Texte und Zeichen

William S. Burroughs — Retaking the Universe

W

Dead Man Talking

William S. Burroughs’ Rückkehr in die akademische Zone

Von Jörg Auberg

William Burroughs: The Naked Lunch (Olympia Press, 1959)
Wil­liam Bur­roughs: The Naked Lunch (Olym­pia Press, 1959)

Bereits Jah­re bevor Wil­liam S. Bur­roughs (1914–1997) mit Naked Lunch mit einem Pau­ken­schlag auf der lite­ra­ri­schen Büh­ne erschien, war er eine pro­mi­nen­te Figur im lite­ra­ri­schen Betrieb. Jack Kerouac ver­ewig­te ihn als »Old Bull Lee« in sei­nem Roman On the Road (1957), wäh­rend Allen Gins­berg in sei­nem Gedicht Howl (1956) das Werk als end­lo­sen Roman ankün­dig­te, der jeden dem Wahn­sinn über­ant­wor­ten wer­de. Als der »Roman« 1959 erschien, fühl­ten sich pro­fes­sio­nel­le Lite­ra­tur­kri­ti­ker bemü­ßigt, ihrem Ekel Aus­druck zu ver­lei­hen. »Glug, glug. It tas­tes dis­gus­ting«, schrieb ein anony­mer Kri­ti­ker im Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment, wäh­rend Lady Edith Sit­well sich ange­wi­dert mit dem Hin­weis abwand­te, dass sie nicht den Rest ihres Lebens damit zuzu­brin­gen geden­ke, mit der Nase an die Klo­bril­len ande­rer Leu­te gena­gelt zu sein. Obwohl Bur­roughs bis zuletzt das Eti­kett des dro­gen­süch­ti­gen, homo­se­xu­el­len Skan­dal­au­tors anhaf­te­te, erlang­te er in den sech­zi­ger Jah­ren eine Repu­ta­ti­on als einer wich­tigs­ten Ver­tre­ter der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur, was sich auch in der kri­ti­schen Aner­ken­nung renom­mier­ter Lite­ra­tur­kri­ti­ker wie Eric Mot­tram und Tony Tan­ner niederschlug.


Das Altern der Avantgarde

Howard Brookner: Burroughs - The Movie
Howard Brook­ner: Bur­roughs — The Movie

In den fol­gen­den Jah­ren stieß der ehe­mals ver­fem­te auteur mau­dit ins lite­ra­ri­sche Estab­lish­ment vor und wur­de mit Fil­men, Plat­ten, Lesun­gen und zahl­lo­sen Inter­views (die sowohl in seriö­sen Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten wie auch in schwu­len Under­ground-Maga­zi­nen erschie­nen) zum Enter­tai­ner im Betrieb. In der Lang­zeit­be­ob­ach­tung Bur­roughs (1983) des 1989 an AIDS gestor­be­nen Doku­men­tar­fil­me­ma­chers Howard Brook­ner wird nicht nur der Lebens­weg Bur­roughs‘ aus einer begü­ter­ten bür­ger­li­chen Fami­lie im ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­wes­ten in die Abgrün­de der Dro­gen­sucht und künst­le­ri­schen Avant­gar­de reka­pi­tu­liert, son­dern führt auch das »Altern der Avant­gar­de« und ihre bruch­lo­se Inte­gra­ti­on ins Bestehen­de vor Augen. In den acht­zi­ger Jah­ren, als es kein Wag­nis mehr für die aka­de­mi­sche Kar­rie­re war, für Bur­roughs ein­zu­tre­ten, rot­te­ten sich Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler zu aka­de­mi­schen Fan-Phatrien zusam­men, die Bur­roughs eher ido­li­sier­ten denn kri­tisch ana­ly­sier­ten, wobei eini­ge selt­sa­me intel­lek­tu­el­le Haken­schlä­ge not­wen­dig waren, um Bur­roughs für das eige­ne Fort­kom­men in den jewei­li­gen Racket-Hier­ar­chien zu ver­ein­nah­men. So attes­tier­te die femi­nis­ti­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Robin Lyden­berg dem als Miso­gyn aus­ge­wie­se­nen Autor eine anti-patri­ar­cha­le Per­spek­ti­ve im Sin­ne der Theo­re­ti­ke­rin Julia Kris­t­e­va. In Denun­zia­ti­on »kon­ven­tio­nel­ler, huma­nis­ti­scher Metho­den« in lite­ra­ri­scher Kri­tik und Ana­ly­se fie­ber­te Lyden­berg der von Bur­roughs anvi­sier­ten Explo­si­on »aller Kör­per und Tex­te« ent­ge­gen. Schließ­lich ver­wisch­te die ohne­hin schma­le Gren­ze zwi­schen Kul­tur­wis­sen­schaft und Kul­tur­in­dus­trie, als Pro­fes­so­rin Lyden­berg unter dem Deck­man­tel der Lite­ra­tur­kri­tik die Wer­be­trom­mel für Bur­roughs‘ letz­ten Roman The Wes­tern Lands (1987) rühr­te. Damit inte­grier­te sie sich ins umgrei­fen­de Geschäft, das sei­ne Abneh­mer – wie Lothar Bai­er sei­ner­zeit schrieb – »mit dem Ver­spre­chen sub­ver­si­ver Frei­heit und radi­ka­len Aben­teu­ers in Fan-Clubs« orga­ni­siert, wel­che die Objek­te ihrer Ido­la­trie dann für intel­lek­tu­el­le Rand­grup­pen halten.

Language is a virus

Nach sei­nem Tod schien Bur­roughs auf unab­seh­ba­re Zeit aus der aka­de­mi­schen Zone ver­schwun­den zu sein, doch nun erlebt er mit einem inter­es­san­ten Essay­band jün­ge­rer Aka­de­mi­ker, Autoren und Künst­ler unter dem Titel Ret­a­king the Uni­ver­se: Wil­liam S. Bur­roughs in the Age of Glo­ba­liza­ti­on neue Auf­merk­sam­keit, wobei die Qua­li­tät der ein­zel­nen Bei­trä­ge recht unter­schied­lich ist. Obwohl der Unter­ti­tel insi­nu­iert, das Werk Bur­roughs‘ sei unter dem Zei­chen der Glo­ba­li­sie­rung neu zu inter­pre­tier­ten, för­dern nur weni­ge Essays neue Erkennt­nis­se zutage. 

Burroughs BooksObgleich die Welt seit den sech­zi­ger Jah­ren, in denen Bur­roughs mit sei­nen expe­ri­men­tel­len Tex­ten – vor allem mit der Tri­lo­gie The Soft Machi­ne (1961), The Ticket That Explo­ded (1962; rev. 1967) und Nova Express (1964) – reüs­sier­te, sich wei­ter­ent­wi­ckel­te, hat sich nichts Gra­vie­ren­des an den Herr­schafts- und Macht­ver­hält­nis­sen ver­än­dert, die Bur­roughs mit sei­nem lite­ra­ri­schen Werk atta­ckier­te. Auch wenn häu­fig auf den »Dro­gen­schrift­stel­ler« redu­ziert, war »Junk« für ihn ledig­lich eine Meta­pher für die ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen von Abhän­gig­keit – wie Herr­schaft, Kon­trol­le, Büro­kra­tie, Spra­che und Kom­mu­ni­ka­ti­on, Sex und Lie­be. In den Augen Bur­roughs‘ setz­te sich die Gesell­schaft aus­nahms­los aus Süch­ti­gen zusam­men, und der ein­zi­ge Aus­weg, aus dem Gefäng­nis der vor­ge­präg­ten mensch­li­chen Exis­tenz zu ent­kom­men, war die Flucht in den schwe­re­lo­se Raum, wo das Indi­vi­du­um allen Zwän­gen ent­le­digt wäre. Wie ein Gue­ril­le­ro beweg­te er sich als Schrift­stel­ler auf den Ter­ri­to­ri­en der Spra­che, die sei­nem Ver­ständ­nis nach ein Kon­troll­in­stru­ment war, das mit­tels Wort und Bild das Bewusst­sein fes­sel­te. »Lan­guage is a virus« ist ein stets wie­der­keh­ren­der Slo­gan in der Nova-Tri­lo­gie, und als Gegen­pro­gramm ent­warf das »Schrei­ben der Stil­le«. Unter dem Ein­fluss des eng­li­schen Malers und Schrift­stel­lers Bri­on Gysin ent­wi­ckel­te er als Sabo­ta­ge-Instru­ment die Tech­nik des »Cut-ups«, bei der Tex­te ver­schie­dens­ter Art und Her­kunft zer­schnit­ten und nach dem Zufalls­prin­zip wie­der zusam­men­ge­fügt wur­den. Dabei benutz­te Bur­roughs nicht allein eige­nes Mate­ri­al und Mon­ta­gen aus Ton- und Film­bän­dern, son­dern plün­der­te auch scham­los lite­ra­ri­sche Wer­ke von T. S. Eli­ot, Franz Kaf­ka, Joseph Con­rad, Gra­ham Gree­ne, Shake­speare und vie­len ande­ren. Dies brach­te ihm den Vor­wurf des Pla­gia­ris­mus ein, doch Bur­roughs und Gysin hiel­ten dage­gen, dass alle Kunst Mate­ri­al für neue Kunst sei.

Take the Habit or The Lunch is served in Academia

Retaking the Universe (Pluto Press, 2004)
Ret­a­king the Uni­ver­se (Plu­to Press, 2004)

Der Fokus vie­ler Bei­trä­ge rich­tet sich auf die expe­ri­men­tel­le und radi­ka­le Peri­ode Bur­roughs‘ in den »Roaring Six­ties«, als er sei­ne lang­jäh­ri­ge Dro­gen­ab­hän­gig­keit über­wun­den hat­te und in Lon­don mit Ver­tre­tern der eng­li­schen Avant­gar­de wie Gysin und dem Fil­me­ma­cher Antho­ny Balch zusam­men­ar­bei­te­te. Im ers­ten Teil des Ban­des ver­su­chen die jewei­li­gen Autoren, Bur­roughs – manch­mal etwas zwang­haft – in theo­re­ti­sche Kon­tex­te ein­zu­bin­den, als wäre er das ein­sa­me ame­ri­ka­ni­sche Sprach­rohr von einst­mals modi­schen fran­zö­si­schen Theo­rie­schöp­fern wie Jean-Fran­çois Lyo­tard, Gil­les Deleu­ze, Roland Bar­thes und Michel Fou­cault gewe­sen. An ande­rer Stel­le wird in einer aka­de­mi­schen Fleiß­ar­beit auf­ge­lis­tet, wel­che Ähn­lich­kei­ten zwi­schen Bur­roughs und den Expo­nen­ten der ori­gi­na­len »Frank­fur­ter Schu­le« Max Hork­hei­mer, Theo­dor W. Ador­no und Her­bert Mar­cu­se bestehen, um schließ­lich das Fazit zu zie­hen, dass sie sich über glei­che Phä­no­me­ne der Moder­ne kri­ti­sche Gedan­ken mach­ten, doch zu gänz­lich unter­schied­li­chen Schlüs­sen kämen. Am ehes­ten noch war Bur­roughs den Situa­tio­nis­ten nahe, doch kam – wie Timo­thy S. Mur­phy in sei­nem Bei­trag schreibt – ein Kon­takt nie zustan­de, weil Bur­roughs‘ eng­li­scher Mit­tels­mann, der Schrift­stel­ler Alex­an­der Troc­chi, aus dem situa­tio­nis­ti­schen Club aus­ge­schlos­sen wur­de, ehe ein pro­jek­tier­tes Tref­fen zwi­schen Bur­roughs und dem Club-Vor­ste­her Guy Debord statt­fin­den konn­te. Die Iro­nie der Geschich­te ent­geht Mur­phy in sei­nem humor­lo­sen Bemü­hen, die Brü­cke von Bur­roughs‘ indi­vi­dua­lis­ti­schen Gue­ril­la-Stra­te­gien und den situa­tio­nis­tisch sti­mu­lier­ten Mai-Ereig­nis­sen des Jah­res 1968 zu den Auf­stän­den der Zapa­tis­tas und den Pro­tes­ten der Glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­ker in Seat­tle und Genua zu schla­gen, als wäre die Geschich­te eine der immer­wäh­ren­den Revol­ten gegen das schlech­te Bestehen­de. Auf­ge­nom­men wird Bur­roughs als lite­ra­ri­sche Iko­ne ins Arse­nal der Revol­te, wobei unter­schla­gen wird, dass Bur­roughs in der Tra­di­ti­on eines radi­ka­len Indi­vi­du­al­an­ar­chis­mus steht, den sozia­le Belan­ge und poli­ti­sches Enga­ge­ment kaum küm­mer­ten – ganz im Gegen­teil: Poli­ti­sche Inter­ven­ti­on führ­te in sei­nen Augen ledig­lich in eine Sackgasse.

Auf feindlichem Terrain

Burroughs and the Typewriter
Bur­roughs and the Typewriter

Der zwei­te Teil des Ban­des unter dem Titel »Wri­ting, Sign, Instru­ment: Lan­guage and Tech­no­lo­gy« ver­sam­melt dage­gen eini­ge ori­gi­nel­le Essays, die dem wider­sprüch­li­chen Ver­hält­nis Bur­roughs‘ zu Spra­che, Medi­en und Tech­no­lo­gien nach­spü­ren. Bis zu einem gewis­sen Grad war er in sei­ner obses­si­ven Beschäf­ti­gung mit der Spra­che und Tech­no­lo­gie fami­li­är vor­be­las­tet: Bur­roughs‘ Groß­va­ter paten­tier­te die ers­te Rechen­ma­schi­ne, und die Bur­roughs Com­pa­ny, die die­se Erfin­dung ver­mark­te­te, war bis in die acht­zi­ger Jah­re ein Kon­kur­rent von IBM, ehe sie im Kon­zern Uni­sys auf­ging. Sein Onkel Ivy Lee war ein PR-Spe­zia­list, der in Zei­ten gro­ßer sozia­ler Unru­hen vor dem ers­ten Welt­krieg Groß­ka­pi­ta­lis­ten wie Rocke­fel­ler in gutem Licht prä­sen­tier­te und die Gesell­schaft mani­pu­lier­te. Upt­on Sin­clair gab ihm den Spitz­na­men »Poi­son Ivy«, und John Dos Pas­sos nahm ihn als Vor­bild für J. Ward Moore­house in sei­ner USA-Tri­lo­gie (1930–1936). Bur­roughs nutz­te elek­tro­ni­sche Medi­en­tech­no­lo­gien zugleich für die Mani­pu­la­ti­on und Sub­ver­si­on. Die Herr­schaft, wel­che durch die Spra­che per­p­etu­iert wur­de, mach­te er an den Mono­po­len glo­ba­ler Groß­kon­zer­ne wie IBM oder der Mani­pu­la­ti­on durch Medi­en­kon­zer­ne wie Hen­ry Luces Time-Life-For­tu­ne-Impe­ri­um fest, wobei in sei­nen Augen die Mecha­nis­men der Herr­schaft sich seit den Tagen der Maya-Pries­ter nicht geän­dert hat­ten, wel­che die Bevöl­ke­rung mit dem mono­po­li­sier­ten Wis­sen in Abhän­gig­keit hiel­ten. Die von den Bil­dern und Hie­ro­gly­phen der Herr­schaft umstell­te Rea­li­tät muss­te zurück­er­obert wer­den. »Storm the Rea­li­ty Stu­dio and ret­a­ke the uni­ver­se«, heißt es pro­gram­ma­tisch in The Soft Machi­ne.

Vom Kino zum Internet

Film und Kino sind eben­so rekur­rie­ren­de Meta­phern wie die Gue­ril­le­ros und Par­ti­sa­nen, wel­che durch Bur­roughs‘ Sze­ne­rien und Land­schaf­ten die unzäh­li­gen For­men der Herr­schaft atta­ckie­ren und manch­mal sogar wie die Pira­ten­kom­mu­nar­den in Cities of the Red Night (1981) eine liber­tä­re Uto­pie zu rea­li­sie­ren ver­su­chen. In dem Expe­ri­men­tal­film Towers Open Fire (1963) stürmt der Autor mit Gas­mas­ke und Kriegs­ge­rät über die Lein­wand und star­tet einen Angriff auf die Kräf­te des Kapi­ta­lis­mus des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Mit Recht bezeich­net Jamie Rus­sell die­ses Werk als einen Akt des »fil­mi­schen Ter­ro­ris­mus«, doch ist es kaum eine sym­bo­li­sche Vor­weg­nah­me der Anschlä­ge auf das New Yor­ker World Trade Cen­ter am 11. Sep­tem­ber 2001, wie er mut­maßt. Bur­roughs‘ Par­ti­sa­nen waren lite­ra­ri­sche Fik­tio­nen, die sich aus den Phä­no­me­nen der dama­li­gen Zeit (wie den Gue­ril­la­be­we­gun­gen in der Drit­ten Welt, den Auf­stän­den in den ame­ri­ka­ni­schen Groß­städ­ten, mili­tan­ten Grup­pen wie den Black Pan­thers und den Young Lords sowie der Revol­te einer inter­na­tio­na­len Jugend­kul­tur) nähr­te. Der Anti­hu­ma­nis­mus, wie ihn Bur­roughs in sei­nem Roman The Wild Boys (1969) beschrieb, war letzt­lich nur der Aus­druck der Sack­gas­se einer ent­fes­sel­ten Gewalt, in wel­che die Unter­grund­kul­tur sich in den spä­ten sech­zi­ger Jah­ren wie­der­fand, als deren Reprä­sen­tan­ten mao­is­ti­sche SDS-Split­ter­grup­pen wie die Wea­ther­men gel­ten konn­ten, wel­che die liber­tär-ega­li­tä­re Uto­pie einer bes­se­ren Gesell­schaft an einen despe­ra­ten Ter­ro­ris­mus in Gestalt einer ver­spreng­ten Stadt­gue­ril­la ver­rie­ten und im »Ame­ri­can way of vio­lence« ver­san­ken. Mit dem Nie­der­gang der Jugend- und Gegen­kul­tur in den sieb­zi­ger Jah­ren ver­schwand bei Bur­roughs die Hoff­nung auf einen »revo­lu­tio­nä­ren Agen­ten«, und auch die Fan­ta­sie ver­mag nicht, ein Loch in die Zeit zu spren­gen, durch das ein Ent­kom­men mög­lich wäre. Am Ende des Romans The Wes­tern Lands muss der alte, auf einer Müll­hal­de hau­sen­de Schrift­stel­ler erken­nen, dass durch das Schrei­ben der Tod nicht zu über­win­den ist, dass er das Ende all des­sen erreicht hat, was mit Wor­ten getan wer­den kann – und Erlö­sung gehört nicht zum Programm.

William S. Burroughs: Die alten Filme (Maro Verlag, 2004)
Wil­liam S. Bur­roughs: Die alten Fil­me (Maro Ver­lag, 2004)

Erst nach sei­nem Tod wur­de das Inter­net zu einem umspan­nen­den Medi­um, in dem Bur­roughs‘ The­men der Mani­pu­la­ti­on und Herr­schaft, Unter­drü­ckung und Abhän­gig­keit, Büro­kra­ti­sie­rung und Ver­ding­li­chung, Sub­ver­si­on und Sabo­ta­ge aufs Neue zum Tra­gen kom­men, als wür­de der Film mit neu­en Dar­stel­lern in ande­ren Kulis­sen noch ein­mal abge­spult. In einem ori­gi­nel­len Text lässt der Infor­ma­ti­ker und Schrift­stel­ler Edward Des­aut­els Figu­ren Bur­roughs‘ in einem total ver­netz­ten Uni­ver­sum auf­er­ste­hen und zum »Nova Net­Mob« mutie­ren. Ging Bur­roughs in den acht­zi­ger Jah­ren von der Sci­ence-Fic­tion der Nova-Tri­lo­gie immer wei­ter zurück in die Zeit – zu den Pira­ten des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts, zu den Wes­tern-Mythen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts und schließ­lich zu den Ägyp­tern –, so wäre die Gegen­wart mit ihren Netz­werk- und Inter­net-Tech­no­lo­gien, diver­sen staat­li­chen und pri­vat­ka­pi­ta­lis­ti­schen Agen­tu­ren mit ihren Abhör- und Aus­spio­nie­rungs­tech­ni­ken, zahl­lo­sen dis­pa­ra­ten und despe­ra­ten vir­tu­el­len Gemein­schaf­ten, deren Indi­vi­dua­li­tät sich hin­ter belie­big aus­tausch­ba­ren Iden­ti­tä­ten und »Nicks« auf­löst, der Des­in­te­gra­ti­on sozia­ler und poli­ti­scher Grup­pen in Rackets das idea­le Ter­ri­to­ri­um, um die Fan­ta­sien Bur­roughs‘ zu »detour­nie­ren« und in einem neu­en Kon­text umzu­ge­stal­ten. Man­che sei­ner kur­zen, in Under­ground-Zeit­schrif­ten erschie­nen Tex­te haben nichts von ihrer Fas­zi­na­ti­on ein­ge­büßt. Sein »Inter­view mit einem Virus« (das auf deutsch in dem 1979 von Carl Weiss­ner her­aus­ge­ge­be­nen Band Die alten Fil­me im Augs­bur­ger Klein­ver­lag Maro erschien) ist ein klei­nes Meis­ter­stück über die Wirk­sam­keit bös­ar­ti­ger Viren, das – ange­sichts anfäl­li­ger Ports im total (und zumin­dest ansatz­wei­se tota­li­tär) ver­netz­ten Sys­tem – gegen­wär­tig an Aktua­li­tät noch gewon­nen hat. Lei­der geht ledig­lich Oli­ver Har­ris, der Her­aus­ge­ber der Brie­fe Bur­roughs‘, in sei­nem Essay »Cut­ting up Poli­tics« auf die­se Minia­tu­ren ein – und dies auch nur kurz. Immer wie­der wird von den Autoren die Nova-Tri­lo­gie wie ein poli­ti­scher, kul­tu­rel­ler und lite­ra­ri­scher Stein­bruch bear­bei­tet, wäh­rend ande­re Din­ge in der Unter­be­lich­tung verschwinden.

Eine voll­kom­me­ne Ent­täu­schung stellt der letz­te Teil des Ban­des dar, der mit dem Titel »Alter­na­ti­ves: Rea­li­ties and Resis­tances« über­schrie­ben ist. War­um hier ein Essay von John Ver­non aus dem Jah­re 1972, der bes­ten­falls gepfleg­te aka­de­mi­sche Lan­ge­wei­le ver­brei­tet, auf­ge­nom­men wur­de, wäh­rend der Rest des Ban­des aus Ori­gi­nal­bei­trä­gen besteht, bleibt das Geheim­nis der Her­aus­ge­ber. Auch den übri­gen Tex­ten haf­tet der Geruch der übli­chen aka­de­mi­schen Auf­trags­ar­bei­ten an, die zur Kennt­nis genom­men, aber auch schnell wie­der ver­ges­sen wer­den. Trotz aller Kri­tik ist die­ser Band jedoch durch­aus lesens­wert und anre­gend. Viel­leicht fin­det der alte Schrift­stel­ler unge­ach­tet aller Wid­rig­kei­ten und Resi­gna­ti­on doch irgend­wann einen Nach­fol­ger, der mit den Wor­ten über das Ende hin­aus jon­glie­ren kann.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover The Naked Lunch © Olym­pia Press
Cover Bur­roughs: The Movie © The Cri­ter­ion Collection
Foto Sta­pel von Burroughs-Büchern
Archiv des Autors
Cover Ret­a­king the Universe
© Plu­to Press
Foto Bur­roughs vor der Schreibmaschine
Archiv des Autors
Cover Die alten Filme
© Maro Verlag

Bibliografische Angaben:

Davis Schnei­der­man und Phil­ip Walsh (Hg.).
Ret­a­king the Universe:
Wil­liam S. Bur­roughs in the Age of Globalization.
Lon­don: Plu­to Press, 2005.
312 Sei­ten. € 21,90.
ISBN: 9787453820813.
[ Out of Print]

 

Zuerst erschie­nen in literaturkritik.de, Nr. 2 (Febru­ar 2005)
© Jörg Auberg 2005/2020

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