Vom Sterben zweier »obskurer Radikaler«
Upton Sinclairs Roman Boston liegt in einer deutschen Neuübersetzung vor
Von Jörg Auberg
Am Abend des 23. August 1927, nachdem in Charlestown (Massachusetts) die beiden italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden waren, entluden sich am rechten Seine-Ufer von Paris heftige Krawalle. Demonstranten liefen durch die Straßen und zerschlugen Kioske und Schaufenster. Vor der US-amerikanischen Botschaft gingen Sternenbanner in Flammen auf, und selbst in Pariser Cafés richtete sich die Wut aufgebrachter linker Pariser gegen Gäste, deren US-amerikanische Nationalität ruchbar wurde.1
Die geschlagene Generation
Die beiden Exekutierten repräsentierten in den Augen der Demonstranten jene radikale Opposition, die nach dem Ersten Weltkrieg ins Visier der staatlichen Repression und der nationalistischen Restauration in der reaktionären Nachkriegszeit geriet. Ihr internationaler cause célèbre befeuerte die politische Radikalisierung »linksaffiner« Autoren wie John Dos Passos, Edmund Wilson, Malcolm Cowley oder Josephine Herbst. Vor allem für Dos Passos symbolisierten die beiden italienischen Anarchisten einen Gegenpol zum industrialisierten, vom Großkapital beherrschten Amerika. In seinen Augen repräsentierten sie eine mediterrane Kultur der »einfachen Leute«, welche die pastorale Vision einer besseren Welt wachhielt.2
Die Hinrichtung der beiden Anarchisten bedeutete für viele Intellektuelle und Künstler jener Zeit eine tiefe Erschütterung des liberalen Glaubens an die Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen und der demokratischen Rechtsstaatlichkeit unter dem Diktat eines scheinbar omnipotenten Kapitalismus. Die »öffentliche Verbrennung«3 (Robert Coover) zweier »obskurer Radikaler« beschleunigte – wie Robert Morrs Lovett in der Zeitschrift Modern Quarterly schrieb — die Abkehr vieler amerikanischer Künstler und Intellektueller von ihren alten Affiliationen – in politischer wie in kultureller Hinsicht. Zugleich bedeutete der Tod Saccos und Vanzettis, der trotz einer weltweiten Solidaritätskampagne nicht verhindert werden konnte, eine traumatische Niederlage, die Dos Passos am Schluss seiner USA-Trilogie mit den Worten »we stand defeated America« auf den Punkt brachte – als wäre es eine Grabinschrift für die »geschlagene Generation«.4
Journalismus und Fiktion
In seinem Roman Boston, der ein Jahr nach der Exekution Saccos und Vanzettis erschien und nun in einer neuen Übersetzung von Viola Siegemund vorliegt, bettet Upton Sinclair die Geschichte dieses cause célèbre in eine panoramatischen Darstellung über die kapitalistischen Machtverhältnisse in der Metropole von Massachusetts ein. Im Zentrum des Romans steht Cornelia Thornwell, die nach dem Tod ihres Mannes Josiah Quincy Thornwell, des ehemaligen Gouverneurs von Massachusetts, ihre Freiheit zurückgewinnt und dem Clan der Thornwells den Rücken kehrt. Die »durchgebrannte Großmutter« (wie Sinclair sie nennt) verdingt sich als »Proletarierin auf Zeit« in einer Taufabrik, in der sie Bartolomeo Vanzetti kennenlernt.
Mittels dieser grobschlächtigen Konstruktion stellt Sinclair die Verbindung zwischen dem Milieu der italienischen Arbeitsimmigranten und der herrschenden Klasse von Boston her, die in Politik, Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt und korrumpiert. Als im Mai 1920 Sacco und Vanzetti wegen Beteiligung an einem Raubmord in South Braintree (Massachusetts) verhaftet und später verurteilt werden, stellen sich Cornelia und ihre ebenfalls zur Linken tendierende Enkelin Betty in den Dienst der Verteidigung der beiden italienischen Anarchisten.
In seinem Roman arbeitet Sinclair, der im Vorfeld seines Schreibens intensive Recherchen betrieben hatte, die siebenjährige Geschichte des Martyriums der beiden Angeklagten auf, wobei er mit seinen beiden »Klassenverräterinnen« Cornelia und Betty die Verdorbenheit und Korruption, die Verschlagenheit der herrschenden »Kaste« beschreibt, ohne dass der Autor tiefere psychologische Schichten der Figuren offenlegt. Stets schon präsentiert der allwissende Erzähler das Geschehen wie auf einer Guckkastenbühne und liefert Kommentar und Einschätzung gleich mit. Obgleich Sinclair Vanzetti am Ende den Status eines Heiligen erteilt, der sich vor seiner Hinrichtung mittels eines mönchischen Studiums zur Weisheit emporarbeitet, hebt er dennoch immer die »Schlichtheit« und »Einfältigkeit« der italienischen Anarchisten hervor.
Trotz allem zeichnet Sinclair ein komplexeres Bild des Falles, als es in der gängigen Legende vom »guten Schuhmacher« und »armen Fischhändler« zum Tragen kommt. Der Roman besticht durch akkurate Fakten, eine Vielzahl von Quellen und einem vielschichtigen Verständnis der Charaktere, das sich in späteren Werken anderer Autoren – fiktionaler wie nicht-fiktionaler Provenienz – nicht wiederfindet. Zu Recht urteilte der Historiker Paul Avrich, dass der Roman ein »klassischer Abriss des Falls« sei, und Sinclair selbst war überzeugt, dass ihn der Roman überleben werde.5 Doch auch wenn Sinclair die Spannungen in den anarchistischen Milieus der 1920er Jahre kritisch aufzeigte und nicht die pazifistische Legende Saccos und Vanzettis weitersponn, endet das Buch in einer pathetischen Beschwörung des Traums einer Zivilisation, in dem »der Reichtum den Schöpfern des Reichtums gehört« und »die Frucht der Arbeit dem Arbeiter«, ohne dass die Kategorien »Reichtum« und »Arbeit« in einem gesellschafts- und ökonomiekritischen Kontext hinterfragt werden.6 Stattdessen bleibt am Ende des Romans nur die fragwürdige Sentenz einer biblisch verbrämten Vorstellung eines gefräßigen Sozialismus: »Was meine Auserwählten mit eigenen Händen erarbeitet haben, werden sie selber verbrauchen« (Jesaja 65, 21–22). Von Nachhaltigkeit ist keine Rede.
In seinem Roman lässt Sinclair die mögliche Verstrickung Saccos und/oder Vanzettis in den Überfall offen. Dennoch wird in Anlehnung an die weithin angewandte anarchistische Praxis der »Enteignung« die Möglichkeit der »Expropriation« als Reaktion auf empfundenes soziales Unrecht diskutiert. Diese Praxis wurde im Umfeld des italienischen Agitators Luigi Galleani, zu deren Anhängern Sacco und Vanzetti zählten, zumindest für legitim gehalten. Auf der amerikanischen Seite manifestierte sich die Auflehnung gegen den Staat in historischen Figuren wie John Brown oder Henry David Thoreau, die in Sinclairs Diskussion revolutionärer Gewalt als potenzielle Vorläufer einer emanzipatorischen Praxis auftreten.
[pullquote]Sinclair stieg in die Geschichte als ein »muckraker« hinab, als ein talentierter progressiver Journalist und Reformer ohne irgendeine literarische Technik.«7 — Morris Dickstein[/pullquote]
Dass Sinclair sich in der Schuldfrage in Bezug auf Sacco und Vanzetti nicht festlegte, stieß den Kritikern der anarchistischen Zeitschrift Road to Freedom negativ auf. So griffen sie den sozialistischen Autor als konterrevolutionären Schreiberling an, ohne sich mit den Fakten auseinanderzusetzen, die der »soziale Detektiv« (wie ihn Alfred Kazin nannte) lieferte.8
It’s a Phoney World
In seinem Nachwort lobt dagegen Dietmar Dath, der als Journalist auf der Gehaltsliste der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht, das »Ineinandergreifen von Recherche und Erzählkunst« bei Sinclair, dem eine »Abbildung einer sozialen Totalität« im Sinne Georg Lukács gelungen sei. Alle Gruppen, die in einer Gesellschaft vorkommen und deren Geschichte entweder lenken oder exemplarisch erleiden, sollten nach Lukács auch im Roman auftreten, und der Standpunkt [sic!], den das Kunstwerk einnehme, solle sie alle überblicken.9 Aus dem leninistischen Mausoleum starren die toten Augen des Zelluloid-Agenten über die lehmigen Gräben. Während Dath Elogen auf die »Romankunst« Sinclairs hält und über »Wahrheit und Revolution« schwadroniert, echauffiert sich sein FAZ-Kollege Jasper von Altenbockum nach den »Riots« während des G20-Gipfels in Hamburg im Juli 2017 über den »anwaltlichen Notdienst« der »Linksextremisten«, die »Rechtsverdreher«, die der Polizei in den Rücken gefallen seien.10 In solchen »Ausnahmesituationen«, wie sie der FAZ-Journalist wahrnimmt, sollen offenbar rechtsstaatliche Prinzipien – wie schon in den 1920er Jahren – außer Kraft gesetzt werden. Als »Muckraker« werden daher weder Dath noch von Altenbockum in Erinnerung bleiben. So hätte Upton Sinclair, »einer der großen Sozialhistoriker der modernen Zeit«11 (als den ihn Alfred Kazin beschrieb) eine würdigere »Nachrede« als dieses »phoney business« aus den leninistischen Katakomben verdient.
Bibliografische Angaben:
Upton Sinclair.
Boston. Ein zeithistorischer Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Viola Siegemund.
Mit einem Nachwort von Dietmar Dath.
Zürich: Manesse Verlag, 2017.
1030 Seiten, 42 EUR.
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Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti — Wikimedia Commons
Cover: Upton Sinclair — Boston — Manesse Verlag
März-Cover “Boston” — Philo Fine Arts, Hamburg 2011
Upton Sinclair 1906 — Wikimedia Commons
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Eine kürzere Fassung erschien in literaturkritik.de, Nr. 10 (Oktober 2017)
© Jörg Auberg 2017
Nachweise
- Brooke L. Blower, Becoming Americans in Paris: Transatlantic Politics and Culture between the World Wars (New York: Oxford University Press, 2011), S. 93–130 ↩
- Robert C. Rosen, John Dos Passos: Politics and the Writer (Lincoln: University of Nebraska Press, 1981), S. 52–56 ↩
- Robert Coover, The Public Burning (1976; rpt. New York: Grove Press, 1998). In seinem Vorwort zur Grove-Ausgabe wies William Gass auf die »Hexenjagd«-Tradition in der US-amerikanischen Geschichte von Sacco und Vanzetti bis zu den Rosenbergs im Kalten Krieg hin. (ibid., S. xi) ↩
- Daniel Aaron, Writers on the Left: Episodes in American Literary Communism (1961; rpt. New York: Columbia University Press, 1992), S. 172; John Dos Passos, U.S.A. (New York: Library of America, 1996), S. 1158 ↩
- Paul Avrich, Sacco and Vanzetti: The Anarchist Background (Princeton: Princeton UniversityPress, 1991), S. 161 ↩
- Upton Sinclair, Boston (Zürich Manesse, 2017), S. 969 ↩
- Morris Dickstein, A Mirror in the Roadview: Literature and the Real World (Princeton: Princeton University Press, 2005), S. 41 ↩
- Avrich, Sacco and Vanzetti: The Anarchist Background, S. 162; Alfred Kazin, On Native Grounds: An Interpretation of Modern American Prose Literature (1942; rpt. New York: Harcourt Brace, 1992), S. 120 ↩
- Dietmar Dath, »Der scheindefekte Wahrheitsautomat oder Was hat Recherche mit Romankunst zu tun?«, in: Sinclair, Boston, S. 1001–1002 ↩
- Jasper van Altenbockum, »Kapitulation des Staates«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Juli 2017 ↩
- Kazin, On Native Grounds, S.121 ↩