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John Dos Passos: Manhattan Transfer

J

New Yor­ker Jeremiaden

John Dos Pas­sos‘ klas­si­scher New-York-Roman Man­hat­tan Trans­fer liegt in einer Neu­über­set­zung auf Deutsch vor

 

Von Jörg Auberg

 

»New York was a con­ti­nent in itself.«

John Dos Pas­sos, The Best Times1

 

John Dos Pas­sos‘ New-York-Opus Man­hat­tan Trans­fer (1925) gehört neben Andrej Belys Peters­burg (1913), James Joy­ces Ulys­ses (1922) und Alfred Döb­lins Ber­lin Alex­an­der­platz (1929) zu den her­aus­ra­gen­den Groß­stadt­ro­ma­nen der Moder­ne. Doch anders als bei den die­sen Wer­ken ist die Stadt in Man­hat­tan Trans­fer nicht allein ein Schau­platz der Hand­lung, son­dern es ist eine urba­ne Maschi­ne­rie des indus­tri­el­len Kapi­ta­lis­mus, in der die zahl­rei­chen Figu­ren des Romans blo­ßes Mate­ri­al der gesell­schaft­li­chen und his­to­ri­schen Pro­zes­se in den Jah­ren zwi­schen 1900 und 1924 sind. Die Cha­rak­te­re agie­ren im Roman kaum, wer­den von der Nie­der­la­ge und der Ver­zweif­lung über­wäl­tigt, ekeln sich vor einer absto­ßen­den Urba­ni­tät, die sich in unan­ge­neh­men Tönen und Gerü­chen ausdrückt.

Max Weber: Rush Hour (1915)
Max Weber: Rush Hour (1915), Quel­le: WikiArt.org

In immer wie­der­keh­ren­den Jere­mia­den wird die Häss­lich­keit der Stadt unter der Herr­schaft des Indus­tria­lis­mus beklagt, wäh­rend alle der abs­trak­ten Obses­si­on der Stadt mit dem Erfolg fol­gen oder vor ihr flüch­ten. Lar­moy­ant merkt ein alter Mann an, die Stadt sei »nur für die Jun­gen und Star­ken« oder ein Bour­geois schäumt: »Die Stadt wim­melt von Juden und iri­schem Abschaum …«, um sich wenig spä­ter über die »Ban­de ver­damm­ter Aus­län­der« zu echauf­fie­ren.2 Zwar bezeich­ne­te Dos Pas­sos spä­ter Man­hat­tan Trans­fer als »Ver­such, das Leben einer Stadt auf­zu­zeich­nen«3, doch bleibt der Roman zumeist im pes­si­mis­ti­schen Mias­ma des Natu­ra­lis­mus gefan­gen, obgleich Dos Pas­sos von der »kubis­ti­schen Bar­ri­ka­de«4 den urba­nen Raum in all sei­nen Schat­tie­run­gen, Geschwin­dig­kei­ten, raschen Ver­än­de­run­gen und Dimen­sio­nen vom mäch­ti­gen Wol­ken­krat­zer bis zur rat­tern­den U‑Bahn por­trä­tie­ren wollte.

Als sich Leo Trotz­ki im Janu­ar 1917 kurz­zei­tig in New York auf­hielt, war er von »der mär­chen­haft pro­sa­ischen Stadt des kapi­ta­lis­ti­schen Auto­ma­tis­mus« begeis­tert, »wo in den Stra­ßen die ästhe­ti­sche Theo­rie des Kubis­mus und in den Her­zen die sitt­li­che Phi­lo­so­phie des Dol­lars« herr­sche. »New York impo­niert mir, als der voll­kom­mens­te Aus­druck des Geis­tes der Gegen­wart­s­epo­che«, schwärm­te der rus­si­sche Emi­grant.5 Dos Pas­sos war dage­gen vom agra­ri­schen Demo­kra­tieide­al Tho­mas Jef­fer­sons geprägt und ein radi­ka­ler Kri­ti­ker des Indus­tria­lis­mus. Seit sei­nem Auf­ent­halt in Spa­ni­en 1917 betrach­te­te er die­ses dezen­tra­lis­tisch und indi­vi­dua­lis­tisch gepräg­te Land als Gegen­bild zum ent­fes­sel­ten US-Kapi­ta­lis­mus. Auch Pío Baro­jas Spa­ni­sche Tri­lo­gie wur­de für ihn zum Vor­bild sei­ner eige­nen USA-Tri­lo­gie (1930–36).6 So sah er in der Metro­po­le New York weni­ger als ein viel­schich­ti­ges Tableau der Mög­lich­kei­ten denn einen gefrä­ßi­gen, zer­stö­re­ri­schen Moloch und beschwor in apo­ka­lyp­ti­schen Pas­sa­gen den Ver­fall und Unter­gang in Ana­lo­gie zu Baby­lon und Ninive.

Ursprüng­lich war der Roman als die Geschich­te Ellen That­chers geplant, die – aus klein­bür­ger­li­chen Ver­hält­nis­sen kom­mend – durch ver­schie­de­ne Bezie­hun­gen in der Thea­ter- und Medi­en­sze­ne New Yorks reüs­sier­te und ihren gesell­schaft­li­chen Auf­stieg mit der Hei­rat des kar­rie­ris­ti­schen Anwal­tes Geor­ge Bald­win besie­gelt. Kon­tras­tiert soll­te dies mit dem all­mäh­li­chen Abstieg des Jour­na­lis­ten Jim­my Herf wer­den, der auto­bio­gra­fi­sche Züge Dos Pas­sos‘ trägt und am Ende die Stadt ver­lässt.7  Die­se Grund­idee ver­band Dos Pas­sos mit fil­mi­schen Tech­ni­ken, der Mon­ta­ge von Detail- und Pan­ora­ma­ein­stel­lun­gen, Groß- und Nah­auf­nah­men, der Ver­we­bung von Zei­tungs­tex­ten, popu­lä­ren Lie­dern und Groß­stadt­ge­räu­schen. Dos Pas­sos gab vor, ledig­lich als Auf­zeich­nungs­in­stru­ment zu agie­ren und sich jeg­li­cher Wer­tung zu ent­zie­hen, diver­se Figu­ren und Stim­men mit zahl­lo­sen Posi­tio­nen aus den poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Spek­tren in einem chro­no­lo­gi­schen Rei­gen zu prä­sen­tie­ren, aus dem der Leser selbst sei­ne Schlüs­se zie­hen sol­le. Zeit­ge­nös­si­sche Kri­ti­ker wie  Edmund Wil­son monier­ten jedoch, dass Dos Pas­sos die Kran­ken mit der Krank­heit ver­ur­tei­le; selbst wenn er ver­su­che, ein­zel­ne Cha­rak­te­re sym­pa­thisch erschei­nen zu las­sen, set­ze er sie noch her­ab.8 In Alfred Kazins Augen kaschier­te Dos Pas­sos mit der fla­cker­haf­ten Tech­nik ledig­lich die eige­ne Kon­fu­si­on und die feh­len­de gesell­schaft­li­che Ana­ly­se, die er spä­ter in der USA-Tri­lo­gie lie­fer­te. In die­sem »mit­tel­mä­ßi­gen, schwach geschrie­be­nen Buch« wer­de, kon­sta­tier­te Kazin in sei­nem Stan­dard­werk On Nati­ve Grounds (1942), die Stadt in einer Mons­tro­si­tät auf­ge­so­gen.9

Paul Strand: New York 1915. Quelle: WikiMedia.org
Paul Strand: New York 1915. Quel­le:  WikiMedia.org

Tat­säch­lich demons­triert Dos Pas­sos ein »ver­sier­tes up to date-Sein«10 (wie Theo­dor W. Ador­no es nann­te), doch fehlt dem Roman zum einen die selbst­kri­ti­sche Refle­xi­on des­sen, was er kri­ti­siert; zum ande­ren webt er am »Schlei­er der Per­so­na­li­sie­rung«11, den Dos Pas­sos in sim­pli­fi­zie­ren­der Wei­se über die öko­no­mi­sche Archi­tek­tur der Herr­schaft legt. Immer wie­der kon­tras­tiert er Arm und Reich in per­so­na­li­sier­ter Form: Auf der einen Sei­te ste­hen die ein­zel­nen und ver­ein­zel­ten Hun­ger­lei­der, Tramps und Pro­le­ten; auf der ande­ren die fet­ten Kapi­ta­lis­ten, die feis­ten Ban­kiers und die kor­rup­ten Poli­ti­ker, wäh­rend der Roman kei­ne Form fin­det, um die gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che inhalt­lich dar­zu­stel­len. Vie­les geht in der Anein­an­der­rei­hung von Situa­tio­nen über die blo­ße Zur­schau­stel­lung oder Behaup­tung nicht hin­aus: Jim­my Herf wird als Rebell gegen die herr­schen­den Zustän­de vor­ge­führt, doch bleibt sei­ne Reni­tenz kon­tur- und sub­stanz­los. Zwar wird er als »Bol­sche­wist« und Wob­bly (als Mit­glied der syn­di­ka­lis­ti­schen Gewerk­schaft Indus­tri­al Workers oft the World) bezeich­net; den­noch ver­harrt er bis zum bit­te­ren Ende in der Müh­le des von ihm ver­ach­te­ten Sys­tems. Ähn­lich ober­fläch­lich bleibt die Kri­tik der Mas­sen­kul­tur und der kom­mer­zi­el­len Pres­se, da sie nie in die Tie­fe der gesell­schaft­li­chen Pro­zes­se vor­dringt, son­dern in pla­ka­ti­ven State­ments sich erschöpft. Statt­des­sen wer­den die Figu­ren als will­fäh­ri­ge Opfer einer ver­füh­re­ri­schen Pres­se oder Rekla­m­e­indus­trie vorgeführt.

Indem sich Dos Pas­sos auf die Posi­ti­on des Chro­nis­ten zurück­zieht, repro­du­ziert er die vor­herr­schen­den Vor­ur­tei­le der New Yor­ker Gesell­schaft. Nicht allein in den Dia­lo­gen, son­dern  auch in den nar­ra­ti­ven Pas­sa­gen fin­den sich ras­sis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche und homo­pho­be Ste­reo­ty­pen, Aus­drü­cke wie »Nig­ger« oder »Juden­jun­ge mit der lan­gen Nase«, Beschrei­bun­gen von Homo­se­xu­el­len als psy­chisch Kran­ke, die ihre »Krank­heit« mit­tels einer psy­cho­ana­ly­ti­schen Behand­lung kurie­ren, um nicht län­ger als »Got­tes Feh­ler« gel­ten zu müs­sen.12 Unge­ach­tet sei­ner Kri­tik an den herr­schen­den Zustän­den in New York und den USA blieb Dos Pas­sos – wie Micha­el Den­ning in sei­ner gro­ßen Stu­die The Cul­tu­ral Front (1997) mit Recht bemerk­te – dem »Land der wei­ßen Män­ner« ver­pflich­tet.13

In Man­hat­tan Trans­fer ist der Erfolg weib­lich deno­tiert14; Ellen That­cher und ande­re weib­li­che Cha­rak­te­re orga­ni­sie­ren ihren Auf­stieg im urba­nen Ter­rain über die sexua­li­sier­te Ergat­te­rung des zir­ku­lie­ren­den Mehr­werts, wäh­rend sozia­le Abstei­ger wie Jim­my Herf ins Abseits gescho­ben wer­den, was der abge­half­ter­te Jour­na­list lar­moy­ant mit dem Satz »Frau­en sind wie Rat­ten – sie ver­las­sen ein sin­ken­des Schiff«15 kom­men­tiert. Das künst­le­ri­sche Dilem­ma von Man­hat­tan Trans­fer liegt vor allem in die­ser Figur, mit der sich Dos Pas­sos selbst zum teil­neh­men­den Akteur mach­te, wäh­rend er zugleich die Rol­le des Chro­nis­ten über­nahm und in die­ser klas­si­schen Ver­men­gung von Ver­ant­wort­lich­kei­ten das Gelin­gen des Pro­jekts tor­pe­dier­te. Oder mit den Wor­ten eines spä­te­ren Schrift­stel­ler­kol­le­gen: »Con­fu­si­on hath fuck his mas­ter­pie­ce«16. Tat­säch­lich oute­te sich Dos Pas­sos 1934 – auch wenn er das Bekennt­nis selbst­iro­nisch ver­pack­te – in einem Brief an Edmund Wil­son als »angel­säch­si­scher Chau­vi­nist«, bekann­te gegen­über dem Dra­ma­ti­ker John Howard Law­son, dass die rebel­li­sche Men­ta­li­tät New Yorks ein jüdi­scher euro­päi­scher Import sei oder bezeich­ne­te in einem Brief an Robert Cant­well Kuba­ner als »Läu­se«.17

John Dos Passos: Manhattan Transfer (Rowohlt, 2016)
John Dos Pas­sos: Man­hat­tan Trans­fer (Rowohlt, 2016)

Die nun von Dirk van Guns­te­ren ver­ant­wor­te­te Neu­über­set­zung glät­tet die »Spra­che des wei­ßen Man­nes« nicht. In der 1927 bei S. Fischer erschie­nen Erst­über­set­zung Paul Bau­dischs hat­te die »Ein­deut­schung« ste­reo­ty­per oder ras­sis­tisch deno­tier­ter phy­sio­gno­mi­scher Begrif­fe noch einen extre­me­ren Klang. In einem Inter­view the­ma­ti­siert van Guns­te­ren jedoch nicht die teil­wei­se ras­sis­ti­sche Spra­che, son­dern hält der Über­set­zung Bau­dischs (der in den 1930er Jah­re nach Öster­reich, Frank­reich und Schwe­den ins Exil ging) einen alt­vä­ter­li­chen Duk­tus vor, »der die­se Über­set­zung so furcht­bar ver­staubt wir­ken lässt und einem Werk die­ses Ran­ges nicht ange­mes­sen ist«. Für ihn ist Dos Pas­sos‘ Spra­che »über­aus modern«, wenn nicht gar »gera­de­zu zeit­ge­nös­sisch« (was immer dies hei­ßen soll).18 Wäh­rend er Bau­disch lexi­ka­li­sche Feh­ler und Irr­tü­mer vor­hält, fin­det er kei­ne adäqua­te Über­set­zung für Begrif­fe wie »upsta­te«, »down­town« oder »upt­own«; das »cen­ter of things« wird in sei­ner Über­set­zung zum »wo was los ist«, und der Akzent deut­scher Immi­gran­ten geht in der Über­tra­gung gänz­lich ver­lo­ren, womit sich das Dik­tum Wal­ter Boeh­lichs »Über­set­zen ist unmög­lich«19 aufs Neue bewahrheitet.

Da indus­tri­el­le Unter­neh­men kein Pro­dukt ohne Mar­ke­ting auf die Kon­su­men­ten los­las­sen, hat auch Rowohlt für die­se Neu­über­set­zung einen Autor mit aktu­el­lem Markt­wert beauf­tragt, das Publi­kum mit Plat­ti­tü­den aus dem Fun­dus des »Außen­sei­ter­tums der Ein­ge­weih­ten«20 (wie Ador­no die­se schein­bar kul­ti­vier­te Kol­la­bo­ra­ti­on mit den Erfor­der­nis­sen des Mark­tes nann­te) heim­zu­su­chen. Was Pen­gu­in Books in den 1980er Jah­ren bei der Repu­bli­ka­ti­on von Man­hat­tan Trans­fer mit Jay McI­ner­ney voll­zog, ahmt Rowohlt nun mit Cle­mens Mey­er nach. Zwar erfüllt des­sen Nach­wort »Dos Pas­sos und die Wild Bunch oder Die Erfin­dung der Moder­ne« ob sei­ner intel­lek­tu­el­len Dürf­tig­keit bes­ten­falls den Tat­be­stand der per­sön­li­chen Belei­di­gung des Lesers, doch ist dies von peri­phe­rer Bedeu­tung, da es nicht um Lite­ra­tur, son­dern um Ver­kauf geht. So bemüht Herr Mey­er allein auf der ers­ten Sei­te sei­nes »Nach­wor­tes« sie­ben­mal das Wort »Ich«, ohne dass er die Unver­schämt­heit sei­nes nar­ziss­ti­schen Exhi­bi­tio­nis­mus bemerkt.

[otw_shortcode_quote border_style=“bordered” background_pattern=“otw-pattern‑5”]»Bei vie­len Men­schen ist es bereits eine Unver­schämt­heit, wenn sie Ich sagen.« – Theo­dor W. Ador­no21[/otw_shortcode_quote]

In den New Mas­ses lob­te Micha­el Gold 1926 Dos Pas­sos‘ Stadt­ro­man als »bar­ba­ri­sches Poem New Yorks«, des­sen zen­tra­ler Prot­ago­nist – Jim­my Herf – »vom ame­ri­ka­ni­schen Kom­merz gequält« sei.22 In der deut­schen Über­tra­gung leben ande­re Quäl­geis­ter fort.

 

Die Neu­über­set­zung war kein von Rowohlt initi­ier­tes Pro­jekt. Viel­mehr kam der Anstoß von dem öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk­sen­der SWR, der eine zeit­ge­mä­ße Hör­spiel­ver­si­on von Man­hat­tan Trans­fer rea­li­sie­ren, dabei jedoch nicht auf die Über­set­zung Paul Bau­dischs zurück­grei­fen woll­te. So ent­wi­ckel­te sich die »Wie­der­ent­de­ckung« des Romans Man­hat­tan Trans­fer als Koope­ra­ti­on zwi­schen SWR, Rowohlt und Hör­buch Ham­burg in Form einer Ver­wer­tungs­ket­te, wobei Neu­über­set­zung, Hör­spiel­pro­duk­ti­on und CD-Edi­ti­on im Rah­men einer gene­ral­stabs­mä­ßi­gen Mar­ke­ting­ak­ti­on durch­ge­führt wur­den. Wäh­rend die Pro­du­zen­ten der Hör­spiel­ad­ap­ti­on jeg­li­che gesell­schaft­li­che und lite­ra­ri­sche Kri­tik des Romans igno­rie­ren, kapri­zie­ren sie sich auf die vor­geb­lich »post­mo­der­ne« Erzähl­wei­se und die »mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Short-Cuts-Ästhe­tik« des Romans. »Cool­ness und sug­ges­ti­ve Bild­kraft prä­gen das Buch«, schreibt der SWR-Chef­dra­ma­turg Man­fred Hess über Man­hat­tan Trans­fer. »Vor allem bie­ten sich die span­nen­den dra­ma­ti­schen Sto­ries und die dia­lo­gi­schen Sze­nen für eine akus­ti­sche Umset­zung gera­de­zu an – als ob der Roman eine über meh­re­re Erzähl­strän­ge ver­lau­fen­de Net­flix-Serie wäre, die auf hohem Niveau dem Prin­zip des aus­schwei­fen­den Erzäh­lens folgt. Die­se Merk­ma­le ver­knüpft Dos Pas­sos mit dem radi­ka­len Kunst­an­spruch der lite­ra­ri­schen Avant­gar­de der 1920-er Moder­ne. Was will man mehr?«23

 

John Dos Passos: Manhattan Transfer (SWR/HörbuchHamburg, 2016)
John Dos Pas­sos: Man­hat­tan Trans­fer (SWR/HörbuchHamburg, 2016)

Für die Rea­li­sie­rung des Hör­spiels waren der renom­mier­te und viel­be­schäf­tig­te Hör­funk­re­gis­seur Leon­hard Kop­pel­mann und der Kom­po­nist Her­mann Kretz­schmar ver­ant­wort­lich. Anders als der Roman ver­sucht die­se Hör­spiel­fas­sung nicht, das Gesche­hen in gro­ßen Zeit­sprün­gen zu erzäh­len und einen Effekt der Simul­ta­ni­tät zu erzeu­gen. Zur bes­se­ren Ori­en­tie­rung der Hörer beschränk­ten sich Kop­pel­mann und sei­ne Mit­ar­bei­ter auf weni­ge Haupt­fi­gu­ren und zen­tra­le Hand­lungs­strän­ge. Infol­ge­des­sen fällt eine emble­ma­ti­sche Figur wie Joe Har­land, der aus den Höhen der Finanz­welt in die Nie­de­run­gen des Alko­ho­lis­mus und der Obdach­lo­sig­keit absteigt, der »Ver­dich­tung« zum Opfer. 

Die aus Jazz und Neu­er Musik sich spei­sen­den musi­ka­li­schen Stü­cke, die das urba­ne Gesche­hen illus­trie­ren, ver­stär­ken den Effekt der hek­ti­schen Anein­an­der­rei­hung von Epi­so­den. In einer Kli­max wird das Schei­tern der Figu­ren in Form von Kon­for­mis­mus, Tod, Flucht oder Gefäng­nis­haft exem­pli­fi­ziert. Zwar konn­te die Hör­spiel­pro­duk­ti­on auf ein illus­tres Spre­cher­en­sem­ble zurück­grei­fen (zu dem Maren Eggert, Sophie Rois, Ulrich Noe­then, Imo­gen Kog­ge, Chris­ti­an Redl und ande­re gehör­ten). Auch klei­ne Rol­len wur­den mit schau­spie­le­ri­schen Grö­ßen wie Fried­helm Ptok und Wolf-Diet­rich Spren­ger besetzt. Den­noch drif­ten vor allem Sze­nen, die im Milieu der frü­hen Kul­tur­in­dus­trie spie­len, in über­dreh­ten, an zeit­ge­nös­si­sche Kli­schees der Fern­seh­welt ori­en­tier­ten Inter­pre­ta­tio­nen der Rol­len ab, und selbst ein ver­sier­ter Schau­spie­ler wie Axel Prahl, der mit Dutch Robert­son einen in die Kri­mi­na­li­tät abrut­schen­den Kriegs­heim­keh­rer dar­stellt, über­treibt mit eige­nen Manie­ris­men (das Kichern gehört eher zum Tat­ort-Kom­mis­sar Thiel als zu Dutch Robert­son). Dage­gen gelingt Ulrich Matthes in der Ver­kör­pe­rung des Oppor­tu­nis­ten Geor­ge Bald­win eine glän­zen­de und facet­ten­rei­che Dar­stel­lung des win­di­gen und skru­pel­lo­sen Kar­rie­ris­ten. Dies macht am Ende das Hör­spiel doch zu einem gro­ßen Erlebnis.

 

Biblio­gra­phi­sche Anga­ben:

John Dos Passos:
Man­hat­tan Transfer.

Aus dem Eng­li­schen von Dirk van Gunsteren.
Rowohlt, Rein­bek 2016.

544 Sei­ten, 24,95 Euro.

John Dos Passos:
Man­hat­tan Trans­fer.

Aus dem Eng­li­schen von Dirk van Gunsteren.
Hör­spiel von Leon­hard Kop­pel­mann und Her­mann Kretzschmar.
Pro­duk­ti­on: Süd­west­rund­funk (SWR) und Deutschlandradio.
Ham­burg: Hör­buch­Ham­burg, 2016.
6 CDs, 340 Minu­ten, 20 Euro.

 

Eine kür­ze­re Fas­sung erschien in literaturkritik.de, Nr. 10 (Okto­ber 2016)

© Jörg Auberg 2016 

[otw_shortcode_content_box title=“Bildquellen” title_style=“otw-regular-title” content_pattern=“otw-pattern‑4” icon_type=“general found­icon-web­site”] Max Weber — Rush Hour (1915): WikiArt.org
Paul Strand – New York 1915: WikiMedia.org
Covers: Rowohlt Ver­lag, HörbuchHamburg[/otw_shortcode_content_box]

 

Nachweise

  1. John Dos Pas­sos, The Best Times: An Infor­mal Memoir (Lon­don: And­re Deutsch, 1968), S. 132
  2. John Dos Pas­sos, Man­hat­tan Trans­fer, übers. Dirk van Guns­te­ren (Rein­bek: Rowohlt, 2016), S. 135
  3. John Dos Pas­sos, zitiert in: Lin­da W. Wag­ner, Dos Pas­sos: Artist as Ame­ri­can (Aus­tin: Uni­ver­si­ty of Texas Press, 1979), S. 49
  4. John Dos Pas­sos, The Major Non­fic­tion­al Pro­se, hg. Donald Pizer (Detroit: Way­ne Sta­te Uni­ver­si­ty Press, 1988), S. 134
  5. Leo Trotz­ki, Mein Leben: Ver­such einer Auto­bio­gra­fie, übers. Alex­an­dra Ramm (Ber­lin: S. Fischer, 1930), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/leben/22-newyork.htm
  6. Cf. Jörg Auberg, »Das Ende der Stra­ße: John Dos Pas­sos und die spa­ni­sche Uto­pie«, Tran­via, Nr. 23 (Dezem­ber 1991):5–7
  7. Wag­ner, Dos Pas­sos: Artist as Ame­ri­can, S. 56
  8. Edmund Wil­son, »Dos Pas­sos and the Social Revo­lu­ti­on« (1929), in: Wil­son, Lite­ra­ry Essays and Reviews of the 1920s & 30s, hg. Lewis M. Dab­ney (New York: Libra­ry of Ame­ri­ca, 2007), S. 351
  9. Alfred Kazin, On Nati­ve Grounds: An Inter­pre­ta­ti­on of Modern Ame­ri­can Pro­se Lite­ra­tu­re (1942; rpt. New York: Har­court Brace, 1995), S. 349. Zur poli­ti­schen Ent­wick­lung Dos Pas­sos’ cf. Mel­vin Lands­berg, Dos Pas­sos’ Path to U.S.A.: A Poli­ti­cal Bio­gra­phy, 1912–1936 (Bould­er, CO: Colo­ra­do Asso­cia­ted Uni­ver­si­ty Press, 1972)
  10. Theo­dor W. Ador­no, Ästhe­ti­sche Theo­rie, hg. Gre­tel Ador­no und Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1973), S. 58
  11. Theo­dor W. Ador­no, »Enga­ge­ment« (1962), in: Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 415
  12. Dos Pas­sos, Man­hat­tan Trans­fer, S. 54, 60, 497. Zur Ent­wick­lung der homo­se­xu­el­len Kul­tur in New York cf. Geor­ge Chaun­cey, Gay New York: Gen­der, Urban Cul­tu­re, and the Making of the Gay Male World, 1890–1940 (New York: Basic Books, 1994)
  13. Micha­el Den­ning, The Cul­tu­ral Front: The Labor­ing of Ame­ri­can Cul­tu­re in the Twen­tieth Cen­tu­ry (Lon­don: Ver­so, 1997), S. 196
  14. Robert C. Rosen, John Dos Pas­sos, Poli­tics and the Wri­ter (Lin­coln: Uni­ver­si­ty of Nebras­ka Press, 1981), S. 45; sie­he auch Janet Gal­liga­ni Casey, Dos Pas­sos and the Ideo­lo­gy of the Femi­ne (Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­si­ty Press, 1998), S. 130
  15. Dos Pas­sos, Man­hat­tan Trans­fer, S. 496
  16. Wil­liam S. Bur­roughs, Naked Lunch: The Res­to­red Text, hg. James Grau­er­holz und Bar­ry Miles (New York: Gro­ve Press, 2001), S. 35
  17. The Four­te­enth Chro­nic­le: Let­ters and Dia­ries of John Dos Pas­sos, hg. Town­send Lud­ding­ton (Bos­ton: Gam­bit, 1973), S. 460, 446, 451
  18. Man­fred Hess, »Dos Pas­sos’ Spra­che ist modern: Im Gespräch mit dem Über­set­zer Dirk van Guns­te­ren«, im Book­let zur Hör­spiel­ver­si­on von Manhat­tan Trans­fer (Ham­burg: Hör­buch­Ham­burg, 2016), S. 4–5
  19. Wal­ter Boeh­lich, Die Ant­wort ist das Unglück der Fra­ge: Aus­ge­wähl­te Schrif­ten, hg. Hel­mut Peitsch und Helen Thein (Frankfurt/Main: Fischer, 2011), S. 194
  20. Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 277
  21. Ador­no, Mini­ma Mora­lia, S. 57
  22. Micha­el Gold, zitiert in: Town­send Lud­ding­ton, John Dos Pas­sos: A Twen­tieth-Cen­tu­ry Odys­sey (New York: Car­roll & Graf, 1980), S. 245
  23. Man­fred Hess, http://www.swr.de/swr2/hoerspiel-feature/manhattan-transfer-als-hoerspiel-in-swr2/manhattan-transfer-von-john-dos-passos-unterhaltung-und-avantgarde/-/id=661194/did=17410662/mpdid=17418326/nid=661194/hr32jj/index.html

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