Der Bogeyman der Moderne
James Joyce und die Abgründe der Politik
Von Jörg Auberg
»When you tell the Irish that they are slow in recognizing their own men of genius they reply with street riots and politics.«1
Ezra Pound, 1917
»I have no wish to codify myself as anarchist or socialist or reactionary.«2
James Joyce, 1907
Im Oktober 1939, als er Zuflucht in einem Pariser Hotel gesucht hatte, ging James Joyce in Begleitung Samuel Becketts in seine alte Wohnung, um einige Bücher zu holen. Äußerst erregt, da diese Dinge des alten Lebens unwiderruflich der Vergangenheit angehörten, sprang er zum Klavier und sang für eine halbe Stunde mit lauter Stimme, ehe er Beckett fragte: »Welchen Nutzen hat dieser Krieg?« Für Joyce war die Antwort klar: keinen. Und was weitaus schlimmer war, kommentierte der emphatische Joyce-Biograph Richard Ellmann, dass dieser Krieg die Welt von der Lektüre von Finnegans Wake ablenkte, worin die Bedeutungslosigkeit von Kriegen im vollständigen Kreis menschlichen Handelns in vollkommener Klarheit dargelegt wurde.3
In dieser Episode, die Ellmann auf Basis eines Interviews mit Beckett im Jahre 1954 rekonstruierte, erschien Joyce als apolitischer Künstler, der – obgleich er den herrschenden politischen Verhältnissen seiner Zeit unterworfen war – der Politik überdrüssig war, doch sah er (wie Josephine McQuail schrieb) die »Lösung des Problems der Politik als das Ende der Politik«.4 Trotz allen Unbills (in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht) vermochte Joyce – wie Irving Howe anerkennend vermerkte – den »Heroismus« des Modernismus bis zum Ende zu leben, während andere Prominenzen der einstigen Avantgarde wie Ezra Pound oder T. S. Eliot im Fahrwasser des Autoritarismus oder der Reaktion endeten.5 der Modernismus war, wie Stephen Eric Bronner schrieb, eine »antiautoritäre Reaktion« auf die Modernität, und die »Modernisten« begriffen sich als »Revolutionäre des Geistes und Vorboten einer neuen Menschheit«. Deren neue Gemeinschaft würde einen anarchistischen Geschmack entfalten.6 Die antiautoritäre Revolte bedeutete nicht per se eine Befreiung von den Chimären des Autoritarismus. Wie Theodor W. Adorno 1969 konstatierte, west in den Antiautoritären Autorität fort, und so endete eine breite Phalanx politischer und kultureller »Revolteure« am rechten Rand.7
In seinem unbeirrbaren »Egoismus« (in dem Joyce – wie Jean-Michel Rabaté beobachtete – einen politischen mit einem ethischen Impetus verband8) blieb er sowohl resistent gegenüber autoritären Verführungen als auch Vereinnahmungen von scheinbar emanzipatorischen Unternehmungen. Nachdem das Jahrhundertwerk Ulysses 1934 die Zensurschranken der USA überwunden hatte, diskutierten Sprachrohre der »proletarisch-revolutionären Literatur«, wie Joyces Methoden für die Darstellung gesellschaftlicher oder menschlicher Konflikte vor dem Hintergrund des Klassenkampfes genutzt oder benutzt werden könnten. William Philipps, ein Redakteur der kommunistischen Zeitschrift Partisan Review (der in den 1980er Jahren zu den publizistischen Multiplikatoren des Neokonservatismus gehörte), tadelte Joyces negativen Einfluss auf die neue Generation der »Arbeiterschriftsteller« und bemängelte die fehlende revolutionäre Kampfbereitschaft in Ulysses.9
In erster Linie ging es darum, Joyces Position in der modernen Literatur zu diskreditieren, um die Vorstellung eines »revolutionären« sozialen Realismus in der literarischen Produktion durchzusetzen. Auf dem sowjetischen Schriftstellerkongress im Sommer 1934 reduzierte der ehemalige Weggefährte Leo Trotzkis und spätere stalinistische Überläufer Karl Radek (über den Trotzki sagte, er sei viel tiefer gefallen, als er angenommen habe 10) auf die simple Formel »James Joyce oder Sozialistischer Realismus«. Dem »mysteriösen Autor von Ulysses« warf er vor, den »Kleinbürgern« Leopold Bloom und Stephen Daedalus durch die Gassen, Kaschemmen und Bordelle Dublins zu folgen, anstatt seine Aufmerksamkeit den »großen Ereignissen des Klassenkampfes«, den »titanischen Auseinandersetzungen der modernen Welt« zuzuwenden. Der Roman sei ein »Misthaufen voller kriechender Würmer, fotografiert mit einer Mikroskop-Kamera«, echauffierte sich Radek, um sodann das »morbide Interesse« eines Teils »unserer Autoren« zu geißeln: »Dieses Interesse an Joyce ist ein unbewusster Ausdruck der Neigungen einiger rechter Autoren, die sich der Revolution angepasst haben, aber in Wirklichkeit ihre Größe nicht verstehen.«11
Für Philipps und Radek war Joyce ein »Bogeyman«, der die Auftragsschreiber der Revolution (die auf der neu asphaltierten »Grub Street« sowjetischer Prägung ihre Existenzberechtigung verdienen sollten) in die Irre oder zumindest in den kleinbürgerlichen Abgrund oder den Abort führte. In den Augen der kommunistischen Apologeten eines »sozialrevolutionären« Realismus klebte Joyce an einem extremen Subjektivismus, in der sich kleinbürgerliche Durchschnittlichkeit und alltäglicher Stumpfsinn austobten, ohne die Signale für das Große, den Umsturz und die Geburt des neuen Menschen wahrzunehmen. Im Kontext eines »sozialen Realismus« kommunistischer Prägung wurde Joyce immer aufs Neue mit dem Abort assoziiert. »Wollte Joyce Napoleon auf das Klosett des Kleinbürgers Bloom setzen«, schrieb Georg Lukács, »so würde er gerade das hervorheben, was zwischen Napoleon und Bloom gemeinsam ist.«12 Im Ekel vor der Avantgarde trafen sich die Eliten stalinistischer und bürgerlicher Herrschaft vor den Aborten: In Anklang an Lukács’ Ekel über Ulysses erschauderte Edith Sitwell in der Diskussion über den ähnlich skandalumwitterten Roman Naked Lunch von William Burroughs und weigerte sich, für den Rest ihres Lebens mit der Nase an die Klobrillen anderer Leute genagelt zu sein.13
Ein Sucher nach neuen Ausdrucksformen ist realiter ein Rebell«, schrieb der tschechisch-amerikanische Anarchist
Hippolyte Havel, »und wo findet man einen Rebellen ohne anarchistische Neigungen?«14 Diese Neigungen hatte Joyce – zumindest zeitweise – wohl auch. In einer Notiz für seinen Biografen Herbert Gorman listete er die Bücher jener Autoren aus seiner Bibliothek auf, die mit dem Anarchismus in Verbindung standen: »Most, Malatesta, Stirner, Bakunin, Kropotkin, Elisée Reclus, Spencer und Benjamin Tucker«15. Der Impetus für Joyces Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse war das Ineinandergreifen der ökumenischen Macht des britischen Imperiums und der römischen Kirche. Nach Auffassung Richard Ellmanns hatte Michail Bakunins Schrift Gott und der Staat (1871) entscheidenden Einfluss auf das politische Denken Joyces. Für ihn bildeten Staat und Kirche, argumentiert Ellmann, ein oppressives Gemisch aus krassem Materialismus und hochfliegendem Idealismus, wogegen das künstlerische Schreiben einen Akt des Widerstands und der Befreiung darstellte.16
Dezidierter als Ellmann verfolgte sein Doktorand Dominic Manganiello Joyces politische Auffassungen. Während Joyce für die marxistische Variante des Sozialismus kaum Enthusiasmus verriet, faszinierten ihn Anarchisten wie Bakunin, Kropotkin oder Malatesta als Repräsentanten eines »Egoismus«, der das Individuum ins Zentrum der Gesellschaft rückte, ohne dass es gesellschaftlichen, kulturellen oder intellektuellen Zwängen unterworfen wäre. In den Augen Manganiellos verfolgte Joyce eine politische Vision, die aus einem »Sozialismus ohne Marx« und einem »Anarchismus ohne Gewalt« bestand.17 Manganiellos Diskussion des anarchistischen Einflusses auf Joyces Werk beruht im Wesentlichen auf klassischen Historiografien von Paul Eltzbacher und George Woodcock, die aus heutiger Sicht weitgehend antiquiert erscheinen. Bei Manganiello erscheint »der Anarchismus« als homogener Block, und häufig spricht er von »den Anarchisten«, als stellten sie eine verschworene Gruppe dar. Während er noch einmal Bakunins Konflikt mit Marx in Kürze referiert und die Geschichte des Sozialismus im 19. Jahrhundert in den traditionellen Binaritäten von Staatssozialismus und Anti-Etatismus erzählt, vergisst er die die anarchistische Debatte um Interventionismus und Antimilitarismus in den Jahren zwischen 1914 und 1917, als Joyce die Arbeit zu Ulysses aufnahm.18 in seinem Buch Anarchism: A History of Libertarian Ideas and Movements (das erstmals 1962 erschien) betrieb der kanadische Schriftsteller, Kriegsdienstverweigerer und zeitweilige anarchistische Aktivist George Woodcock (1912–1995) eine Einbalsamierung des Anarchismus, ehe er im Zuge der Jugendrevolten in den 1960er Jahren von den Toten wieder auferstand. In seiner Historiografie etablierte Woodcock einen Kanon der klassischen Tradition, in dem sich Mythen und Realitäten verschränkten, wobei Kropotkin die Rolle des »good guy« und Bakunin jene des »bad boy« zukam. Die Politologin Ruth Kinna wies jedoch darauf hin, dass diese Stereotypen in der Geschichtsschreibung die historischen Realitäten simplifizieren und im Laufe der Jahrzehnte zumindest drei »Anarchismen« individualistischer, kollektivistischer und kommunistischer Prägung existierten.19
In Joyces Werk sind die anarchistischen Spuren überschaubar, und im Gegensatz zu Kafka suchte er auch nie Kontakt zu anarchistischen Aktivisten oder Gruppen, sondern beschränkte sich auf die Lektüre von anarchistischen Autoren wie Benjamin Tucker, dessen Buch über den individualistischen Anarchismus (Instead of a Book, 1893) ihn in seiner Konzeption des gegen die Zwängen der engstirnigen Gesellschaft aufbegehrenden Künstlers Stephen maßgeblich beeinflusste: Beseelt von einem »unausrottbaren Egoismus« begreift sich Stephen als »Herold einer neuen Ordnung«.20 in Ulysses verstreute Joyce verklausulierte Hinweise auf Johann Most (den vom Sozialdemokraten zum Anarchisten konvertierten Autor der Schrift Die Gottespest 21 und Bakunin (»Gott will Blutopfer«), während er Leopold Bloom in der »Circe«-Episode als Parodie eines gewalttätigen, umstürzlerischen Anarchisten auftreten lässt.22
Obwohl Joyce nach seiner Zeit in Triest sich nicht weiter mit sozialistischer Politik beschäftigte und sich stattdessen seinen radikalen literarischen Experimenten widmete, war dies jedoch nicht Ausdruck einer Desillusionierung mit den Möglichkeiten des internationalen Sozialismus, die ihn – wie Robert Scholes mutmaßte – mit autoritären Lösungen in Politik und Kunst sympathisieren ließ. In den Jahren, als sich Joyce ernsthaft mit Politik auseinander setzte, schrieb Scholes, favorisierte er eine Revolution, die eine parlamentarische Regierung unterdrückte, die katholische Kirche enteignete, die Bourgeoisie bestrafte und das Proletariat befreite. Dies wurde, so schlussfolgerte Scholes, das Programm von Benito Mussolinis faschistischer Partei, als er 1921 die sozialistischen Elemente seines Programms über Bord warf, um nur sein Antiparlamentarismus beizubehalten.23
Für Jeff Shantz sind diese Versuche, Joyces Politik durch das Objektiv traditioneller sozialistischer Kategorien zu dechiffrieren, nicht dazu geeignet, »die Komplexität von Joyces idiosynkratischer politischer Vision« zu verstehen. In den Augen Shantz’ entwarf Joyce den Künstler als Herold einer neuen Welt nicht gegen das Gleichheitsprinzip des Sozialismus, sondern als dessen Realisator, der nach dem Erreichen dieses Ziels sich anderen Unternehmungen zuwenden konnte.24 obwohl Joyce 1907 sein Interesse am Sozialismus verlor, schrieb Lionel Trilling, schuf er mit Ulysses doch einen einzigartigen Klassiker der Weltliteratur, in dem mit Leopold Bloom eine literarische Figur ins kulturelle Gedächtnis festgeschrieben wurde, die nachdrücklich Sympathie für fortschrittliche gesellschaftliche Ideen zum Ausdruck brachte.25
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Selected Letters | © Faber & Faber |
Cover Ulysses — The 1922 Text | © Oxford University Press |
Cover Mimmo Paladino — Ulysses | © Insel Verlag |
Cover Joyce’s Politics | © Routledge |
Cover Ulysses (Bodley-Head-Fassung) | © Alfred A. Knopf |
Cover Ulysses (Wollschläger-Fassung) | © Büchergilde Gutenberg |
Zuerst erschienen in feuerstuhl.org, Nr. 3
© Jörg Auberg 2020
Nachweise
- Ezra Pound, »James Joyce: At Least the Novel Appears«, The Egoist, 2:4 (Februar 1917), S. 22 ↩
- James Joyce, Brief an Stanislaus Joyce, 1. März 1907, in: Selected Letters of James Joyce, hg, Richarld Ellmann (1975; rpt.London: Faber and Faber, 1992), S. 151–152 ↩
- Richard Ellmann, James Joyce (1959; erw. New York: Oxford University Press, 1982), S. 728 ↩
- Josephine A. McQuail, »Suspicious of the State: The Anarchist Politics of James Joyce«, in: Specters of Anarchy: Literature and the Anarchist Imagination, hg. Jeff Shantz (New York: Algora, 2015), S. 81 ↩
- Harvey Teres, Renewing the Left: Politics, Imagination, and the New York Intellectuals (New York: Oxford University Press, 1996), S. 112 ↩
- Stephen Eric Bronner, Modernism at the Barricades: Aesthetics, Politics, Utopia (New York: Columbia University Press, 2012), S. 12–13 ↩
- Theodor W. Adorno, Stichworte: Kritische Modelle 2 (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969), S. 183; John P. Diggins, Up From Communism: Conservative Odysseys in American Intellectual Development (1975; rpt. New York: Columbia University Press, 1994); John P. Diggins, The Rise and Fall of the American Left (1973; rpt. W. W. Norton, 1992) ↩
- Jean- Michel Rabaté, James Joyce and the Politics of Egoism (New York: Cambridge University Press, 2001), S. 40 ↩
- William Philipps (als »Wallace Phelps«), »The Methods of Joyce«, New Masses, Nr. 10:8 (20. Februar 1934), S. 26; Barbara Foley, Radical Representations: Politics and Form in U.S. Proletarian Fiction, 1929–1941 (Durham: Duke University Press, 1993), S. 58–59 ↩
- Isaac Deutscher, The Prophet: The Life of Leon Trotsky (London: Verso, 2015), S. 1111 ↩
- Karl Radek, »Contemporary World Literature and the Tasks of Proletarian Art«, https://www.marxists.org/archive/radek/1934/sovietwritercongress.htm#s7; Jeffrey Segall, Joyce in America: Cultural Politics and the Trials of Ulysses (Berkeley: University of California Press, 1993), S. 12–47 ↩
- Georg Lukács, »Die intellektuelle Physiognomie der künstlerischen Gestalten«, in: Lukács, Essays über Realismus (Berlin: Aufbau-Verlag, 1948), S. 73 ↩
- Edith Sitwell, Brief an den Herausgeber, Times Literary Supplement, 28. November 1963, rpt. William S. Burroughs, The Naked Lunch (London: Paladin, 1986), S. 213 ↩
- Hippolyte Havel, zitiert in: Paul Avrich, The Modern School Movement: Anarchism and Education in the United States (1980; rpt. Oakland, CA: AK Press, 2006), S. 146 ↩
- Ellmann, James Joyce, S. 142Fn. ↩
- Richard Ellmann, »The Politics of Joyce«, New York Review of Books, 24:10 (9. Juni 1977), https://www.nybooks.com/articles/1977/06/09/the-politics-of-joyce/ ↩
- Dominic Manganiello, Joyce’s Politics (1980; rpt. London: Routledge & Kegan Paul, 2016), S.232 ↩
- Cf. Peter Ryley, »The Manifesto of the Sixteen: Kropotkin’s Rejection of Anti-War Anarchism and his Critique of the Politics of Peace«, und Carl Levy, »Malatesta and the War Intercentionist Debate 1914–1917: From the ›Red Week‹ to the Russian Revolutions«, in: Anarchism, 1914–18: Internationalism, Anti-Militarism and War, hg. Matthew S. Adams und Ruth Kinna (Manchester: Manchester University Press, 2017), S.49–92 ↩
- Ruth Kinna, Kropotkin: Reviewing the Classical Anarchist Tradition (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2016), S. 9–23; Ruth Kinna, The Government of No One: The Theory and Practice of Anarchism (London: Pelican, 2019), S. 42–54 ↩
- James Joyce, Stephen Hero (New York: New Directions, 1963), S. 34, 42 ↩
- Johann Most, Die Gottespest (1887), https://www.marxists.org/deutsch/referenz/most/1887/xx/gottespest.htm) ↩
- James Joyce, Ulysses (New York: Everyman’s Library, 1997), S. 224, 295, 686; Don Gifford, Ulysses Annotated (Berkeley: University of California Press, 1989), S. 156–157 ↩
- Robert Scholes, Protocols of Reading (New Haven: Yale University Press, 1989), S. 37–38 ↩
- Jeff Shantz, Against All Authority: Anarchism and the Literary Imagination (Charlottesville, VA: Imprint Academic, 2011), S. 71 ↩
- Lionel Trilling, The Moral Obligation to be Intelligent: Selected Essays, hg. Leon Wieseltier (Evanston, IL: Northwestern University Press, 2008), S. 468 ↩