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Paul Auster: Bloodbath Nation

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Paul Austers Vermächtnis

Ein nahezu klassischer Essay über Waffengewalt

von Jörg Auberg

Im Juli 1945, als der Zwei­te Welt­krieg noch im vol­len Gan­ge war, kon­sta­tier­te der ita­lie­ni­sche Emi­grant Nic­coló Tuc­ci in der New Yor­ker pazi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics: »Das Pro­blem ist nicht, wie man den Feind los­wird, son­dern eher, wie man den letz­ten Sie­ger los­wird. Denn was ist der Sie­ger etwas ande­res als einer, der gelernt hat, dass Gewalt funk­tio­niert? Wer wird ihm eine Lek­ti­on ertei­len?«1 In sei­nem schma­len Essay­band Blood­bath Nati­on, das nach sei­nem Tod sein poli­ti­sches Ver­mächt­nis dar­stellt, hat Paul Aus­ter die his­to­ri­sche »Gewalt­pro­ble­ma­tik« der USA mit ihrem Waf­fen­fe­tisch the­ma­ti­siert, die sich spek­ta­ku­lär in Amok­läu­fen und Mas­sen­mor­den in kür­ze­ren Inter­val­len immer wie­der mani­fes­tiert und deren men­schen­lee­ren Orte der Foto­graf Spen­cer Ost­ran­der in kar­gen Schwarz­weiß­bil­dern festhielt.

Filmplakat für Law of the Lash (1947)
Film­pla­kat für Law of the Lash (1947)

Aus­ter hat­te nicht den Anspruch, in sei­nem knap­pen Essay Richard Slot­kins volu­mi­nö­se Tri­lo­gie über die Gewalt und Waf­fen­kul­tur der US-ame­ri­ka­ni­schen »fron­tier« vom 16. Jahr­hun­dert bis in die Rea­gan-Ära des 20. Jahr­hun­derts in geraff­ter Form zu erzäh­len.2 Er wähl­te einen per­sön­li­chen Ansatz, indem er von sei­ner Kind­heit berich­tet, in der die Idea­li­sie­rung des waf­fen­tra­gen­den Cow­boys, der mit Waf­fen­ge­walt die ihn umge­ben­den Ver­hält­nis­se regel­te, in die Vor­stel­lungs­welt eines Jun­gen ein­wan­der­te – und zwar in ers­ter Linie mit­tels der Popu­lär­kul­tur in den 1950er Jah­ren über die Nach­mit­tags­pro­gram­me des Fern­se­hens, in denen Dar­stel­ler wie Al »Fuz­zy« St. John oder Al »Lash« LaRue die »infan­ti­le Traum­welt der Fern­seh­cow­boys«3 ins Wohn­zim­mer und in die kind­li­che Ima­gi­na­ti­on trugen.

Neben die­ser all­ge­mei­nen kul­tu­rel­len Prä­gung kam bei Aus­ter noch die eige­ne Fami­li­en­ge­schich­te ins Spiel: Sei­ne Groß­mutter Anna Aus­ter erschoss 1919 ihren Mann Har­ry Aus­ter wegen Geld­strei­tig­kei­ten, nach­dem ihre Bezie­hung in die Brü­che gegan­gen war. Aus Rache ver­such­te ihr Schwa­ger, sie zu erschie­ßen, was jedoch miss­lang.4 Wegen zeit­wei­li­ger Unzu­rech­nungs­fä­hig­keit wur­de die Groß­mutter im Gerichts­ver­fah­ren frei­ge­spro­chen. Das fami­liä­re Trau­ma zer­stör­te auch das Leben von Paul Aus­ters Vater, der »ver­einsamt und gebro­chen« durch sein Leben schlich. In den Augen sei­nes Soh­nes war es »die Waf­fe, die das Leben mei­nes Vater runiert hat«.5 Wie Chris­ti­ne Bold im Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment unter­streicht, erzähl­te Aus­ter mehr­fach in sei­nen auto­bio­gra­fi­schen Tex­ten – von The Inven­ti­on of Soli­tu­de (1982) bis zu Win­ter Jour­nal (2012). In Blood­bath Nati­on ist es nicht ledig­lich eine fami­liä­re Epi­so­de, son­dern eine tie­fer­ge­hen­de Erfah­rung mit einer durch Waf­fen­ge­walt gepräg­te und trau­ma­ti­sier­te Fami­li­en­ge­schich­te.6

Soldiers at a burial for the dead at Wounded Knee, South Dakota, c. 1891.jpg|thumb|Soldiers at a burial for the dead at Wounded Knee, South Dakota, c. 1891
Mas­sen­grab nach dem Mas­sa­ker in Woun­ded Knee, 1891

Dar­über hin­aus rich­te­te Aus­ter sei­nen Blick von der indi­vi­du­el­len Erfah­rung auf das gesell­schaft­li­che Gan­ze: »War­um ist Ame­ri­ka so anders«, frag­te er sich, »– und was macht es zum gewalt­tä­tigs­ten Land der west­li­chen Welt?«7 In nahe­zu klas­si­scher Manier ver­fuhr der immer wie­der post­mo­der­ner Trick­ser bezeich­ne­te Autor in sei­nem Essay im kon­tem­pla­ti­ven Ver­we­ben von indi­vi­du­el­ler und his­to­ri­scher Erfah­rung. »Die Bezie­hung auf Erfah­rung – und ihr ver­leiht der Essay soviel Sub­stanz wie die her­kömm­li­che Theo­rie den blo­ßen Kate­go­rien – ist die auf die gan­ze Geschich­te«, kon­sta­tier­te Theo­dor W. Ador­no; »die bloß indi­vi­du­el­le Erfah­rung, mit wel­cher das Bewußt­sein als mit dem ihr nächs­ten anhebt, ist sel­ber ver­mit­telt durch die­über­grei­fen­de der his­to­ri­schen Mensch­heit; daß statt­des­sen die­se mit­tel­bar und das je Eige­ne das Unmit­tel­ba­re sei, blo­ße Selbst­täu­schung der indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaft und Ideo­lo­gie.«8

Black Panther Party armed demonstration on May 2, 1967
Bewaff­ne­te Demons­tra­ti­on der Black Pan­ther Par­ty am 2. Mai 1967

Nach Aus­ters Anga­ben sind 393 Mil­lio­nen Schuss­waf­fen im Besitz von US-Bürger*innen, und in einer Kul­tur der Gewalt, die mit­tels Aus­rot­tung der ansäs­si­gen und noma­den­haf­ten indi­ge­nen Völ­ker, Skla­ve­rei und Ras­sis­mus, Kapi­ta­lis­mus und Impe­ria­lis­mus die Ter­ri­to­ri­en und die Roh­stof­fe (inklu­si­ve der mensch­li­chen Indi­vi­du­en und Mas­sen) sich ein­ver­leib­te. Tat­säch­lich ging es im alten Wes­ten, wie Aus­ter beton­te, »wesent­lich zivi­li­sier­ter und fried­li­cher und siche­rer« zu als im aktu­el­len Ame­ri­ka, da in den Fron­tier-Ter­ri­to­ri­en nicht schieß­wü­ti­ge Revol­ver­hel­den ihr Unwe­sen trie­ben, son­dern in den Gemein­den aus Selbst­schutz kla­re Waf­fen­kon­trol­len durch­ge­führt wur­den.9 Gegen­wär­tig ist Waf­fen­be­sitz nicht ein Recht, son­dern nahe­zu eine Bür­ger­pflicht.10 die Waf­fen­ge­walt der staat­li­chen Auto­ri­tä­ten im Kampf gegen Min­der­hei­ten rief eine Gegen­ge­walt her­vor, mit der Aktivist*innen von Grup­pie­run­gen wie Red Power, den Young Lords oder den Black Pan­thers in den 1970er Jah­ren in medi­en­ge­rech­ter Sym­bo­lik mit Waf­fen in der Öffent­lich­keit auf­tra­ten, ohne dass dadurch die Gewalt- und Todes­spi­ra­le durch­bro­chen wur­de. »Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind durch Gewalt zustan­de gekom­men«, schloss Aus­ter sei­nen Essay, »haben aber durch eine Vor­ge­schich­te, hun­dert­acht­zig Jah­re in unun­ter­bro­che­nem Krieg mit den Urein­woh­nern des Lan­des, das wir ihnen weg­ge­nom­men haben, sowie kon­ti­nu­ier­li­che Unter­drü­ckung unse­rer ver­sklav­ten Min­der­heit – die zwei Sün­den, die wir in die Revo­lu­ti­ons­zeit mit­ge­bracht und für die wir bis heu­te nicht gebüßt haben.« 11

Paul Auster - Photographed by Siri Hustvedt
Paul Aus­ter (Foto­gra­fie von Siri Hustvedt)

Schluss­end­lich hat­te Aus­ter kein Pro­gramm zur Lösung des grund­le­gen­den Pro­blems: Weder eine restrik­ti­ve Waf­fen­kon­trol­le (die ver­mut­lich einen ille­ga­len Waf­fen­han­del beför­dern wür­de) noch ein unbe­schränk­ter Zugang zu Schuss­waf­fen wür­de dem Ver­häng­nis ein Ende berei­ten, da die Ursa­chen in der Geschich­te und in der kol­lek­ti­ven Psy­che Ame­ri­kas ver­gra­ben sind. Er las­se die Leser*innen nach der Lek­tü­re des Essays rat­los zurück, lau­te­te der wie­der­hol­te Vor­wurf der Kri­tik. »Aus­ter, einer der bes­ten Geschich­ten­er­zäh­ler der eng­li­schen Spra­che, erweist sich als sach­kun­di­ger und auf­ge­klär­ter Füh­rer, wäh­rend er durch die The­ma­tik mäan­dert«, kon­ze­dier­te Gary Younge in einer Rezen­si­on im Guar­di­an. »Aber sein Ver­säum­nis, ein Ziel zu anzu­zei­gen, geschwei­ge denn eines zu errei­chen, lässt den Leser wie zu Beginn ver­lo­ren und in einem Gefühl der Hoff­nungs­lo­sig­keit zurück.«12

Dabei ver­kennt der Rezen­sent jedoch das Wesen des Essays: Er »fängt nicht mit Adam und Eva an son­dern mit dem, wor­über er reden will«, insis­tier­te Ador­no; »er sagt, was ihm dar­an auf­geht, bricht ab, wo er sel­ber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr blie­be: so ran­giert er unter den Allo­tria.«13 In sei­nen Roma­nen agier­te Aus­ter, wie Chris Ward schrieb, als »Autor-Gott«, der Mann, der in sei­nem lite­ra­ri­schen Uni­ver­sum die Fäden zog und im Kos­mos des Zufalls die Figu­ren mit magi­schen Kunst­stü­cken durch die Kulis­sen schob.14 Trotz allem sind die lite­ra­ri­schen Wer­ke kei­nes­wegs post­mo­der­ne Spie­le­rei­en, son­dern – wie Adria­no A. Ted­de – in einer kri­ti­schen ame­ri­ka­ni­schen Tra­di­ti­on von Hen­ry David Tho­reau und Walt Whit­man ver­wur­zelt und hal­ten die uto­pi­sche Flam­me eines »ande­ren Ame­ri­kas« als Gegen­be­we­gung zum his­to­ri­schen Nie­der­gang von »Ronald zu Donald« seit den 1980er Jah­ren auf­recht.15 Als Essay­ist muss­te er sich an die Erkennt­nis­se des alten Meis­ters hal­ten: »All of old. Not­hing else ever. Ever tried. Ever Fai­led. No matter.Try again. Fail again. Fail bet­ter16

© Jörg Auberg 2024

 

Bibliografische Angaben:

Paul Aus­ter.
Blood­bath Nation.
Mit Fotos von Spen­cer Ostrander.
Über­setzt von Wer­ner Schmitz.
Ham­burg: Rowohlt Ver­lag, 2024.
192 Sei­ten, 26 Euro.
ISBN: 978–3‑498–00323‑4.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Blood­bath Nation
© Rowohlt Verlag
Film­pla­kat Law of the Lash
© Pro­du­cers Releasing Corporation
Foto Mas­sen­grab in Woun­ded Knee
© Nor­thwes­tern Pho­to Co., Public domain, via Wiki­me­dia Commons
Foto Black Pan­ther Demonstration
© CIR Online, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wiki­me­dia Commons
Foto Paul Aus­ter
© Siri Hustvedt/Grove Atlantic

Nachweise

  1. Nic­coló Tuc­ci, »Com­mon­non­sen­se«, Poli­tics 2, Nr. 7 (Juli 1945):196
  2. Cf. Richard Slot­kin, Rege­ne­ra­ti­on Through Vio­lence: The Mytho­lo­gy of the Ame­ri­can Fron­tier, 1600–1860  (1973; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); The Fatal Envi­ron­ment: The Myth of the Fron­tier in the Age of Indus­tria­liza­ti­on, 1800–1890 (1985; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 2000); Gun­figh­ter Nati­on: The Myth of the Fron­tier in Twen­tieth-Cen­tu­ry Ame­ri­ca  (1992; rpt. Nor­man: Uni­ver­si­ty of Okla­ho­ma Press, 1998)
  3. Paul Aus­ter, Blood­bath Nati­on, übers. Wer­ner Schmitz (Ham­burg: Rowohlt, 2024), S. 10
  4. Paul Aus­ter, The Inven­ti­on of Soli­tu­de (Lon­don: Faber & Faber, 1992), S. 35–44
  5. Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21
  6. Chris­ti­ne Bold, »The Gunk, Gore and Hor­ror: Paul Aus­ter Con­fronts the Hard Facts of US Gun Law«, Times Lite­ra­ry Sup­ple­ment, 24. März 2023, https://www.the-tls.co.uk/articles/bloodbath-nation-paul-auster-spencer-ostrander-book-review-christine-bold/
  7. Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 21
  8. Theo­dor W. Ador­no, »Der Essay als Form«, in: Ador­no, Noten zur Lite­ra­tur, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1981), S. 18
  9. Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 83
  10. Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 70
  11. Aus­ter, Blood­bath Nati­on, S. 159
  12. Gary Younge, »US Gun Vio­lence Under the Micro­scope«, Guar­di­an, 11. Janu­ar 2023, https://www.theguardian.com/books/2023/jan/11/bloodbath-nation-by-paul-auster-review-a-response-to-the-us-gun-crisis
  13. Ador­no, »Der Essay als Form«, S. 10
  14. Chris Ward, Rea­ding Paul Aus­ter (o. O.: Wis­dom Twin Books, 2023), S. 33
  15. Adria­no A. Ted­de, Mar­gi­na­li­sa­ti­on and Uto­pia in Paul Aus­ter, Jim Jar­musch and Tom Waits: The Other Ame­ri­ca (Lon­don: Rout­ledge, 2022)
  16. Samu­el Beckett, Nohow On (Lon­don: John Cal­der, 1992), S. 101

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