Texte und Zeichen

Guy de Maupassant: Claire de Lune

G

Der Verlorene

Guy de Mau­pas­sant und die Tor­tur der Seele

von Jörg Auberg

In Ray­mond Jeans Roman La Lec­tri­ce (1986, dt. Die Vor­le­se­rin) ver­sucht die arbeits­lo­se Ex-Stu­den­tin Marie-Con­s­tance1, mit der Grün­dung einer Ich-AG als Vor­le­se­rin in einer fran­zö­si­schen Klein­stadt sich zu eta­blie­ren. Ihr ehe­ma­li­ger Pro­fes­sor Roland emp­fiehlt ihr für ihr »Metier« die Ver­wen­dung der Novel­len Guy de Maupassants.

War­um nicht Mau­pas­sant? Es gibt nichts Bes­se­res als Mau­pas­sant, das kannst du mir glau­ben, Marie-Con­s­tance, für jedes Alter, jeden Geschmack, für Leu­te jeden Stan­des, jedes Lan­des … Mau­pas­sant ist für das, was du vor­hast, genau das Rich­ti­ge. Komm denen nur ja nicht mit hoch­ge­sto­che­nen, anspruchs­vol­len Sachen …2
Als Bei­spiel nennt Roland Mau­pas­sants »Greu­el­mär­chen« Die Hand: »Das wirkt garan­tiert!« Ruft er aus. »Die bekann­te Masche, mei­net­we­gen, ein­fa­che Effek­te, etwas dick auf­ge­tra­gen … aber das kommt an. So einen Text mußt du neh­men, wenn du dir ein Publi­kum schaf­fen willst, einen guten fran­zö­si­schen Autor mit siche­rem Stel­len­wert, einen, der wuß­te, wie man Span­nung schafft und thril­ling … da geht jeder mit …«3
Marie-Constance liest Maupassant in La Lectrice (Szenenfoto mit Miou-Miou)
Marie-Con­s­tance liest Mau­pas­sant in La Lec­tri­ce (Sze­nen­fo­to mit Miou-Miou)

Der ers­te Kun­de der Vor­le­se­rin ist der jugend­li­che Eric, der wäh­rend der ers­ten Mau­pas­sant-Lek­tü­re das Bewusst­sein ver­liert und ins Kran­ken­haus trans­por­tiert wer­den muss, wo die Vor­le­se­rin mit den Vor­wür­fen eines ande­ren Pro­fes­sors kon­fron­tiert wird: »Mau­pas­sant, sagt er, Mau­pas­sant … Wis­sen Sie, wor­an der gestor­ben ist? Aids! Na schön, zu sei­ner Zeit sprach man von Gehirn­ent­zün­dung – das ist genau das, was Sie fast bei dem Jun­gen aus­ge­löst hät­ten. Fin­den Sie nicht, daß er schon genug lei­det?« 4 Trotz allem hat er Ver­lan­gen nach einer Fort­set­zung: »Er liebt ja die Lek­tü­re so sehr!«5

 

Im Labyrinth der Empfindungen und Erschütterung

Auch in dem von dem renom­mier­ten Über­set­zer Andre­as Nohl im Rah­men der Rei­he »Steidl Noc­turnes« her­aus­ge­ge­be­nen Band Clair de Lune ist die Erzäh­lung Die Hand auf­ge­nom­men, deren nar­ra­ti­ve Phi­lo­so­phie als Inge­ni­um des erzäh­le­ri­schen Pro­jekts Mau­pas­sants begrif­fen wer­den kann, das der Autor als Erbe sei­nes Men­tors Gust­ave Flau­bert über­nom­men hat­te. In sei­nem knap­pen, kon­zi­sen Nach­wort führt Nohl aus:

Der sach­li­che Blick des Schrift­stel­lers, der sich nicht zum Innen­le­ben sei­nes Per­so­nals äußert, soll die emo­tio­na­le Wucht des Erzähl­ten kom­men­tar­los und unein­ge­schränkt dem Text zukom­men las­sen und damit die Wir­kung um eine gan­ze Dimen­si­on erhö­hen […]. Die schein­ba­re ›Käl­te‹ des Erzäh­lers soll […] die Leser umso tie­fer in das Laby­rinth der Emp­fin­dun­gen und der Erschüt­te­rung locken.6
Guy de Maupassant: Le Horla (Erstveröffentlichung in Gil Blas 1886)
Guy de Mau­pas­sant: Le Hor­la (Erst­ver­öf­fent­li­chung in Gil Blas 1886)

Der Band mit dem Unter­ti­tel »Unheim­li­che Novel­len« ver­sam­melt neun Erzäh­lun­gen Mau­pas­sant aus den Jah­ren von 1885 bis 1890, in der sich – im Gegen­satz zur Fort­schritts­be­geis­te­rung der Bel­le Épo­que – Mau­pas­sants Wahr­neh­mung der Ver­schrän­kung von Indus­tria­lis­mus, wis­sen­schaft­li­cher Ratio­na­li­tät und impe­ria­ler Poli­tik zuneh­mend pes­si­mis­ti­scher wur­de, wobei auch fami­liä­re Ent­wick­lun­gen wie der geis­ti­ge Ver­fall sei­ner Mut­ter und sei­nes Bru­ders Her­vé und eige­ne gesund­heit­li­che Pro­ble­me (die unter ande­rem auf eine syphi­li­ti­sche Infek­ti­on zurück­gin­gen) eine Rol­le spiel­ten. In der Tra­di­ti­on von Edgar Allan Poe und den »Erzäh­lun­gen des Grau­ens und des Selbst­ver­lusts«7 steht die Novel­le Der Hor­la (zunächst 1886 in der Feuil­le­ton-Zeit­schrift Gil Blas erschie­nen und ein Jahr spä­ter in einer über­ar­bei­te­ten Fas­sung in einer Buch­aus­ga­be publi­ziert), in der ein namen­lo­ser Erzäh­ler aus Rouen in der fran­zö­si­schen Pro­vinz der Nor­man­die in Form eines Tage­bu­ches sei­ne psy­chi­sche Ver­schlech­te­rung pro­to­kol­liert. »Ich bin wirk­lich krank«, heißt es in einem frü­hen Tage­buch­ein­trag, der an das ein­füh­ren­de Selbst­be­kennt­nis von Dos­to­jew­skis Unter­grund­men­schen erin­nert, obgleich Mau­pas­sants Kran­ker kei­nes­wegs kein frus­trier­ter Zyni­ker ist, son­dern anfangs zufrie­den mit sich und der Welt in einem groß­bür­ger­li­chen Haus mit Gar­ten wohnt, in dem ihn das Unheil zu über­fal­len scheint.8 Die phy­si­sche Krank­heit, die sich nach außen hin als Fie­ber mate­ria­li­siert, dringt als fieb­ri­ge Erschöp­fung ins Inne­re der Psyche.

Guy de Maupassant: Der Horla (Reclam, 2023)
Guy de Mau­pas­sant: Der Hor­la (Reclam, 2023)

Zur Erho­lung unter­nimmt der Erzäh­ler eine Rei­se nach Mont-Saint-Michel, wo er einen Mönch trifft, der ihm in einer Unter­hal­tung das Wesen des unsicht­ba­ren »Unfass­ba­ren« vor Augen führt: Der »Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gese­hen und kön­nen Sie ihn sehen? Und trotz­dem ist er doch da.«9 Nach sei­ner Rück­kehr liegt der Erzäh­ler angst­er­füllt in sei­nem Bett und spürt, wie die Krank­heit zurück­kehrt, »wie jemand auf mir saß, sei­nen Mund auf mei­nen gepresst, und zwi­schen den Lip­pen das Leben aus mir her­aus­sog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blut­egel. Danach stand er gesät­tigt auf, und ich erwach­te, so zer­schun­den, zer­schla­gen, ver­nich­tet, dass ich mich nicht mehr rüh­ren konn­te.«10

Immer mehr ver­liert sich der Erzäh­ler in der Gewalt des »Hor­la« (des »Hors-la«, »der da drau­ßen«), der ihn in den Wahn­sinn treibt. »Ich bin ver­lo­ren«, gesteht er sich ein. »Jemand hat von mei­ner See­le Besitz ergrif­fen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich tue, alle mei­ne Bewe­gun­gen, alle mei­ne Gedan­ken, ich gehö­re mir nicht mehr, ich bin nur ein ges­sel­ter Zuschau­er und sehe alles alles, was ich tue, mit Ent­set­zen an.«11 Weder Git­ter noch eiser­ne Jalou­sien kön­nen den Hor­la drau­ßen hal­ten, sodass als ein­zi­ge Mög­lich­keit bleibt, das gelieb­te Haus in Flam­men auf­ge­hen zu las­sen, um den Hor­la zu ver­trei­ben. Doch selbst die­se Maß­nah­me ist zum Schei­tern ver­ur­teilt, da der Hor­la von der mensch­li­chen See­le Besitz ergrif­fen hat. Der letz­te Aus­weg, den Hor­la zu besie­gen, ist ein­zig die eige­ne Aus­lö­schung – der Suizid.

Vom Horla zum Terror

Frans Mase­re­el: Holz­stich zu Guy de Mau­pas­sant, Der Hor­la

Im Nach­wort zur neu­en Reclam-Aus­ga­be der Novel­le inter­pre­tiert der Über­set­zer Ernst San­der (1898–1976) die Erzäh­lung im Kon­text von Mau­pas­sants fami­liä­rer und per­sön­li­cher Krank­heits­ge­schich­te. Äußer­lich erschien Mau­pas­sant als der erfolg­rei­che, pro­duk­ti­ve Autor, der auf eine Schreib­leis­tung von sechs Roma­nen und fast drei­hun­dert Erzäh­lun­gen zurück­bli­cken konn­te, ehe (mit den Wor­ten Juli­an Bar­nes’) »die Syphi­lis sei­nen Geist umnach­te­te«12. »In Wirk­lich­keit aber war Mau­pas­sant«, schreibt San­der, »ein Kran­ker, der den Gesun­den spiel­te, und sein sin­nen­freu­di­ges Werk auf einem Grund von Kör­per­qual, Unlust, Müdig­keit, Unglau­ben und Angst­zu­stän­den gedie­hen, zu denen sich Abnah­me der Seh­kraft, qual­vol­le Migrä­ne und schließ­lich Wahn­vor­stel­lun­gen gesell­ten. Aber die­se mach­te er sei­nem Werk dienst­bar: So ent­stand eine sei­ner mäch­tigs­ten Novel­len, Le Hor­la […].«13.

Die auf­wän­di­ge Reclam-Aus­ga­be der Hor­la-Novel­le ist mit Fan­ta­sy-inspi­rier­ten Illus­tra­tio­nen des ita­lie­ni­schen Zwil­lings­paars Anna und Ele­na Bal­bus­so bestückt, wel­che die bür­ger­li­chen »Hor­ror­ge­schich­te« mit einem far­big-grel­len, sen­sa­ti­ons­hei­schen­den Comic-Sur­rea­lis­mus über­tün­chen, unter dem das Grau­en der Erzäh­lung Mau­pas­sants ver­schwin­det. Dem Cha­rak­ter der Novel­le kom­men eher die Holz­schnit­te Frans Mase­re­els nahe, wie die alte Aus­ga­be bei Rüt­ten & Loe­ning unter Beweis stellt.14

In der kul­tur­in­dus­tri­el­len Pra­xis geriet der Hor­la schon Anfang der 1960er Jah­re zum far­bi­gen Gräu­el­mär­chen als Vehi­kel für den Hor­ror­spe­zia­lis­ten Vin­cent Pri­ce, der in Roger Corm­ans B‑Film-Fabrik vor allem in Edgar-Allan-Poe-Ver­schnit­ten reüs­sier­te. Der Film Dia­ry of a Mad­man (1963; dt. Tage­buch eines Mör­ders) ver­hack­stück­te Mau­pas­sants Novel­le zu einem typi­schen Hor­ror­film min­de­rer Güte, wobei die gän­gi­gen Ingre­di­en­zi­en jener Zeit ver­rührt wur­den. Der Hor­la ist ein Mabu­se-ähn­li­cher Dämon, der sein Opfer in Besitz nimmt und zum Mord treibt. Das Unheil offen­bart sich in grün leuch­ten­den Augen, wobei der Hor­la nicht mehr als eine erstarr­te, von Ste­reo­ty­pen der Indus­trie gezeich­ne­te Mas­ke ist. Vom Hor­la, den Mau­pas­sants Erzäh­ler nach sei­ner Selbst­zer­stö­rung als neu­es Wesen, als neu­en Her­ren beschreit, bleibt in der indus­tri­el­len Zurich­tung nur eine Frat­ze des Immergleichen.

© Jörg Auberg 2024

 

Bibliografische Angaben:

Guy de Maupassant.
Clai­re de Lune.
Unheim­li­che Novel­len (Steidl Noc­turnes).
Über­setzt von Char­lot­te Braun-Wogan u. a.
Her­aus­ge­ge­ben von Andre­as Nohl.
Göt­tin­gen: Steidl Ver­lag, 2023.
128 Sei­ten, 18 Euro.
ISBN: 978–3‑86841–255‑0.

Guy de Maupassant.
Der Hor­la.
Über­setzt mit einem Nach­wort von Ernst Sander.
Illus­triert von Anna und Ele­na Balbusso.
Dit­zin­gen: Reclam, 2023.
80 Sei­ten, 22 Euro.
ISBN: 978–3‑15–011456‑8.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Clai­re de Lune
© Steidl Verlag
Cover Der Hor­la
© Reclam Verlag
Sze­nen­fo­to La Lec­tri­ce
Archiv des Autors
Cover Gil Blas
Archiv des Autors
Holz­stich Frans Mas­are­el: Der Hor­la
© Rüt­ten & Loening/Aufbau Verlag
Trai­ler Dia­ry of a Madman
Archiv des Autors

Nachweise

  1. Der Name der Prot­ago­nis­tin des Romans spielt auf Marie-Con­s­tance Ques­net an, die letz­te Gefähr­tin des Mar­quis de Sade, die im Tes­ta­ment des Mar­quis für ihre Treue und Hin­ga­be belohnt wer­den soll­te. Cf. Ray­mond Jean, Ein Por­trait des Mar­quis de Sade, übers. Nico­laus Born­horn (Mün­chen: Schnee­kluth, 1990), S. 6–7
  2. Ray­mond Jean, Die Vor­le­se­rin, übers. Eri­ka Topho­ven (Mün­chen: Hey­ne, 1997), S. 13
  3. Jean, Die Vor­le­se­rin, S. 16
  4. Jean, Die Vor­le­se­rin, S. 42
  5. Jean, Die Vor­le­se­rin, S. 43
  6. Andre­as Nohl, Nach­wort zu: Guy de Mau­pas­sant, Clair de Lune (Göt­tin­gen: Steidl, 2023), S. 117
  7. Nohl, Nach­wort zu: Guy de Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 120
  8. Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 34; Fjo­dor M. Dos­to­jew­ski, Auf­zeich­nun­gen aus dem Unter­grund, übers. Ursu­la Kel­ler (Mün­chen: Manes­se, 2021), S. 9
  9. Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 39
  10. Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 40
  11. Mau­pas­sant, Clair de Lune, S. 54
  12. Juli­an Bar­nes, Nach­wort (über­setzt von Ger­trau­de Krue­ger) zu: Guy de Mau­pas­sant, Auf See (Ham­burg: mare­ver­lag, 2012), S. 195
  13. Ernst San­der, Nach­wort zu: Der Hor­la (Dit­zin­gen: Reclam, 2023), S. 76–77
  14. Guy de Mau­pas­sant, Der Hor­la: Zehn Novel­len, übers. Chris­tel Gersch (Berlin/DDR: Rüt­ten & Loe­ning, 1989

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Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher