Erinnerung und Befreiung
Mordecai Richlers autobiografische Erzählungen über St. Urbain
von Jörg Auberg
Das Montrealer Viertel um die St. Urbain Street war – dem kanadischen Filmregisseur Ted Kotcheff zufolge – für Mordecai Richler das, was für William Faulkner Yoknapatawpha war: seine Domäne der Erinnerung und literarischen Fiktion.1 Hatte er sich in seinem Debütroman The Acrobats (1954; dt. Die Akrobaten) noch an einem hemingwayesken antifaschistischen Expatriate-Stil orientiert und ausgerechnet in Deutschland den größten Erfolg gefeiert, begann er mit seinem zweiten Roman Son of a Smaller Hero (1955; Sohn eines kleineren Helden) seine Zeit in der »tiefsten Provinz« (wie W. H. Auden die kanadischen dominions charakterisierte) in St. Urbain literarisch aufzuarbeiten.2 Seinen literarischen Durchbruch feierte Richler jedoch erst mit dem Roman The Apprenticeship of Duddy Kravitz (1959; dt. Die Lehrjahre des Duddy Kravitz), der seinen Ruhm als einer markantesten Stimme der kanadischen Belletristik begründete, doch auch bei manchen Lesern negative Reaktionen ob der vorgeblichen Verwendung jüdischer Stereotypen hervorrief, was Richler jedoch vehement bestritt.3
Ehe er sein Projekt »Duddy Two«, seinen Roman St. Urbain’s Horseman (1971; dt. Der Traum des Jakob Hersch) nach einer Schreibblockade in den späten 1960er Jahren abschloss4, veröffentlichte er 1969 den schmalen Erzählband The Street mit fiktionalen und autobiografischen Texten über die St. Urbain Street, die er zuvor in Zeitschriften wie New Statesman, Commentary, Kenyon Review, London Magazine, Canadian Literature und Maclean’s veröffentlicht hatte. In einem Nachwort zu einer späteren Ausgabe konstatierte Richlers Freund William Weintraub (1926–2017), ein Journalist und Filmemacher für das kanadische National Film Board, dass der Band – trotz der bekannteren Romane von Duddy Kravitz bis – »sehr hoch« in der Rangliste von Richlers besten Werken stehe.5 The Street bedeutete für Richler den Abschied von Europa (er hatte lange Jahre in Paris und London gelebt und Drehbücher für die englische Fernsehindustrie geschrieben) und die Rückkehr nach Montreal, das er anders vorfand, als er es in seinen Erinnerungen festgehalten hatte. »Possibly, the problem is«, schrieb er im Vorwort zu The Street, »I was raised to manhood in a hairier, more earthy Montreal […].«6. Bei seiner Rückkehr war St. Urbain nicht länger ein »jüdisches Getto«, sondern eine »griechische Domäne«. 7
Einer der beeindruckendsten Texte des Bandes ist zweifelsohne die Erzählung »Der Sommer, in dem meine Großmutter hätte sterben sollen«, in der der jugendliche Erzähler vom bevorstehenden Tod seiner Großmutter berichtet. Bei einer ärztlichen Untersuchung wird ein Wundbrand entdeckt, und die medizinische Schlussfolgerung lautet, dass die Großmutter den kommenden Monat nicht überleben werde. Der diagnostizierte Tod ereignete sich erst Jahre später. »Doch je länger sich ihre Krankheit hinzog«, berichtet der Erzähler, »desto mehr wurde Großmutter zu einem festen Bestandteil unseres Alltags wie der undichte Eisschrank […].«8 In der harschen satirischen Beschreibung der jüdischen Familienverhältnisse wird die Verantwortung für die Pflege der Großmutter auf die Mutter des jungen Erzählers abgewälzt, während der Rest der Familie sich damit begnügt, ab und zu Geld für die Ausgaben zu schicken. Nach sieben harten Jahren stirbt sie. In seiner Biografie hob Reinhold Kramer Richlers »brutale Ehrlichkeit über menschliche Motive« hervor, die nicht überall Beifall hervorrief.9
In anderen Erzählungen nimmt Richler zwar auch das jüdische Milieu von St. Urbain aufs Korn, beschreibt aber auch die Entfremdung zwischen der ersten und zweiten Generation der jüdischen Immigranten: Die integrierten Nachkommen der jüdischen Immigranten streben nach sozialem Aufstieg in der kanadischen Gesellschaft und schämen sich für den »peinlichen Akzent« ihrer Eltern. »Der Krieg in Europa veränderte die jüdische Gemeinschaft in Montreal beträchtlich«10, heißt es in einer Erzählung: Assimilation und Verlust der alten Immigrationswelt waren der Preis für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg. In der Kurzgeschichte über den Möchtegern-Autor Mervyn Kaplansky, die Richler 1961 schrieb, reflektierte Richler die eigenen Auseinandersetzungen mit seinem Vater und dessen Vorstellungen von Erfolg: Ob einer »Schmarotzer« oder »Dichter« war, bemaß sich in den Augen des »Alten« ausschließlich am Profit. 11 Aus der Enge des »Gettos« bietet nur das Schreiben den Ausweg. »Meine Kameraden brachten eine kleine Zeitschrift heraus«, heißt es am Ende der letzten Erzählung. »Ich hatte mein erstes Gedicht geschrieben.« 12
Im Gegensatz zu den Übersetzungen von Silvia Morawetz, die für die Neuübersetzung vieler Richler-Romane im Liebeskind-Verlag in den zurückliegenden Jahren verantwortlich war, trifft Gottfried Röckelein mit seiner Übertragung selten den »Richler-Sound«: Die Einleitung »Going Home Again« übersetzt er etwas simpel mit »Die Heimkehr«, einen »middle-class stranger« mit einem »gutbürgerlichen Auswärtigen« und das »working-class ghetto« mit »Unterschichtsgetto«. Der Titel »Some Grist for Mervyn’s Mill« wird als »Mervyn Kaplansky, Autor und Allesververwerter« übertragen. So ist dieser Ausgabe die Edition der New Canadian Library vorzuziehen, die darüber hinaus den Vorteil des kenntnisreichen Nachworts William Weintraubs besitzt.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Mordecai Richler.
Eine Straße in Montreal.
Übersetzt von Gottfried Röckelein.
Cadolzburg: ars vivendi, 2021.
190 Seiten, 20 Euro.
ISBN: 978–3‑7472–0320‑0.
Bildquellen (Copyrights) |
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Foto Montréal 1928, Rue Saint-Urbain | Philippe Du Berger: FLICKR via Canadian Jewish News |
Cover The Street | © McClelland & Stewart |
Cover Eine Straße in Montreal | © ars vivendi |
Cover The Last Honest Man |
© McClelland & Stewart |
Foto Bücher von Mordecai Richler | Archiv des Autors |
Nachweise
- Ted Kotcheff, Nachwort zu: Mordecai Richler, The Acrobats (Toronto: McClelland & Stewart/New Canadian Library, 2002), S. 219 ↩
- Reinhold Kramer, Mordecai Richler: Leaving St. Urbain (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2008), S. 9 ↩
- Autoreninterview in: Mordecai Richler, The Apprenticeship of Duddy Kravitz (New York: Washington Square Press, 1999), S. 380 ↩
- Michael Posner, Mordecai Richler: The Last Honest Man (Toronto: McClelland & Stewart, 2005), S. 166 ↩
- William Weintraub, Nachwort zu: Mordecai Richler, The Street (Toronto: McClelland & Stewart, 2002), S. 137 ↩
- Richler, The Street, S. 7; Hervorhebung hinzugefügt ↩
- Richler, The Street, S. 9 ↩
- Mordecai Richler, Eine Straße in Montreal, übers. Gottfried Röckelein (Cadolzburg: ars vivendi, 2021), S. 57 ↩
- Kramer, Mordecai Richler: Leaving St. Urbain, S. 22 ↩
- Richler, Eine Straße in Montreal, S. 91 ↩
- Kramer, Mordecai Richler: Leaving St. Urbain, S. 56–57 ↩
- Richler, Eine Straße in Montreal, S. 190 ↩