Der Verlorene
Guy de Maupassant und die Tortur der Seele
von Jörg Auberg
In Raymond Jeans Roman La Lectrice (1986, dt. Die Vorleserin) versucht die arbeitslose Ex-Studentin Marie-Constance1, mit der Gründung einer Ich-AG als Vorleserin in einer französischen Kleinstadt sich zu etablieren. Ihr ehemaliger Professor Roland empfiehlt ihr für ihr »Metier« die Verwendung der Novellen Guy de Maupassants.
Der erste Kunde der Vorleserin ist der jugendliche Eric, der während der ersten Maupassant-Lektüre das Bewusstsein verliert und ins Krankenhaus transportiert werden muss, wo die Vorleserin mit den Vorwürfen eines anderen Professors konfrontiert wird: »Maupassant, sagt er, Maupassant … Wissen Sie, woran der gestorben ist? Aids! Na schön, zu seiner Zeit sprach man von Gehirnentzündung – das ist genau das, was Sie fast bei dem Jungen ausgelöst hätten. Finden Sie nicht, daß er schon genug leidet?« 4 Trotz allem hat er Verlangen nach einer Fortsetzung: »Er liebt ja die Lektüre so sehr!«5
Im Labyrinth der Empfindungen und Erschütterung
Auch in dem von dem renommierten Übersetzer Andreas Nohl im Rahmen der Reihe »Steidl Nocturnes« herausgegebenen Band Clair de Lune ist die Erzählung Die Hand aufgenommen, deren narrative Philosophie als Ingenium des erzählerischen Projekts Maupassants begriffen werden kann, das der Autor als Erbe seines Mentors Gustave Flaubert übernommen hatte. In seinem knappen, konzisen Nachwort führt Nohl aus:
Der sachliche Blick des Schriftstellers, der sich nicht zum Innenleben seines Personals äußert, soll die emotionale Wucht des Erzählten kommentarlos und uneingeschränkt dem Text zukommen lassen und damit die Wirkung um eine ganze Dimension erhöhen […]. Die scheinbare ›Kälte‹ des Erzählers soll […] die Leser umso tiefer in das Labyrinth der Empfindungen und der Erschütterung locken.6 |
Der Band mit dem Untertitel »Unheimliche Novellen« versammelt neun Erzählungen Maupassant aus den Jahren von 1885 bis 1890, in der sich – im Gegensatz zur Fortschrittsbegeisterung der Belle Époque – Maupassants Wahrnehmung der Verschränkung von Industrialismus, wissenschaftlicher Rationalität und imperialer Politik zunehmend pessimistischer wurde, wobei auch familiäre Entwicklungen wie der geistige Verfall seiner Mutter und seines Bruders Hervé und eigene gesundheitliche Probleme (die unter anderem auf eine syphilitische Infektion zurückgingen) eine Rolle spielten. In der Tradition von Edgar Allan Poe und den »Erzählungen des Grauens und des Selbstverlusts«7 steht die Novelle Der Horla (zunächst 1886 in der Feuilleton-Zeitschrift Gil Blas erschienen und ein Jahr später in einer überarbeiteten Fassung in einer Buchausgabe publiziert), in der ein namenloser Erzähler aus Rouen in der französischen Provinz der Normandie in Form eines Tagebuches seine psychische Verschlechterung protokolliert. »Ich bin wirklich krank«, heißt es in einem frühen Tagebucheintrag, der an das einführende Selbstbekenntnis von Dostojewskis Untergrundmenschen erinnert, obgleich Maupassants Kranker keineswegs kein frustrierter Zyniker ist, sondern anfangs zufrieden mit sich und der Welt in einem großbürgerlichen Haus mit Garten wohnt, in dem ihn das Unheil zu überfallen scheint.8 Die physische Krankheit, die sich nach außen hin als Fieber materialisiert, dringt als fiebrige Erschöpfung ins Innere der Psyche.
Zur Erholung unternimmt der Erzähler eine Reise nach Mont-Saint-Michel, wo er einen Mönch trifft, der ihm in einer Unterhaltung das Wesen des unsichtbaren »Unfassbaren« vor Augen führt: Der »Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gesehen und können Sie ihn sehen? Und trotzdem ist er doch da.«9 Nach seiner Rückkehr liegt der Erzähler angsterfüllt in seinem Bett und spürt, wie die Krankheit zurückkehrt, »wie jemand auf mir saß, seinen Mund auf meinen gepresst, und zwischen den Lippen das Leben aus mir heraussog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blutegel. Danach stand er gesättigt auf, und ich erwachte, so zerschunden, zerschlagen, vernichtet, dass ich mich nicht mehr rühren konnte.«10
Immer mehr verliert sich der Erzähler in der Gewalt des »Horla« (des »Hors-la«, »der da draußen«), der ihn in den Wahnsinn treibt. »Ich bin verloren«, gesteht er sich ein. »Jemand hat von meiner Seele Besitz ergriffen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich tue, alle meine Bewegungen, alle meine Gedanken, ich gehöre mir nicht mehr, ich bin nur ein gesselter Zuschauer und sehe alles alles, was ich tue, mit Entsetzen an.«11 Weder Gitter noch eiserne Jalousien können den Horla draußen halten, sodass als einzige Möglichkeit bleibt, das geliebte Haus in Flammen aufgehen zu lassen, um den Horla zu vertreiben. Doch selbst diese Maßnahme ist zum Scheitern verurteilt, da der Horla von der menschlichen Seele Besitz ergriffen hat. Der letzte Ausweg, den Horla zu besiegen, ist einzig die eigene Auslöschung – der Suizid.
Vom Horla zum Terror
Im Nachwort zur neuen Reclam-Ausgabe der Novelle interpretiert der Übersetzer Ernst Sander (1898–1976) die Erzählung im Kontext von Maupassants familiärer und persönlicher Krankheitsgeschichte. Äußerlich erschien Maupassant als der erfolgreiche, produktive Autor, der auf eine Schreibleistung von sechs Romanen und fast dreihundert Erzählungen zurückblicken konnte, ehe (mit den Worten Julian Barnes’) »die Syphilis seinen Geist umnachtete«12. »In Wirklichkeit aber war Maupassant«, schreibt Sander, »ein Kranker, der den Gesunden spielte, und sein sinnenfreudiges Werk auf einem Grund von Körperqual, Unlust, Müdigkeit, Unglauben und Angstzuständen gediehen, zu denen sich Abnahme der Sehkraft, qualvolle Migräne und schließlich Wahnvorstellungen gesellten. Aber diese machte er seinem Werk dienstbar: So entstand eine seiner mächtigsten Novellen, Le Horla […].«13.
Die aufwändige Reclam-Ausgabe der Horla-Novelle ist mit Fantasy-inspirierten Illustrationen des italienischen Zwillingspaars Anna und Elena Balbusso bestückt, welche die bürgerlichen »Horrorgeschichte« mit einem farbig-grellen, sensationsheischenden Comic-Surrealismus übertünchen, unter dem das Grauen der Erzählung Maupassants verschwindet. Dem Charakter der Novelle kommen eher die Holzschnitte Frans Masereels nahe, wie die alte Ausgabe bei Rütten & Loening unter Beweis stellt.14
In der kulturindustriellen Praxis geriet der Horla schon Anfang der 1960er Jahre zum farbigen Gräuelmärchen als Vehikel für den Horrorspezialisten Vincent Price, der in Roger Cormans B‑Film-Fabrik vor allem in Edgar-Allan-Poe-Verschnitten reüssierte. Der Film Diary of a Madman (1963; dt. Tagebuch eines Mörders) verhackstückte Maupassants Novelle zu einem typischen Horrorfilm minderer Güte, wobei die gängigen Ingredienzien jener Zeit verrührt wurden. Der Horla ist ein Mabuse-ähnlicher Dämon, der sein Opfer in Besitz nimmt und zum Mord treibt. Das Unheil offenbart sich in grün leuchtenden Augen, wobei der Horla nicht mehr als eine erstarrte, von Stereotypen der Industrie gezeichnete Maske ist. Vom Horla, den Maupassants Erzähler nach seiner Selbstzerstörung als neues Wesen, als neuen Herren beschreit, bleibt in der industriellen Zurichtung nur eine Fratze des Immergleichen.
© Jörg Auberg 2024
Bibliografische Angaben:
Guy de Maupassant.
Claire de Lune.
Unheimliche Novellen (Steidl Nocturnes).
Übersetzt von Charlotte Braun-Wogan u. a.
Herausgegeben von Andreas Nohl.
Göttingen: Steidl Verlag, 2023.
128 Seiten, 18 Euro.
ISBN: 978–3‑86841–255‑0.
Guy de Maupassant.
Der Horla.
Übersetzt mit einem Nachwort von Ernst Sander.
Illustriert von Anna und Elena Balbusso.
Ditzingen: Reclam, 2023.
80 Seiten, 22 Euro.
ISBN: 978–3‑15–011456‑8.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Claire de Lune |
© Steidl Verlag |
Cover Der Horla |
© Reclam Verlag |
Szenenfoto La Lectrice |
Archiv des Autors |
Cover Gil Blas |
Archiv des Autors |
Holzstich Frans Masareel: Der Horla |
© Rütten & Loening/Aufbau Verlag |
Trailer Diary of a Madman |
Archiv des Autors |
Nachweise
- Der Name der Protagonistin des Romans spielt auf Marie-Constance Quesnet an, die letzte Gefährtin des Marquis de Sade, die im Testament des Marquis für ihre Treue und Hingabe belohnt werden sollte. Cf. Raymond Jean, Ein Portrait des Marquis de Sade, übers. Nicolaus Bornhorn (München: Schneekluth, 1990), S. 6–7 ↩
- Raymond Jean, Die Vorleserin, übers. Erika Tophoven (München: Heyne, 1997), S. 13 ↩
- Jean, Die Vorleserin, S. 16 ↩
- Jean, Die Vorleserin, S. 42 ↩
- Jean, Die Vorleserin, S. 43 ↩
- Andreas Nohl, Nachwort zu: Guy de Maupassant, Clair de Lune (Göttingen: Steidl, 2023), S. 117 ↩
- Nohl, Nachwort zu: Guy de Maupassant, Clair de Lune, S. 120 ↩
- Maupassant, Clair de Lune, S. 34; Fjodor M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, übers. Ursula Keller (München: Manesse, 2021), S. 9 ↩
- Maupassant, Clair de Lune, S. 39 ↩
- Maupassant, Clair de Lune, S. 40 ↩
- Maupassant, Clair de Lune, S. 54 ↩
- Julian Barnes, Nachwort (übersetzt von Gertraude Krueger) zu: Guy de Maupassant, Auf See (Hamburg: mareverlag, 2012), S. 195 ↩
- Ernst Sander, Nachwort zu: Der Horla (Ditzingen: Reclam, 2023), S. 76–77 ↩
- Guy de Maupassant, Der Horla: Zehn Novellen, übers. Christel Gersch (Berlin/DDR: Rütten & Loening, 1989 ↩