Spuren in den Ruinen
Über Umwege erreicht der verkannte Autor Sigismund Krzyżanowski die deutschsprachigen Landschaften.
Von Jörg Auberg
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]»In der Wüste zu schreien ist zwecklos und zu spät für denjenigen, der sich verirrt hat und zugrunde geht. Wenn er aber — wider alle bessere Einsicht — doch schreien sollte, dann sicherlich so.«1
Sigismund Krzyżanowski
Das russische Volk hat sich mit der Freiheit vermählt«, wusste Maxim Gorki in seinem »Brief an den Leser« aus dem Mai 1917 zu berichten. »Laßt uns glauben, daß aus diesem Bund in unserem physisch und geistig gequälten Land neue starke Menschen hervorgehen werden.«2 Als er fünfzehn Jahre später eine Reihe von Erzählungen des polnisch-russischen Autors Sigismund Krzyżanowski begutachtete, fühlte er sich jedoch bemüßigt, die russischen Leser vor einer Lektüre dieser Texte zu schützen. Sie seien »zu intellektuell« und nutzlos für die gegenwärtigen Aufgaben der Arbeiterklasse, lautete sein Urteil.3 So trug Gorki mit dazu bei, dass der Emigrant aus Ukraine, der 1922 aus Kiew nach Moskau übergesiedelt war und in der sowjetischen Hauptstadt eine prekäre Existenz als Lehrer, Korrektor, Übersetzer und vorzeitiger »Underground-Autor« führte, zeit seines Lebens nie ein Buch veröffentlichen konnte.
Obgleich Krzyżanowski 1939 in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen wurde, produzierte er ausschließlich für die Schublade und erwarb sich lediglich mit Privatlesungen seiner Texte den Ruf eines außergewöhnlichen Autors in Moskauer Theaterkreisen. »Er war sich seines Wertes als Schriftsteller bewußt«4, schrieb Wadim Perelmuter, der nach der Implosion der Sowjetunion Krzyżanowskis Texte in einer sechsbändigen Werkausgabe herausbrachte, doch blieb Krzyżanowski zu Lebzeiten die Anerkennung in Form von Veröffentlichungen versagt. Im Jahre 1949 ereilte ihn ein Schlaganfall, dessen Folgeerscheinung eine Leseunfähigkeit war: Zwar konnte Krzyżanowski immer noch schreiben, doch vermochte er nicht mehr zu lesen, was er geschrieben hatte. Schreiben war seine Gewohnheit und seine Berufung, doch den Kampf mit den Wörtern und gegen die Wörter, die sich in ein Buch pressten, verlor er. Als er im Dezember 1950 in Moskau starb, wurde er als Verkannter verscharrt.
Moscow Blues
Nach seiner Übersiedlung nach Moskau lebte Krzyżanowski in einem Zimmer, das gerade einmal sechs Quadratmeter maß und in dem sich »ein Holzbett mit Roßhaarmatratze, ein einfacher Schreibtisch mit zwei Schubkästen, ein harter Stuhl und Bücherbord an der Wand«5 befanden. Obgleich er als zeitweiliger Angestellter der kulturellen Apparate eine unscheinbare Existenz führte, glich er doch mehr dem, was der US-amerikanische Schriftsteller Isaac Rosenfeld in den 1940er Jahren als »moralischen Untergrundling« in der Tradition des Untergrundmenschen Dostojewskis beschrieb. In ihm artikulierte sich ein »kann nicht anders«, wie Rosenfeld in einem »Journal of a Generation« 1943 schrieb.6 Rosenfelds Modernität bestand – wie Mark Shechner beobachtete – im Ekel vor der Modernität und in seiner Weigerung, mit ihr zu kollaborieren.7 Ähnlich verhielt es sich mit Krzyżanowski, dem als schreibenden Untergrundling der Ruf eines »überragenden Phänomens unserer Gegenwart«8 (als den ihn der Dichter Mark Tarlowski charakterisierte) in Moskau anhing. Während die Sowjetunion vielen westeuropäischen Intellektuellen als die Realisierung einer sozialistischen Utopie und Inbegriff einer neuen Humanität erschien, blieb Krzyżanowski von Beginn an ein Fremder in der Stadt, als hätte er sich existenziell für ein selbstgewähltes Exil auf Lebenszeit entschieden.
In den ersten Tagen seines Aufenthaltes in Moskau wähnte er sich in einem »chaotischen Wirbel von Worten«9 gefangen, einem außer Rand und Band geratenen Alphabet, das ihn von Plakaten, Postern und Bannern in einen Strudel zog, großen Buchstaben in schwarz, rot und blau, die vor seinen Augen stolzierten und tänzelten. Moskau befand sich – wie Walter Benjamin nach einem Aufenthalt im Winter 1926–27 schrieb – ein permanenter menschlicher Versuchsraum. »Jeder Gedanke, jeder Tag und jedes Leben liegt hier wie auf dem Tisch eines Laboratoriums«, beobachtete der kritische Besucher Benjamin. »Und als wäre es ein Metall, welchem man einen unbekannten Stoff mit allen Mitteln abgewinnen will, muß er bis zur Erschöpfung mit sich experimentieren lassen. Kein Organismus, keine Organisation kann sich diesem Vorgang entziehen.«10 Obwohl Issac Deutscher in seiner klassischen Trotzki-Biographie The Prophet die Jahre 1926 bis 1927 als entscheidenden Wettbewerb um die Macht im sowjetischen Staat zwischen Trotzki und Stalin beschrieb11, war für Benjamin die Opposition bereits abgeschafft. Der »freie Handel und die freie Intelligenz« waren in seinen Augen ebenso liquidiert wie das Privatleben, sodass die Erledigung selbst von privaten Angelegenheiten nur im Büro oder im Klub geschehen kann. »Die neuen Russen nennen das Milieu den einzig zuverlässigen Erzieher«12, resümierte Benjamin.
Als sich Krzyżanowski für ein Leben in Moskau entschied, trieb ihn kein revolutionärer Impetus an. »Die Revolution ist eine Beschleunigung von Fakten, mit denen der Gedanke nicht Schritt halten kann«13, schrieb er, und in der Literatur sah er einen Kampf zwischen den Herren und den Hütern der Gedanken14. Der Untergrundling schrieb ohne Unterlass, doch gingen die verlorenen Kämpfe mit den ideologischen Torhütern der staatlichen Literatur nicht spurlos an ihm vorüber. »Die Hoffnungslosigkeit der Fehlschläge brachten ihn zuweilen zur Verzweiflung«, schrieb Perelmuter. »Im allgemeinen kam er selten ohne Alkohol aus, außer in Perioden angespannter Arbeit […].«15 Letztlich bestätigte er immer aufs Neue seine Existenz im Exil, die ihn am Ende schließlich – in Form einer Alexie16 – selbst aus den eigenen Texten vertrieb. »Am Ende ist es dem Schriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnen gestattet«17, resümierte Theodor W. Adorno die Existenz im beschädigten Leben, das für Krzyżanowski ruinös war.
Der Club der Buchstabenmörder
Trotz allem war die Existenz im Untergrund keineswegs nichtig. Neben dem großen Konvolut von Erzählungen, das Krzyżanowski gewissermaßen als Flaschenpost im Schlick der Zeit für die Nachgeborenen hinterließ, reflektierte die Novelle Der Club der Buchstabenmörder (die in den Jahren zwischen 1925 und 1927 entstand) die Existenz eines in Selbstisolation gefangenen Schriftstellers, der zwar gegen die zunehmend totalitäre Gesellschaft in der Sowjetunion opponierte, letztlich aber niemals den Schritt zur offenen Dissidenz gegen die Herrschaft des Konformismus wagte. Schließlich operierte der in prekärer Lage lebende Autor, dem von den bürokratischen Apparaten des Regimes die Möglichkeiten der Publikation verwehrt blieben, nach der Direktive des duck & cover. Zwar nahm man ihn nach seiner »Entdeckung« in den 1990er Jahren als einen literarischen Kritiker der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion in Beschlag, doch ist Krzyżanowski realiter zu keiner Zeit in Konfrontation mit dem Herrschaftsapparat getreten, auch nicht in jenem Moment, als der Apparat 1928 eine Publikation seiner Novelle verweigerte.
Obwohl Krzyżanowski nicht durch offene Opposition gegen die Herrschaft auffiel, artikulierte er in seiner Novelle allein durch die Form eine Widerständigkeit gegen die offizielle Politik des »sozialistischen Realismus«. Ausgangspunkt für die Erzählung ist ein biografischer Hintergrund des Autors: Krzyżanowski sah sich gezwungen, seine Bücher zu verkaufen, um eine Reise nach Kiew zum Begräbnis seiner Mutter zu finanzieren. Aus dieser Leere der Bücherregale entwickelt sich die Idee eines Clubs von Konvertiten, welche bruchlos die Bibliophilie mit der Bücherphobie austauschen und als »Bruderschaft« sich dem Verbot der Schriftlichkeit unterwerfen. Aus dem ehemaligen religiösen Verhältnis zu Büchern, denen wie Ikonen gehuldigt wurde, tritt nun eine Idolisierung der »Buchstabenlosigkeit« der »Auserwählten«, die sich als unterirdische Elite gerieren und die Verschrobenheit als das »einzige Vorrecht halbverhungerter Dichter«18 für sich in Anspruch nehmen. Wie in einer Sekte müssen sich die Angehörigen als Auserwählte ihrer alten Identität entschlagen und ihre Namen gegen nichtssagende Silben wie Tyd, Ses, Hiz, Hok oder Rar eintauschen, da »Schriftstellernamen« an diesem Ort nichts verloren haben.
Im »Club der Buchstabenmörder« ist jedes Mitglied aufgefordert, gegen die Herrschaft der Schrift- und Buchkultur seinen Beitrag in Form einer improvisierten Erzählung abzuliefern. Die Beiträge der Clubmitglieder kreisen so um verschiedene Metafiktionen, welche die Ebenen von Autor, Rolle und Text ineinander verschränken und auf diese Weise das herkömmliche Verständnis der Realität hinterfragen. Die verschiedenen Erzählungen sind historisch durchdrungene Dekonstruktionen von Shakespeares Drama »Hamlet«, einer mittelalterlichen Eselsmesse, der Figur eines Goliards (Vaganten), der in seiner Person die Rollen des Gauklers und des Mönches verbindet sowie einer negativen Utopie von Maschinenmenschen (die als Exen bezeichnet werden), die über einen Zentralcomputer gesteuert werden und zombiegleich durch die Straßen wandeln.
Am Ende wird der Tod des Erzählers exemplarisch mit dem Freitod eines Clubmitglieds vollzogen. Auch der überlebende Ich-Erzähler kommt zu der schlussendlichen Einsicht, dass nicht er die Wörter beherrscht, sondern sie ihn. »Wörter sind böse und zählebig –,« schließt er, und jeder, der sich an ihn vergreift, wird von ihnen getötet, als dass er sie tötet.«19 Erinnern schon die erzählerischen Improvisationen der Clubmitglieder an die späteren dekonstruktiven »Routines« von William Burroughs in Interzone und Naked Lunch, erscheint das Ringen mit den Wörtern, die als Monstren in die Welt gekommen sind, als eine Vorwegnahme der apokalyptischen Kampfes mit den Wörtern und gegen die Wörter, den Burroughs bis zum vorgeblichen Idealzustandes des Schweigens in den 1960er Jahren führte. »Geneigter Leser, DAS WORT wird dich anspringen ein Leopardenmensch mit Eisenklauen« heißt es im »Atrophierten Nachwort« zu Naked Lunch, »es wird dir Finger und Zehen abkneifen wie ein opportunistischer Taschenkrebs …«20
Auch Burroughs reflektiert auf einer metafiktionalen Ebene die Rolle des Schriftstellers, der sich stets am Rande des Scheiterns bewegt. »Meine Schriftstellerei, die so unerwartet begonnen hat, stirbt, kaum, dass sie geboren ist«, heißt es bei Krzyżanowski. »Ohne Auferstehung.«21 In Joanne Turnbulls englischer Übersetzung (die 2012 unter dem Titel The Letter Killers Club bei New York Review Books erschien) wird der Ausdruck »Meine Schriftstellerei« treffender als »My writing life« wiedergegeben, da damit die Umschlossenheit von Leben und Schreiben, die Krzyżanowskis Existenz bestimmte, exakt beschrieb, während der Terminus »Schriftstellerei« eher eine Art Lohnschreiberei assoziiert, die den Charakter der literarischen Produktion Krzyżanowskis nicht adäquat trifft.22 Es wäre zu wünschen, dass die Werke dieses »Underground-Autors«, die schon seit den frühen 1990er Jahren im französischen Verlag Éditions Verdiers erscheinen, auch im deutschsprachigen Raum einen engagierten Verlag fänden, der sich über die Novitätenentdeckung hinaus für den Autor Krzyżanowski engagierte.
Bibliografische Angaben:
Sigismund Krzyżanowski.
Der Club der Buchstabenmörder.
Übersetzt von Dorothea Trottenberg.
Mit einem Nachwort von Thomas Grob.
Zürich: Dörlemann Verlag, 2015.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN: 9783038200192.
Weiterführende Literatur:
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Porträt Sigismund Krzyżanowski — Wikimedia
Moskau in den 1920er Jahren — Wikimedia
Cover Der Club der Buchstabenmörder — © Dörlemann Verlag
Cover Lebenslauf eines Gedankens — © Gustav Kiepenheuer Verlag
Cover Memories of the Future — © NYRB Classics
Cover The Letter Killers Club — © NYRB Classics
Cover Autobiography of a Corpse — © NYRB Classics
Cover The Return of Munchausen — © NYRB Classics
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Eine kürzere Version erschien unter dem Titel »Ein Leichentuch aus Wörtern« in literaturkritik.de, Nr. 1 (Januar 2016);
überarbeitet März 2019
© Jörg Auberg 2016, 2019
- Sigismund Krzyżanowski, »Quadrierfix« (1926), in: Krzyżanowski, Lebenslauf eines Gedankens. Erzählungen, hg. Wadim Perelmuter, übers. Hannelore Umbreit (Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1991), S. 19 ↑
- Maxim Gorki, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, hg. und übers. Bernd Scholz (Frankfurt/Main: Insel, 1972), S. 7 ↑
- Caryl Emerson, Einleitung zu: Sigismund Krzyżanowski, The Letter Killers Club (New York: New York Review Books, 2012), S. x‑xi ↑
- Wadim Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, in: Krzyżanowski, Lebenslauf eines Gedankens, S. 408 ↑
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 391–392 ↑
- Isaac Rosenfeld, An Age of Enormity: Life and Writing in the Forties and Fifties, hg. Theodore Solotaroff (Cleveland: World Publishing Company, 1962), S. 47 ↑
- Mark Shechner, After the Revolution: Studies in the Contemporary Jewish American Imagination (Bloomington: Indiana University Press, 1987), S. 118 ↑
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 382 ↑
- Sigismund Krzyżanowski, »Postmark: Moscow«, in: Krzyżanowski, Autobiography of a Corpse, übers. Joanne Turnbull (New York: New York Review Books, 2013), S. 174 ↑
- Walter Benjamin, »Denkbilder«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV‑1, hg. Tillmann Rexroth (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991) S. 325 ↑
- Isaac Deutscher, The Prophet: The Life of Leon Trotsky (London: Verso, 2015), S. 821–946 ↑
- Benjamin, »Denkbilder«, S. 328 ↑
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 387 ↑
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 396 ↑
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 399 ↑
- cf. Oliver Sacks, The Mind’s Eye, Kapitel »A Man of Letters« (London: Picador, 2010) Kindle-Ausgabe ↑
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 109 ↑
- Krzyżanowski, Der Club der Buchstabenmörder, übers. Dorothea Trottenberg (Zürich: Dörlemann, 2015), S. 13 ↑
- Krzyżanowski. Der Club der Buchstabenmörder, S. 206 ↑
- William S. Burroughs, »Naked Lunch«, in: William S. Burroughs I, hg. und übers. Carl Weissner (Frankfurt/Main: Zweitausendeins, 1978), S. 532 ↑
- Krzyżanowski. Der Club der Buchstabenmörder, S. 206 ↑
- Krzyżanowski, The Letter Killers Club, S. 111 ↑