar Allan Poe Erzählung »der entwendete Brief«
Illus­tra­ti­on zu Edgar Allan Poes Erzäh­lung »Der ent­wen­de­te Brief«

In den Augen Scia­sci­as war Moro – trotz sei­ner lang­jäh­ri­gen par­tei­po­li­ti­schen Kar­rie­re – bis zum Tag sei­ner Ent­füh­rung kei­nes­wegs – wie ihn die öffent­li­che Mei­nung im Nach­hin­ein sti­li­sier­te – ein »gro­ßer Staats­mann« gewe­sen. Selbst im »Volks­ge­fäng­nis« der BR blieb er »ein gewal­ti­ger Strip­pen­zie­her der Poli­tik«, die »Anten­nen immer auf Emp­fang, scharf­sin­nig, berech­nend«17 Aus der Sicht Scia­sci­as war Moro weder ein »gro­ßer Staats­mann« noch ein »Held«, der sich für den ita­lie­ni­schen Staat im Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus opfern woll­te. Die Brie­fe, die sei­ne Ent­füh­rer aus dem Ker­ker des »Volks­ge­fäng­nis­ses« nach drau­ßen lie­ßen, waren »in der Spra­che der Nicht­kom­mu­ni­ka­ti­on« abge­fasst, die sich im schein­bar aus­drucks­lo­sen Argot der Rackets an den »Boss der Scher­gen« Fran­ces­co Cos­si­ga (sei­nes Zei­chens Innen­mi­nis­ter in der aktu­el­len ita­lie­ni­schen Regie­rung) rich­te­ten. Wie Poes Dupin ent­deckt Scia­scia in den Brie­fen Moros ein »Über­maß an Offen­sicht­li­chem«, etwa die Anwei­sung für das stra­te­gi­sche Hin­hal­ten der Ent­füh­rer in Ver­hand­lun­gen, um die Zeit zu nut­zen, den Ent­führ­ten aus dem Ker­ker zu befrei­en.18 Doch wie schon bei Poe ist der dumpf agie­ren­de Poli­zei­ap­pa­rat nicht in der Lage den »ver­steck­ten Gegen­stand« (in die­sem Fall ein Ent­füh­rungs­op­fer) zu ent­de­cken. Die Intel­li­genz der poli­zei­li­chen Agen­tu­ren konn­te sich auf die »Geris­sen­heit« der Straf­tä­ter nicht ein­stel­len: »Ihre Unter­su­chungs­me­tho­den«, heißt es bei Poe, »ken­nen kei­ne Fle­xi­bi­li­tät.«19

Triumph des Mobs

»Ich bin ein poli­ti­scher Gefan­ge­ner«, heißt es in einem Brief Moros an den christ­de­mo­kra­ti­schen Funk­tio­när Benig­no Zac­ca­gni­ni, »den eure brüs­ke Ent­schei­dung, euch jeg­li­cher Dis­kus­si­on über ande­re gleich­falls gefan­ge­ne Per­so­nen zu ver­schlie­ßen, in eine unhalt­ba­re Situa­ti­on gebracht hat. Die Zeit eilt dahin und ist lei­der knapp. Jeden Moment könn­te es zu spät sein.«20 Nach der Inter­pre­ta­ti­on Scia­sci­as befand sich Moro in der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen zwei »Sta­li­nis­men«: den des ita­lie­ni­schen Staa­tes, den sich das Racket der Demo­cra­zia Cris­tia­na (DC) als Beu­te­stück unter den Nagel geris­sen hat­te, und dem der BR, die sich »in ihrer Mona­de ideo­lo­gisch-recht­spre­chen­den Wahn­sinns«21 ver­kap­selt hat­ten und allen ideo­lo­gi­schen Eska­mo­tie­run­gen zum Trotz nicht mehr als Tech­ni­ker einer abs­trak­ten Macht ope­rier­ten, die ledig­lich das Nega­tiv der »mili­tä­risch-büro­kra­ti­schen Staats­ma­schi­ne«22 reprä­sen­tier­ten, das sie zu atta­ckie­ren vor­ga­ben. Moro »beginnt«, heißt es bei Scia­scia, »sich à la Piran­del­lo von Form zu lösen, da er sich nun auf tra­gi­sche Wei­se ins Leben ein­ge­las­sen hat.« 23 Von der öffent­li­chen Per­sön­lich­keit wan­delt er sich zum »allein­ge­las­se­nen Men­schen«, zur »Krea­tur«, die sich nach sei­ner »Ver­wand­lung« dage­gen sträubt, von den herr­schen­den »Sta­li­nis­men« zer­quetscht zu wer­den, als wäre sie am Ende »ganz und gar kre­piert«24.

Wie ande­re Ter­ro­ris­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen der Zeit agie­ren die roten Bri­ga­den (mit den Wor­ten des Sozi­al­wis­sen­schaft­lers Peter Brück­ner) »im Gefan­ge­nen­la­ger des Extrems«25 und beflei­ßig­ten sich eines »Faschis­mus der Anti­fa­schis­ten«26 (um einen Aus­druck Paso­li­nis zu bemü­hen). Scia­scia betont jedoch den expli­zit ita­lie­ni­schen Cha­rak­ter der roten Bri­ga­den: »Die Bri­ga­te ros­se funk­tio­nie­ren per­fekt: Aber (und das Aber braucht es hier) sie sind ita­lie­nisch. Sie sind ›cosa nos­t­ra‹, unse­re Sache, wie sehr sie auch mit revo­lu­tio­nä­ren Sek­ten oder Geheim­diens­ten ande­rer Staa­ten ver­zahnt sein mögen.«27

Leonardo SciasciaVor­ge­wor­fen wird Scia­scia, dass er Moro (oder des­sen Figur in einer poli­ti­schen Tra­gö­die) als Opfer eines dia­bo­li­schen Macht­kar­tells mit mafiö­sen Struk­tu­ren sti­li­sie­re, wobei er mit sim­pli­fi­zie­ren­den Über­tra­gun­gen aus sei­nen sizi­lia­ni­schen Kri­mi­nal­ro­ma­nen die Mög­lich­keit von Dif­fe­ren­zie­run­gen unter­lau­fe. »Scia­scia ist nicht ein­mal im Ansatz in der Lage«, urteilt die Roma­nis­tin Hele­ne Harth, »die – wie immer auch spä­ter durch tat­säch­li­che Aktio­nen per­ver­tier­ten – Zie­le des lin­ken Ter­ro­ris­mus als von ihrer Inten­ti­on her revo­lu­tio­nä­re Zie­le zu begrei­fen. Für ihn sind viel­mehr die Bri­ga­te Ros­se iden­tisch mit der Mafia und die­nen mit sta­li­nis­ti­schen Metho­den der Zemen­tie­rung eines tod­brin­gen­den Macht­blocks.«28

Wor­in die »revo­lu­tio­nä­ren Zie­le« der BR bestehen soll­ten, ver­mag Harth nicht dar­zu­le­gen. Wie bereits die lin­ke Publi­zis­tin Rossa­na Ross­an­da insis­tier­te, befan­den sich die roten Bri­ga­den mit ihren bru­ta­len Tak­ti­ken und ihrem sta­li­nis­ti­schen Jar­gon im Wider­spruch zu den meis­ten Strö­mun­gen der zeit­ge­nös­si­schen Lin­ken in Ita­li­en, doch gehör­ten sie auch zum »Fami­li­en­al­bum«, zu einer Geschich­te, die nie ver­ging.29 Scia­sci­as Buch lässt einen auf­ge­wühl­ten, wenn nicht beun­ru­hig­ten Leser zurück. Mit den Wor­ten Jor­ge Luis Bor­ges’: »Der beun­ru­hig­te Leser sieht sich noch ein­mal in den ent­spre­chen­den Kapi­teln um und ent­deckt eine ande­re Lösung, die ech­te.«30 Die Beun­ru­hi­gung hält bis zum Moment an, da das euro­päi­sche Pro­jekt – einst untrenn­bar ver­bun­den mit der Befrei­ung vom Faschis­mus und der Über­win­dung eng­stir­ni­ger Natio­na­lis­men – mit einem ita­lie­ni­schen Zom­bie-Faschis­mus kon­fron­tiert ist, der den Kon­ti­nent zurück in die vor­de­mo­kra­ti­sche, auto­ri­tä­re Dun­kel­heit einer längst über­wun­den geglaub­ten Ver­gan­gen­heit zu kata­pul­tie­ren droht.31 Dass in den Mas­sen tat­säch­lich die Demo­kra­tie »ein ver­dräng­tes, unter­ir­di­sches Dasein führt«32, wie Hork­hei­mer in den 1940er Jah­ren mut­maß­te, ist ange­sichts der aktu­ell herr­schen­den Zustän­de ver­mut­lich eher ein Wunschtraum.

© Jörg Auberg 2024

Bibliografische Angaben:

Leo­nar­do Sciascia.
Die Affai­re Moro. Ein Roman.
Mit einem Nach­wort von Fabio Stassi.
Über­setzt von Moni­ka Lustig.
Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023.
240 Sei­ten, 24 Euro.
ISBN: 978–3‑949558–18‑4.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Foto Aldo Moro Quel­le: Auf­nah­me eines BR-Mit­glie­des, Public domain, via Wiki­me­dia Commons
Cover L’Af­fai­re Moro
© Édi­ti­ons Grasset
Cover Die Affai­re Moro
© Edi­ti­on Converso
Foto Pier Pao­lo Pasolini
Quel­le: clubalfa.it
Illus­tra­ti­on zu Der ent­wen­de­te Brief
Quel­le: Fré­dé­ric Théo­do­re Lix, Public domain, via Wiki­me­dia Commons
Foto Leo­nar­do Sciascia
Quel­le: Dop­pio­ze­ro

Nachweise

  1. Adri­an Lyt­tel­ton, »Mur­der in Rome«, New York Review of Books, 34, Nr. 11 (25. Juni 1987), https://www.nybooks.com/articles/1987/06/25/murder-in-rome/
  2. Mai­ke Albath, »Klar­heit, Ver­nunft und Häre­sie«, in: Leo­nar­do Scia­scia, Ein Sizi­lia­ner von fes­ten Prin­zi­pi­en (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2021), S. 158
  3. Leo­nar­do Scia­scia, Die Affai­re Moro. Ein Roman, übers. Moni­ka Lus­tig (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2023), S. 63
  4. Joseph Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter (Flo­renz: Leo S. Olsch­ki Edi­to­re, 2022), S. 198
  5. Gore Vidal, »On the Assassin’s Trail«, New York Review of Books, 26, Nr. 16 (25. Okto­ber 1979), https://www.nybooks.com/articles/1979/10/25/on-the-assassins-trail/
  6. Tho­mas Erling Peter­son, Ein­lei­tung zu: Alber­to Mora­via, Two Fri­ends (New York: Other Press, 2011), S. xvii
  7. Umber­to Eco, Der ewi­ge Faschis­mus, übers. Burk­hart Kroeber (Mün­chen: Han­ser, 2020), S. 23, 27–28; Ian Kers­haw, To Hell and Back: Euro­pe 1914–1949 (Lon­don: Allen Lane, 2015), S. 228–232, 274–282; Nun­zio Per­ni­co­ne und Fraser M. Otta­nel­li, Ass­as­sins Against the Old Order: Iali­an Anar­chist Vio­lence in Fin de Siè­cle Euro­pe (Cham­paign, IL: Uni­ver­si­ty of Illi­nois Press, 2018); Alan John­s­ton, »A Gay Island Com­mu­ni­ty Crea­ted by Italy’s Fascists«, BBC, 13. Juni 2013, https://www.bbc.com/news/magazine-22856586; Katy Hull, The Maschi­ne Has a Soul: Ame­ri­can Sym­pa­thy with Ita­li­an Fascism (Prince­ton, NJ: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2021), S. 65–83, 116–149
  8. Max Hork­hei­mer, »Die Rackets und der Geist«, in: Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, hg. Gun­ze­lin Schmid-Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 291
  9. Leo­nar­do Scia­scia, Das Gesetz des Schwei­gens: Sizi­lia­ni­sche Roma­ne, übers. Hele­ne Moser et al. (Wien: Zsol­nay, 2018), S. 368
  10. Cf. Ulri­ke Klin­ger et al., Plat­forms, Power, and Poli­tics: An Intro­duc­tion to Poli­ti­cal Com­mu­ni­ca­ti­on in the Digi­tal Age (Lon­don: Poli­ty Press, 2024), S. 32–49
  11. Pier Pao­lo Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten: Die Zer­stö­rung der Kul­tur des Ein­zel­nen durch die Kon­sum­ge­sell­schaft, übers. Tho­mas Eisen­hart (Ber­lin: Wagen­bach, 2011), S. 110
  12. Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 110
  13. Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 117
  14. Enzo Sici­lia­no, Paso­li­ni: Leben und Werk, übers. Chris­tel Gal­lia­ni (Wein­heim: Beltz, 1994), S. 530Fn76
  15. Albath, »Klar­heit, Ver­nunft und Häre­sie«, S. 159
  16. Far­rell, Leo­nar­do Scia­scia: The Man and the Wri­ter, S. 199
  17. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 31
  18. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 37, 45, 53
  19. Edgar Allan Poe, »Der ent­wen­de­te Brief«, übers. Andre­as Nohl, in: Poe, Unheim­li­che Geschich­ten, hg. Charles Bau­de­lai­re (Mün­chen: dtv, 2018), S. 72
  20. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 60
  21. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 103
  22. Lyt­tel­ton, »Mur­der in Rome«
  23. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 75; zu Scia­sci­as Inter­pre­ta­ti­on von Piran­del­lo und Sizi­li­en als poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Meta­pher cf. Leo­anrdo Scia­scia, Piran­del­lo et la Sici­le, übers. Jean-Noël Schi­fa­no (Paris: Édi­ti­ons Gras­set, 1980)
  24. Franz Kaf­ka, Die Ver­wand­lung (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 2024), S. 83
  25. Peter Brück­ner, Über die Gewalt: Sechs Auf­sät­ze zur Rol­le der Gewalt in der Ent­ste­hung und Zer­stö­rung sozia­ler Sys­te­me (Ber­lin: Wagen­bach, 1979), S. 90
  26. Paso­li­ni, Frei­beu­ter­schrif­ten, S. 62
  27. Scia­scia, Die Affai­re Moro, S. 137
  28. Hele­ne Harth, »Macht und Gewalt im poli­ti­schen Ima­gi­nä­ren eines Sizi­lia­ners: Leo­nar­do Scia­scia und die Moro-Affä­re«, in: Gewalt der Geschich­te – Geschich­ten der Gewalt: Zur Kul­tur und Lite­ra­tur Ita­li­ens von 1945 bis heu­te, hg. Peter Brock­mei­er und Caro­lin Fischer (Stutt­gart: M & P Ver­lag für Wis­sen­schaft und For­schung, 1998), S. 163
  29. David Bro­der, Mussolini’s Grand­child­ren: Fascism in Con­tem­po­ra­ry Ita­ly (Lon­don: Plu­to Press, 2023), S. 11
  30. Jor­ge Luis Bor­ges, Uni­ver­sal­ge­schich­te der Nie­der­tracht – Fik­tio­nen – Das Aleph, übers. Gis­bert Haefs et al. (Mün­chen: Han­ser, 2000), S. 146
  31. David Bro­der, »Gior­gia Meloni’s Euro­pe«, Dis­sent, 71, Nr. 2 (Früh­jahr 2024):25–26
  32. Hork­hei­mer, »Die Rackets und der Geist«, S. 291

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Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher