Marseille Transfer
Im Labyrinth von Exil und Widerstand während der 1940er Jahre
von Jörg Auberg
Prolog
Im Oktober 1970 schrieb Alfred Kantorowicz zur Vorgeschichte seines Erinnerungsbuches Exil in Frankreich: Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten:
Die wunderlichen Umstände, die mein Entkommen aus dem besiegten Frankreich nach den USA ermöglichten, liegen jetzt 30 Jahre zurück. Das Drum und Dran dieser Abenteuer, die Hunderttausende zu bestehen hatten, ist ein in Deutschland wenig bekanntes, auch im Ausland schon fast vergessenes Rankenwerk der Zeitgeschichte. Es ist an der Zeit, auch daran zu erinnern, denn es gibt nicht mehr viele Erlebniszeugen.1 |
Die Bezeichnung »Emigrant« wurde zum Stigma. »Wir waren lästig wie Termiten«, lässt Erich Maria Remarque seinen Erzähler Schwarz im Roman Die Nacht von Lissabon über die Flüchtlinge sagen, »und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob.«2 Emigrant*innen strömten über den unbesetzten Teil Frankreichs nach Marseille, der zum letzten Fluchtort im nazistischen Europa wurde. Nach einem bitteren Wort des politischen Aktivisten und KZ-Überlebenden David Rousset waren Marseille und Auschwitz »die beiden einzigen offenen Häfen Europas«.3 Dennoch bedeutete das Erreichen des alten Hafens von Marseille nicht ein Entkommen in die Freiheit, denn die Stadt war (wie es in Remarques Roman heißt) ein »Jagdplatz der Gendarmen und Gestapo. Sie fingen die Emigranten vor den Konsulaten ab wie Hasen.«4 Lediglich ein Bruchteil der Emigrant*innen fand Zugang zu den Passagen auf den Schiffen in die USA oder nach Lateinamerika, und selbst die Flüchtlinge, denen es gelang an Bord zu gelangen, liefen Gefahr (wie Kantorowicz schrieb), wieder heruntergeholt zu werden.5 Kantorowicz gehörte zu den wenigen Glücklichen, die ein Happy-End in New York erlebten.
Schaut auf diese Stadt
In einer Skizze über Marseille, die im Jahre 1929 in der Zeitschrift Neue Schweizer Rundschau erschien, charakterisierte Walter Benjamin die südfranzösische Stadt als »gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen heruasfließt«. Benjamin zeichnet das Bild einer Stadtmaschine im Zerfall, die in einem »Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze« die Bewohner dehumanisiert und zerstört. »Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte. Im Gaumen aber sieht es rosa aus. Das ist hier die Farbe der Schande, des Elends.«6 Den Text empfand er im Gegensatz zu anderen urbanen »Denkbildern« aus dieser Zeit schwach, doch war es ein zäher Kampf um Worte: Dieser Stadt »einen Satz abringen zu können«, sei »schwerer als aus Rom ein Buch herauszuholen«7 Während Benjamin den alltäglichen Geist der urbanen Spektakel in Marseille mit surreal-grotesker Überzeichnung einzufangen suchte, fokussierte sich Siegfried Kracauer in seiner Analyse »Zwei Flächen« (1926) auf die Oberflächengeometrie, die Öde und Trägheit des urbanen Raums. »Eine Mauer ist der Vorbote des Platzes. Schlaflos hält sie sich aufrecht und verriegelt das Labyrinth.«8
In seinem Text beschrieb Kracauer Marseille als »Fluchtort aller Perspektiven«9. Ein Jahrzehnt später wurde die Stadt für unzählige Flüchtlinge zur letzten Hoffnung auf ein Entrinnen aus der Hölle des deutschen Nazismus. »Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die menschliche Zivilisation nie zuvor von so vielen Gefahren bedroht worden ist wie heute«10, schrieben Leo Trotzki und André Breton 1938. Für Benjamin gab es kein Entkommen ans rettende Ufer, während Kracauer die Monate in Marseille in »Qual und Elend« verbrachte. Aber trotz »Unsicherheit, Armut und Gefahr, mit der im Vichy-Frankreich gestrandete jüdische Flüchtlinge« konfrontiert waren, nahm er – wie die Filmhistorikerin Miriam Hansen mit Erstaunen feststellte – sein filmästhetisches Projekt »Theorie des Films« in seinen Marseille-Notizbüchern entwarf, in der er die Moderne als »versteinerte, gefrorene Landschaft der Geschichte« entschlüsselte.11
Die Untergegangenen und die Geretteten
Bevor viele Flüchtlinge aus der Stadt nach Sobibor deportiert wurden und die deutschen Besatzer das Hafenviertel von Marseille 1943 sprengten, organisierte das Emergency Rescue Committee (ERC) unter Leitung des jungen New Yorker Journalisten Varian Fry in Marseille die Flüchtlingshilfe vor Ort. Unterstützt von einem Netzwerk gleichgesinnter Einzelpersonen und Organisationen, wendeten Fry und seine Kolleg*innen legale und illegale Mittel an, um Flüchtlinge über die Pyrenäen nach Spanien oder Portugal und schließlich in die USA zu schleusen. Ursprünglich nur mit einer kurzen Liste von Personen angereist, denen er helfen sollte, war er binnen kurzer Zeit mit einer großen Zahl von Künstler*innen, Schrifsteller*innen und Intellektuellen konfrontiert, die über ihn eine Ausreise nach Nord- oder Südamerika zu organisieren hofften. Fry blieb in Marseille für dreizehn Monate, stets unter Überwachung der Vichy-Herrschaft, ehe er im September 1941 aus Frankreich ausgewiesen wurde.12 Zu denen, die Fry ihre Ausreise verdankten, gehörten Hannah Arendt, Franz Werfel, Heinrich Mann, Hans Sahl, Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Marc Chagall, Arthur Koestler, Marcel Duchamp, André Breton, Claude Lévi-Strauss, Max Ophüls, Siegfried Kracauer und viele andere. Wenn es Frys ERC nicht gegeben hätte, schrieb Victor Serge in seinen Memoiren, hätte eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Flüchtlingen nur die Möglichkeit gehabt, vom höchsten Punkt der Schwebefähre ins Meer zu springen.13
Lange gehörte Fry in den Jahrzehnten der Verdrängung von Schuld und Kollaboration nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu den vergessenen Helden, die im Kalten Krieg schmählich behandelt wurden.14 Erst 1967, im Jahre seines Todes, wurde Fry in Frankreich in Anerkennung seiner Verdienste in die Ehrenlegion aufgenommen, und 1994 als bis dahin einziger US-Staatsbürger als einer der »Gerechten unter den Völkern« in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem geehrt. In ihrem historischen Roman The Flight Portfolio aus dem Jahre 2019 (der die Vorlage zu der sechsteiligen Netflix-Serie Transatlantic bildete) versuchte Julie Orringer ihm und dem ERC ein Denkmal zu setzen, wobei sie sich jedoch in die typischen Pastiches der historischen Erzählung verirrte, in der ein antiquarisches Interesse die Wirkung des historischen Romans überlagert, indem Geschichte auf Kuriositäten und »name dropping« reduziert wird, ohne »der historischen Echtheit« (wie Georg Lukács insistierte) Genüge zu tun.15, In einer Kritik schrieb Cynthia Ozick, dass The Flight Portfolio eher Hitchcock denn Geschichte, mehr Verstrickung denn Erzählung sei.16 Exemplarisch ist die Szene, in der Fry die Nachricht vom Tod Walter Benjamins erreicht, wobei Benjamin in dieser Erzählung eher die literarisch-wissenschaftliche Ikone der post-1968er Jahre ist denn die reale historische Figur des verfolgten und mittellosen Emigranten von 1940.
Varian dropped into a chair and closed his eyes. Walter Benjamin, the German Jewish philosopher, critic, scholar; Benjamin, whose work had burned with a quiet and persistent fire in Varian’s mind since he’d first encountered it in college; Benjamin, whose name crowned his list, and who was rumored to write a new book.17 |
Orringer versucht ein historisches Ambiente zu evozieren, indem sie historische Figuren wie Hannah Arendt, Heinrich Blücher oder Lisa Fitko auf ihre historische Pastiche-Bühne zitiert, Zusammenhänge in einem Gemisch aus Gerüchten, Sentimentalität und massenkulturellen Zuschnitten des geschichtlichen Individuums fiktionalisiert und dekontextualisiert (für Benjamin auf der Flucht war Marseille eine Stadt überfüllt mit Flüchtlingen und beherrscht von einer »Atmosphäre der Unruhe«18). Sowohl als Romanschriftstellerin wie auch als Historikerin scheitert Orringer an ihrem Sujet. »Wie Orpheus muß der Historiker in die Unterwelt hinabsteigen, um die Toten ins Leben zurückzubringen«19, beschrieb Kracauer die Aufgabe der Historiker*innen, doch Orringer begnügt sich mit Plattitüden und Gerüchten, mit denen sie ihre historischen Figuren durch das Zwielicht der toten Stadt in Südfrankreich treibt. Zurück bleibt die »kalte Asche der Jahre«20, jedoch kein Leben. »Nur dem Geschichtschreiber wohnt die Gabe bei«, insistierte Benjamin, »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«21 Diese Geschichte stellt einen Trümmerhaufen dar, doch Orringer fühlt sich bemüßigt, die Trümmer in einem »Geschichtsfake« des Illusionstheaters zu übertünchen, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit stofflichen Mitteln des 19. Jahrhunderts, einer »Beseeltheit, welche die Stoffe verschwimmen läßt«22 (Adorno) verklärt, anstatt die bürgerliche Gesellschaft als verbrecherisches Gesamtsubjekt zu demaskieren.
Mehr als zehnmal nennt Orringer den Namen der Avantgarde-Zeitschrift Hound and Horn (1927–34), um Frys Verbundenheit mit der Avantgarde in seiner Harvard-Studentenzeit zu Beginn der 1930er Jahre zu unterstreichen. Fry gehörte selbst zur Redaktion dieser Vierteljahresschrift, die Texte von James Joyce, T. S. Eliot, John Dos Passos, e. e. cummings, Pablo Picasso, Gertrude Stein und William Carlos Williams publizierte. Immer wieder repetiert Orringer den Titel der Zeitschrift wie eine Beschwörung der Avantgarde vor ihrer Institutionalisierung durch die Kulturindustrie, wobei die Avantgarde eine inhaltsleere Stammesformation bleibt, die von der »Wichtigtuerei des Betriebs« liquidiert wird.23 Avantgarde ist bei Orringer Hieroglyphe, Transparent und Generationsfrage, weniger das Aufbrechen von Konventionen und die Entwicklung neuer Perspektiven. »Eine Generation ist eine Mode«, schrieb Harold Rosenberg, »aber die Geschichte ist mehr als Kostüm und Jargon.«24 Das Fehlen einer historischen Reflexion und die Einfältigkeit der Darstellung historischer Ereignisse prädestinierten den Roman für eine kulturindustrielle Aufbereitung im Streamingkosmos einer geschichtsfernen, bitorientierten, auf Impulse und Zeichen alert reagierenden Generation, die im Sinne von Streamlining und Digitalisierung mehr an Typen denn an Inhalten oder gar historischer Erfahrung interessiert ist.
Sowohl der Roman als auch die spätere Netflix-Serie operieren mit Abziehbildern einer falschen historischen Realität: Wie die Produzentin Anna Winger in einem Interview sagte, geht es nicht um die Emigration von »gewöhnlichen Menschen«, die vom nazistischen Regime verfolgt wurden, sondern um eine »Elite« von »Flüchtlingskoryphäen«25. In Transatlantic erscheinen lediglich Intellektuelle und Künstler als rettungswürdige Individuen. Die Menschenverachtung dieser Flüchtlingspolitik thematisierte bereits Erich Maria Remarque in seinem Roman Die Nacht von Lissabon:
Sie wissen [lässt Remarque seinen Erzähler Schwarz sagen], daß kein Visum erteilt wurde, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, daß man sehr gefährdet sei, oder wenn man nicht in Amerika auf eine Liste bekannter Künstler, Wissenschaftler oder Intellektueller gesetzt wurde. Als ob wir nicht alle gefährdet gewesen wären – als ob Mensch nicht Mensch wäre! Ist der Unterschied zwischen wertvollen und gewöhnlichen Menschen nicht eine ferne Parallele zu den Übermenschen und den Untermenschen?26 |
Diese Problematik bringen weder Roman noch Streamingserie zur Sprache. Wie Max Horkheimer beobachtete, gehorchen sowohl »Eliten« (Angestellte und Erfüllungsgehilf*innen des Produktionsapparats) als auch »Massen« einer Apparatur, »die in jeder Situation nur eine Reaktion für sie offenläßt«27 In einer Kritik für die trotzkistische Webseite World Socialist Web Site lobte Joanne Laurier, dass Transatlantic-Produzent*innen, »eine Geschichte des entschlossenen Widerstands gegen Grausamkeit und Autoritarismus in einem der tragischsten Momente der Geschichte« in Szene zu setzen28, wobei Laurier jedoch unterschlägt, dass sich die Darstellung dieses Widerstandes lediglich auf eine minoritäre Elite der Flüchtlinge in den frühen 1940er Jahren bezieht.
Der virulente Bazillus der Pandemie
In den frühen 1930er Jahren hatte der libertär-sozialistische Autor Daniel Guérin Reisen nach Deutschland unternommen, die er in seinem Buch La peste brune in den Kapiteln »Vor der Katastrophe« (1932) und »Nach der Katastrophe« (1933) beschrieb. Der Ausdruck der »braunen Pest« bezeichnete später auch die Nazi-Okkupation Frankreichs, die Albert Camus in seinem Roman Die Pest allegorisch beschrieb.29 Am Ende gibt es keine Befreiung, ist sich Camus’ Protagonist Doktor Rieux gewiss: Vielmehr werde der Pestbazillus niemals aussterben oder verschwinden, sondern auf den Tag der Reanimation warten, »an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird«30
Der Bazillus wirkt weiter. Während der Corona-Pandemie sollten mit dem staatlichen Hilfsprogramm »Neustart Kultur« (ähnlich wie mit dem Federal Writers Project in den USA während der Depression) Verlage und Autor*innen unterstützt werden. Mit nahezu 94 Millionen Euro wurden Projekte im Literaturbereich unterstützt. Wie die Recherche eines Teams des Senders Deutschlandfunk Kultur jedoch an Licht brachte, schauten die bürokratischen Apparate der Kulturförderung nicht so genau hin, wem sie mit Förderungsmitteln unter die Arme griffen: Unter anderem konnten verschwörungstheoretische und rechtsextreme Buchprojekte wie »Deutschland – verraten und verkauft« (gefördert mit 10.000 Euro) oder »Kulturkampf um das Volk« (gefördert mit 7.500 Euro) publiziert werden und sind über die üblichen Portale des Buchhandels erhältlich.31 Aus dem Staatsfonds finanzierte auch der sich als »unkonventionell, eigenwillig, kämpferisch« deklarierende und als »›verlegerisches U‑Boot in den Tiefen des Büchermeers‹« bezeichnende Verlag Edition Nautilus die Übersetzung des Romans Planet ohne Visum von Jean Malaquais (der zuerst im Jahre 1947 erschien)32 Die Verlagswerbung preist den Roman als »vergessenes Meisterwerk der französischen Exilliteratur« an, bewirbt es marktschreierisch als »Agententhriller und Milieustudie«, als »packendes Epos der Menschen ohne Papiere, dessen elegante Sprache und stilistischen Reichtum Nadine Püschel meisterhaft ins Deutsche übertragen hat.«33
Der Verlags-PR folgte auch das deutsche Feuilleton, deren Autor*innen Elogen auf den Autor und den Roman verbreiteten, die den Grundstrukturen einer eindimensionalen, nur in Details variierenden Erzählung folgten. Grundtenor dieser Beiträge war nicht allein, dass es sich bei Malaquais’ Roman um ein vergessenes, sondern ein unterdrücktes Meisterwerk handele, wobei im verschwörungstheoretischen Soundtrack die Urheber oder Täter dieser kulturellen Repression in einem weißen Rauschen untergingen. Historische Belege für die Unterdrückung blieben außen vor. »Fragt sich, wie [sic!] Jean Malquais so lange verborgen bleiben konnte«, raunte Insa Wilke in der Süddeutschen Zeitung, um wenig später mit einer konspirativen Vermutung um die Ecke zu kommen: »Ein politischer Grund dürfte auch sein, dass er Frankreich auf eine Weise kritisiert, die auch heutiges Handeln demokratischer Staaten, die anderen die Menschenrechte vorhalten, in ein trübes Licht stellt […].«34 Im dekontextualisierten historischen Narrativ wird der Roman als Frühform postmoderner Auflösung politischer Gegensätze und Zuordnungen in einem wabernden Text des literarischen Entertainments gefeiert. »Fest gefügte Vorstellungen von Gut und Böse, Linken und Rechten werden in Frage gestellt«, freute sich Fokke Joel in der taz über die Diffusität des Politischen. »Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte, werden zu Verrätern, andere tauchen plötzlich im Widerstand auf. Gleichzeitig kann Malaquais atmosphärisch und sprachlich so lebendig erzählen, dass vor dem inneren Auge des Lesers die prekäre Welt Marseilles während der deutschen Besatzung lebendig wird.«35
Auf der zweiten Ebene wird Malaquais nicht nur als urbaner »Modernist« in der Tradition von James Joyce, John Dos Passos und Alfred Döbin gefeiert36, sondern auch als antistalinistischer Linker jenseits von Kommunismus, Trotzkismus und Sektierertum. So schreibt der als »Deutschlands Krimipapst« deklarierte Thomas Wörtche in seiner Eloge auf einen »der großen Romane des 20. Jahrhunderts« im Internet-Magazin Culturmag: »Allerdings war Malaquais kein Trotzkist und kein Kommunist, sondern eher freischwebender Sozialist, Anarchist im positiven Sinne, nach eigenem Verständnis ein ›métèque‹, ein Außenseiter, ein Immer-Fremder aus eigenem Willen und Entschluss.«37 Eine kritisch-historische Herangehensweise zieht die »Feuilletoneska« nicht in Betracht: Ein Produkt der Literaturindustrie, das binnen kurzer Zeit von omnivoren Makrophagen im Blätterwerk des kapitalistischen Systems klassifiziert und ausgeschlachtet werden muss, ehe es in der Versenkung verschwindet, wird von den »Häschern und Henkern« des Betriebes als Spektakelobjekt zur Schau gestellt, ehe es im Orkus kapitalistischer Verwertung und Gewalt der Zerstörung und Vernichtung anheimfällt. 38
Die zeitgenössische Kritik nahm Malaquais’ Roman weniger euphorisch wahr, was in erster Linie an der zersplitterten Struktur lag, die keine einheitliche Erzählperspektive bot, zum anderen an einem offenbar fehlenden Standpunkt, mit dem sich der Autor im historischen Balzac-Kostüm als Linker, Liberaler oder Konservativer dem Publikum präsentierte. Dem Roman fehle es, monierte ein ungenannter Rezensent in der New York Times im Mai 1948, sowohl an ästhetischer Form als auch an moralischer Richtung. Für einen Künstler reiche es nicht aus, das Chaos der gesellschaftlichen Realität in Konfusion abzubilden.39 Obwohl Planet ohne Visum (in der englischen Übersetzung von Peter Grant unter dem Titel World Without Visa bei Doubleday erschienen) kein »erfolgreiches Prosawerk« sei, hielt der Rezensent Orville Prescott Malaquais für einen der fähigsten französischen Autoren und sah seinem nächsten Buch mit »eifriger Vorfreude« entgegen.40
Vautrin in New York
»Jean Malaquais war nicht allein mein bester Freund«, schrieb Norman Mailer im Vorwort zu einer überarbeiteten Neuausgabe von Planète sans Visa, »er war mein Mentor.«41 In der Historiografie der New Yorker Intellektuellen umgab Malaquais die Aura Jean Vautrins, des bösen Geistes aus Balzacs Comédie Humaine, der mit der Eloquenz von Luzifer oder Mephisto und einer Erotik der korrumpierenden, manipulierenden Macht junge vielversprechende Männer in den Abgrund zog.42 In seinen Erinnerungen bemerkte der Literaturkritiker Alfred Kazin eine seltsame Affinität zwischen Mailer und Malaquais, die auf Seiten des jungen Schriftstellers, der mit seinem Debütroman The Naked and the Dead (1948) zum literarischen Star New Yorks aufgestiegen war, den Bereich der Hörigkeit überschritt.43 In einem Interview mit Christopher Hitchens beschrieb Mailer seine persönliche Sicht des Verhältnisses zu Malaquais:
What happened was that I fell under the influence of Jean Malaquais, who would be ready to kill if somebody called him a Trotskyist, because he was a splinter Marxist. He’d gone so far beyond Trotskyism that he despised the Trotskyists. He loathed the Stalinists, they were the devil, but the Trotskyists at best were prodigiously misguided and were scoundrels and no good. And then he went on and on. Jean Malaquais had a position very far left, he really was an ideological Marxist. And I took that position up with great relief because it was an island, and it offered enormous purity. You really could be against everything, but with an inner purity of soul. I joined Malaquais’s party, which made us a party of two.44 |
In seinem Buch After the Revolution beschrieb Mark Shechner Malaquais als typischen Schismatiker in den Reihen orthodoxer und abtrünniger Adepten der linken Opposition jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie. In Shechners Lesart war Malaquais der Anführer einer »winzigen Fraktion« innerhalb des trotzkistischen Universums von New York, der es zwar nicht gelang, eine Partei zu bilden, aber zumindest einen Roman auf den Weg zu bringen (nämlich Mailers Barbary Shore, der – mit Shechners Worten – eine »trübe Mischung aus Absteigenexistenzialismus und Schlafzimmerdialektik« darstellte). Im Gegensatz zu den anderen Schismatikern im trotzkistischen Umfeld wie den »Oehleriten«, »Fielditen« oder »Musteiten« brachte Malaquais nicht genug Abtrünnige für einen eigenständigen Stamm hinter sich zusammen, die seine ökonomisch-deterministische Weltsicht teilen wollten, in der USA und UdSSR lediglich Reinkarnationen von Gog und Magog waren.45
Verrat und Niedergang
In einer überaus wohlwollenden Kritik der Netflix-Serie Transatlantic in der linken Zeitschrift New Politics deklariert Dan La Botz Malaquais’ Roman Planet ohne Visum als die »vielleicht realistischste Schilderung der Flüchtiglinge« im Hafen von Marseille.46 Geboren als Sohn jüdischer Eltern in Warschau im Jahre 1908 und mit dem Namen Wladimir Jan Pavel Malacki bezeichnet, war Malaquais selbst früh in die Fußstapfen seines Landsmannes Joseph Conrad getreten und hatte Reisen nach Osteuropa und in den Mittleren Osten unternommen, ehe er sich in Frankreich als Schriftsteller niederließ und die Gönnerschaft André Gides erwarb. In den späten 1930er Jahren schloss er sich linken Formationen im Umfeld des Trotzkismus an und floh nach der französischen Niederlage 1940 nach Südfrankreich. In Marseille hielt er sich mit der Mitarbeit in der Kooperative Croquefruits über Wasser, in der eine Reihe von Flüchtlingen aus den linken und künstlerischen Milieus arbeiteten. Gegründet von Lucien und Sylvain Itkine, stellte die Genossenschaft in einer selbstverwalteten Fabrik Schokoladenriegel aus Datteln, Haselnüssen, Mandeln und Pistazien her. In Léo Malets Nestor-Burma-Krimi Le cinquième procédé (im gleichen Jahr wie Malaquais’ Roman veröffentlicht) trägt die Kooperative den Namen Toufruit und erscheint als »furchtbar sympathisches Unternehmen«.47 In Malaquais’ Roman erscheint die Genossenschaft weniger sympathisch: Wie Geneviève Nakach in ihrer Malaquais-Biografie Malaquais Rebelle schreibt, ist die ursprüngliche Utopie von Croquefruits, die Vision einer egalitären und gemeinschaftlichen Kooperative in Planet ohne Visa einem »vulgären Unternehmen« im Dienste der Besatzer gewichen. Bei seinen Mitstreiter*innen bei Croquefruits hatte Malaquais, seiner Biografin zufolge, den Ruf eines »Meckerfritzen« und »Provokateurs«, wodurch die Schilderung der Kooperative im Roman geprägt wurde, sodass die Einschätzung der »vielleicht realistischsten Schilderung der Flüchtlinge« in Marseille im Jahre 1940 relativiert wird.48
Die beiden politischen Pole im Spannungsfeld der Kooperative sind die Figuren Marc Laverne und Ivan Stépanoff, die Malaquais nach den realen historischen Zeitgenossen Marc Chririk (1907–1990) und Victor Serge (1890–1947) modellierte. Geboren in Russland in die Familie eines jüdischen Rabbiners, schloss sich Chirik nach der Emigration nach Palästina und wenige Jahre später nach Frankreich der Kommunistischen Partei an, ehe er Ende der 1920er Jahre als Mitglied der »linken Opposition« ausgeschlossen wurde und den Weg durch die zerklüfteten Landschaften linksradikaler Schismatiker antrat, die unter den Bannern »Ligue Communiste«, »Union Communiste« oder »Gauche Communiste« marschierten. Victor Serge begann seine politische Karriere im anarchistischen Milieu, ehe er sich nach der Oktoberrevolution am Aufbau der Kommunistischen Internationale beteiligte. Nach der Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen im Jahre 1921 wechselte er jedoch zur linken Opposition und ging ins französische Exil, aus dem er Kontakt mit Leo aufnahm Trotzki.
Für seinen Roman übernahm Malaquais die Überschrift des 45. Kapitels aus Trotzkis Biografie Mein Leben (1930) als Titel: »Der Planet ohne Visum«.49 Malaquais war nach Aussage Chirics ein »enger fellow-traveller« der Gauche Communiste Internationale, die aus acht »Militanten« und einem dreiköpfigen Zentralkomittee bestand.50 Im Gegensatz zu Chiric, der im Kampf gegen den Faschismus und Stalinismus die Position eines »revolutionären Defätismus« vertrat, hatte sich Serge von den revolutionären Vorstellungen seiner Jugend gelöst und auf die Position eines »demokratischen Sozialismus« bewegt. In Malaquais’ fiktionaler Beschreibung der politischen Gegensätze in der Kooperative als auch im Milieu der Flüchtlinge in Marseille hatte Stépanoff seine einstige Ideale verraten und das »geringere Übel« gewählt: »Die Hölle war nicht länger der Kapitalismus an sich, sondern dessen braune Variante.« Er wurde zum »Verfechter einer Einheitsfront mit der Cholera gegen die Pest«.51
In den Augen Lavernes ist Stépanoff (und mit ihm die vergangene Generation von 1917) lediglich ein »Schatten dessen, der er einmal gewesen war, ein Schatten, der bisweilen noch die Illusion erweckte, am Leben zu sein«. Stépanoff sei tief gesunken und ein Verräter seiner selbst, der die Massen dazu aufrufe, »nicht den Kapitalismus an sich abzuschaffen, sondern den Faschismus, seine unvermeidliche Variante«, und befinde sich im »demokratischen Herrschaftsmodus«. Das Urteil der »Jungen« über den »Alten« (Stépanoff alias Serge) fiel ähnlich wie in den Moskauer Schauprozessen ohne jegliche Empathie aus: »Bis zur Invasion der UdSSR hatte Stépanoff seinen Niedergang immerhin noch einigermaßen unter Kontrolle; er kam ins Rutschen, verlor den Halt, berappelte sich einigermaßen.« 52
Die Utopie des proletarischen Humanismus
Im Gegensatz zur historischen Unerbittlichkeit der nachgeborenen »Militanten« hatte Stépanoff stets das humanitäre Ethos und die Emanzipation des Individuums im Blick. »Wir betrachteten [1917] die Geschichtze nicht als unpersönliches Rad, von dem das Individuum niedergewalzt wird«, heißt es in einem auf den 10. Oktober 1942 datierten Tagebucheintrag Stépanoffs. »Es ging uns wirklich darum, den Menschen zu befreien, sogar vom geschichtlichen Determinismus. Wir hatten recht. Der Mensch ist kein Mythos im Dienst einer entmenschlichten Geschichte. Letztere ist ein Mythos. Es gibt keine Geschichte ohne den Menschen.« 53 Stépanoff hatte – wie sein reales Vorbild Serge – (mit den Worten Mark Polizzottis) für die Revolution gekämpft und gelitten. Obwohl Serge Intellektuellen wie André Breton für ihren Einsatz dankbar war, als er in sowjetischen Gefängnislagern saß, betrachtete er sie doch mit einer leichten Verachtung als »Kaffeehausaktivisten«.54
Die ideologische Unerbittlichkeit der selbst ernannten »Militanten« ruinierte schließlich auch das Verhältnis zwischen Serge und Malaquais. Innerhalb der Emigranten-Organisation »Internationalist Socialist Commission« attackierte Malaquais Serge, ein »rechter Reformist« zu sein, und forderte Sanktionen gegen den Abtrünnigen, während Serge Malaquais’ Reputation als »ernsthafter Revolutionär« in Frage stellte.55 In seinen Notizbüchern berichtete Serge von einer Begegnung, in der Malaquais von einem Romanprojekt über die »Desertion der Revolutionäre« redete, woraufhin Serge konterte, Malaquais habe zu wenig von einem Revolutionär, um ein solches Thema behandeln zu können. Malaquais sei von einer bitteren, beißenden Aggression getrieben, vom »Temperament eines Neurotikers«, der alles nur in dunkelsten Farben schildern könne, sodass der »Bruch mit Jean Malaquais, unerklärlich dumm und brutal«, unausweichlich war.56
In seinem Roman Last Times, der die Flucht aus Europa nach »Amerika« beschreibt, verarbeitet Serge das Schicksal des revolutionären Intellektuellen in der Figur des alten Dr. Ardatov, der – mit den Worten der Serge-Biografin Susan Weissman – sich in »sardonischen Reflektionen über die Rolle der Intelligenz in einem von barabarischen Totalitarismen überwältigten Europa« ergeht.57 Auf dem Schiff in die »Neue Welt« wird der Entkommene von dem Stalinisten Willi Bart ermordet. In der Interpretation Richard Greemans symbolisiert dieser Mord die unaufhaltsame Ausrottung der ganzen Generation der revolutionären Militanten und Intellektuellen, zerrieben zwischen Nazismus und Stalinismus. Es ist eine tragische Symphonie, die jedoch nicht in Hoffnungslosigkeit versinkt: In Parenthese wird dem Ende die Coda »… but nothing has ended.« hinzugefügt.58 Noch im Moment des Untergangs bewahrte sich Serge die Utopie eines Besseren im Dunkel, den Gedanken an eine »Zivilisation freier und menschlicher Produzenten im weitesten Sinnes dieses Wortes«, wie er 1932 in dem schmalen Band Littérature et Révolution schrieb. »Ein jeder wird sich selbst eingestehen, daß man mühelos das Wahre vom Falschen, das Gerechte vom Ungerechten, die Pflicht vom Interesse und den Mut von der Seichtheit unterscheiden kann.«59
In den frühen 1930er Jahren träumte er von einer »Literatur leidenschaftlicher Kämpfer«60, doch sein letzter Roman war eher – wie Greeman betont – durch literarische Konventionen und gesellschaftliche Klischees (in denen Frauen zwischen der Madonna und der Hure changieren) bestimmt.61 Obwohl Irving Howe in einer Rezension in der Partisan Review den »journalistischen« Charakter des Romans kritisierte, stellte er ihn über die damals populäre »Renegatenliteratur« von Autoren wie Arthur Koestler. Das Buch sei »typischer Ausdruck eines vergangenen Zeitalters und einer zerstörten Generation«, das durch ein »unvermeidliches Pathos« und eine wie auch immer geartete Vornehmheit gekennzeichnet, auch wenn es als Roman eine gewisse Unzufriedenheit hervorrufe.62 Nicht nur in der Verwendung konventioneller und avancierter Romantechniken unterscheiden sich die Romane von Malaquais und Serge: Wie Pierre Masson in einer jüngeren Studie hervorhob, zeichnete Malaquais in seinem Pessimismus ein düsteres Bild vom untergehenden alten Europa, während Serge in seinem »Volontarismus« zumindest den Schimmer einer Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse durchscheinen lässt.63
In ihren von Klischees durchsetzten Schilderungen weiblicher Charaktere sind sich beide Romane sehr ähnlich. Zwar verstieg sich die Literaturkritikerin Insa Wilke in ihrer Rezension von Malaquais’ Roman zu der Behauptung »Verblüffend ist … seine harsche Kritik am Frauenhass, sein Spott über Männer …«, ohne Belege für diese Einschätzung zu liefern.64 Malaquais schreibt seinen männlichen Figuren Sätze wie »So appetitlich, diese schmalen Mädchenhüften und die festen Titten, da würde selbst ein Heiliger anbeißen« oder »Er mochte üppige Frauen mit ordentlich Vorbau« zu.65 Während Wilke Malaquais als »Meister des fragementarischen Erzählens« feiert, der »auch Situationskomik und postmoderne Referenzkunst bewusstseinsexperimentelle und satirische literarische Verfahren« beherrsche, kritisierte der anarchistische Autor Lou Marin den »strukturell sexistischen Slapstick« des Romans und unterstellte Malaquais eine ausgeprägte Misogynie. »Der Sexismus ist alles überlagernd«, konstatierte Marin; »Frauen werden hier meist als naive ›Tussis‹ gezeichnet, die von Männern nie ernst genommen, sondern begafft, ungefragt betatscht, geschlagen oder gar besprungen werden. Das macht die Leküre zum Teil unerträglich.«66
Agenten der Erinnerung
Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Anarchist Marin seinen Leser*innen die Lektüre von Anna Seghers’ Roman Transit empfiehlt, da dieser die »historische Situation in Marseille ernsthafter und damit angemessener« als Malaquais’ Werk beschreibe. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs der jüngeren Vergangenheit herrscht neben dem Narrativ, dass im Zuge der Verdrängung des Vichy-Erbes im Frankreich der Résistance Malaquais zum Verstummen gebracht worden sei, auch die Argumentation vor, dass Anna Seghers einen für die stalinistische kommunistische Ideologie charakteristischen antiintellektuellen Diskurs betrieben habe, der die historische Realität verfälscht habe. Während Malaquais als Schriftsteller nach 1947 zu existieren aufgehört habe (er veröffentlichte 1953 den zwischen den Universen von Kafka und Orwell oszillierenden Roman Le Gaffeur, um danach das Geschäft des Schriftstellers aufzugeben und sich Übersetzungen zu widmen), sei Seghers zu einer führenden Funktionärin im DDR-Literaturbetrieb aufgestiegen.67
Dass Seghers’ Roman keineswegs ein antiintellektuelles, von der stalinistischen Politik geprägtes Propagandawerk ist, hatte schon der Exilliteraturforscher Hans-Albert Walter hervorgehoben, der unterhalb der realistischen Schilderung des Emigrantenlebens in Marseille einen mythischen Subtext nach dem Vorbild der Odyssee offenlegte. »Den Ereignissen des 20. Jahrhunderts«, schrieb Walter, »explizit politischen Ereignissen, den Gestalten, die hart am Wind von Krieg und Appeasement, ›Russenpakt‹ und Faschismus segeln, ist in freier Nachschöpfung eine mythische Dimension so unterlegt worden, daß psychologische Glaubwürdigkeit und ästhetische Wahrscheinlichkeit keinen Schaden nehmen, daß aber auch der naive Leser sich nicht irritiert fühlen kann.«68
Der in der Edition Filmmuseum wiederveröffentlichte Filmessay Fluchtweg nach Marseille von Ingemo Engström und Gerhard Theuring aus dem Jahre 1977 rekurriert in Rezitationspassagen mit dem Katharina Thalbach und Rüdiger Vogler auf Transit und verwebt Erinnerungen von Zeitzeug*innen wie Ruth Fabian, Peter Gingold, Alfred Kantorowicz, Ernst Erich Noth, Ida und Vladimir Pozner mit dokumentarischem Filmmaterial und zeitgenössischen Aufnahmen von Städten und Landschaften der Erzählung. »Prinzip des Fortschreitens und Entdeckens ist die bewegte und sprechende Photographie«, heißt es im Film-Booklet. Der Film endet mit dem Bild einer unbekannten Résistance-Kämpferin. Sie starb durch Kopfschuß am 1. August 1944, am selben Tag wie der Schriftsteller Jean Prévost. Beide kämpften im Maquis des Vercors. Den Landschaften der Résistance ist dieser Film gewidmet.«69 Der Film und die Begleittexte sind zeittypische Dokumente der 1970er Jahre, in denen die in der Bundesrepublik maßgebende Zeitschrift Filmkritik die Essayistik von Jean-Luc Godard und Walter Benjamin verband. In Reformulierung von Benjamins Aufsatz »Der Autor als Produzent« schrieben Engström und Theuring 1978 in einem Artikel für die Zeitschrift: »Der Ort des Intellektuellen in der Résistance ist nur aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozeß festzustellen oder besser zu wählen.«70 Als »Agenten der Erinnerung« folgten sie, wie Kraft Wetzel in einer Rezension 1977 schrieb, »den Stationen der Flucht und des Exils der Jahre 1940/41«: »Auf der Spur von Fotos, Wochenschauen, Texten wollten sie die längst verschüttete Erinnerung an damals wachrufen.« Den konkreten Bezug zur politischen Gegenwart vermisste Wetzel jedoch am Film. Exil gelte Engström und Theuring, monierte Wetzel, »nicht als historischer Ausnahmezustand, sondern als politischer und existentieller Grundzustand unter den herrschenden Verhältnissen«. Sie begriffen sich selbst als »exilierte Filmemacher im eigenen Land«.71
Tatsächlich aber ist »Exil« keineswegs ein »historischer Ausnahmezustand«, sondern tatsächlich ein zunehmend existenzieller Grundzustand, wie auch Richard Greeman in seinem Vorwort zu Serges Roman der »letzten Zeiten« unterstreicht. Etwa 65 Millionen Menschen fliehen, schreibt Greeman vor Tyranneien, Bürgerkriegen, Hunger und ökologischen Katastrophen, und Serges apokalyptisch anmutender Romantitel erinnere an die immer steigende Gefahr der nuklearen oder ökologischen Auslöschung der Menschheit.72 Aber bislang ist die Uhr noch nicht abgelaufen.
© Jörg Auberg 2023
Bibliografische Angaben:
Jean Malaquais.
Planet ohne Visum.
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Nadine Püschel.
Hamburg: Edition Nautilus, 2022.
661 Seiten, 32 Euro.
ISBN: 978–3‑96054–294‑0.
Jean Malaquais.
Planet ohne Visum.
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Nadine Püschel.
Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 2023.
661 Seiten, 32 Euro.
ISBN: 978–3‑7632–7451‑2.
Victor Serge.
Last Times.
Aus dem Französischen übersetzt von Ralph Manheim.
Überarbeitet von Richard Greeman.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Richard Greeman.
New York: New York Review Books, 2022.
416 Seiten, 19,95 US-Dollar.
ISBN: 978–1‑6–8137-514–4.
Julie Orringer.
Transatlantic (The Flight Portfolio).
London: Dialogue Books, 2022.
576 Seiten, £ 9,99.
ISBN: 978–0‑3–4999-415–4.
Ingemo Engström und Gerhard Theuring.
Fluchtweg nach Marseille.
2 DVDs. BRD 1977.
Eine Präsentation der film & kunst GmbH.
Mit einem 20seitigen Booklet.
München: Edition Filmmuseum, 2023.
206 Minuten Laufzeit, 29,95 Euro.
ISBN: 978–3‑95860–123‑9.
Erich Maria Remarque.
Die Nacht von Lissabon.
In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider.
Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, ²2023.
384 Seiten, 24 Euro.
ISBN: 978–3‑7632–7378‑2.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Planet ohne Visum (Nautilus — Gestaltung Olga Machverkova) |
© Edition Nautilus |
Cover Planet ohne Visum (Büchergilde — Gestaltung Thomas Pradel) |
© Büchergilde Gutenberg |
Cover World Without Visa | © RightWayUp Books (Woodbridge, United Kingdom) |
Cover Malaquais Rebelle |
© Cherche midi |
Cover Last Times |
© New York Review Books |
Cover Transatlantic |
© Dialogue Books |
Cover Die Nacht von Lissabon |
© Büchergilde Gutenberg |
Cover Transit |
© Büchergilde Gutenberg |
Porträt Jean Malaquais |
© Tino Picos |
Cover Fluchtweg nach Marseille |
© Edition Filmmuseum |
Nachweise
- Alfred Kantorowicz, Exil in Frankreich: Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten (Frankfurt/Main: Fischer, 1986), S. 7 ↩
- Erich Maria Remarque, Die Nacht von Lissabon, hg, Thomas F. Schneider (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, ²2023), S. 41 ↩
- David Rousset, zitiert in: Une Ville en Fuite: Marseille 1940–1942, hg. Jean-Louis Parisis (La Tour‑d’Aigues: Éditions de l’Aube, 1992), S. 110 (EPUB-Ausgabe) ↩
- Remarque, Die Nacht von Lissabon, S. 274–275 ↩
- Kantorowicz, Exil in Frankreich, S. 218 ↩
- Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. Tilman Rexroth (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 359 ↩
- Benjamin, zitiert in den Anmerkungen zu Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 992 ↩
- Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977), S. 13; Howard Eiland und Michael W. Jennings, Walter Benjamin: A Critical Life (Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 2014), S. 266 ↩
- Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 11 ↩
- Leo Trotzki und André Breton, »Für eine unabhängige revolutionäre Kunst«, in: Breton, Das Weite suchen: Essays, übers. Lothar Baier (Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, 1981), S. 28 ↩
- Miriam Hansen, »›With Skin and Hair‹: Kracauer’s Theory of Film, Marseille 1940«, Critical Inquiry, 19, Nr. 3 (Frühjahr 1993), S. 439, 444, 446 ↩
- Americans and the Holocaust: A Reader, hg. Daniel Greene und Edward Phillips (New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 2022), S. 94 ↩
- Victor Serge, Memoirs of a Revolutionary, übers. Peter Sedgwick und George Paizis (New York: New York Review Books, 2012), S. 423 ↩
- »France hails forgotten hero’s acts of courage«, The Guardian, 3. April 1999, https://www.theguardian.com/world/1999/apr/03/8 ↩
- Georg Lukács, Der historische Roman, Probleme des Realismus III, Band 6 (Neuwied: Luchterhand, 1965), S. 184 ↩
- »Cynthia Ozick Reviews Julie Orringer’s ›The Flight Portfolio‹«, New York Times, 2. Mai 2019, https://www.nytimes.com/2019/05/02/books/review/flight-portfolio-julie-orringer.html ↩
- Julie Orringer, Transatlantic (London: Dialogue Books, 2019), EPUB-Ausgabe, S. 129 ↩
- Eiland und Jennings, Walter Benjamin: A Critical Life, S. 671 ↩
- Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. Karsten Witte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1971), S. 97 ↩
- Georges Rodenbach, Das tote Brügge, übers. Friedrich von Oppeln-Bronikowski (1903; rpt. Berlin: Sammlung Hofenberg, 2017), S. 10, EPUB-Ausgabe ↩
- Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 695 ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 292 ↩
- Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Das Schema der Massenkultur«, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 335 ↩
- Harold Rosenberg, The Tradition of the New (1960; rpt. New York: DaCapo Press, 1994), S. 255 ↩
- Joanne Laurier, »Transatlantic: The Plight of Artists and Intellectuals fleeing the Nazis in 1940«, World Socialist Web Site, 26. Mai 2023, https://www.wsws.org/en/articles/2023/05/27/bzss-m27.html ↩
- Remarque, Die Nacht von Lissabon, S. 275 ↩
- Max Horkheimer, »Neue Kunst und Massenkultur«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Fischer, 1988), S. 425 ↩
- Joanne Laurier, »Transatlantic: The Plight of Artists and Intellectuals fleeing the Nazis in 1940« ↩
- Daniel Guérin, Sur le fascisme: La peste brune – Fascisme et grand capital (Paris: La Découverte, 2001); Robert Zaretsky, Victories Never Last: Reading and Caregiving in a Time of Plague (Chicago: University of Chicago Press, 2022), S. 120–148 ↩
- Albert Camus, Die Pest, übers. Guido G. Meister (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1965), S. 318 ↩
- »Corona-Fördermittel für rechtsextreme Buchprojekte«, Deutschlandfunk Kultur, 26. April 2023, https://www.deutschlandfunkkultur.de/kulturmilliarde-neustart-kultur-literatur-100.html ↩
- Frauke Hamann, »›Mit einer Pistole in Griffweite geschrieben‹: Interview mit Nadine Püschel«, taz, 19. April 2023, https://taz.de/!5926088/ ↩
- https://edition-nautilus.de/programm/planet-ohne-visum/ ↩
- Insa Wilke, »Staatenlos – Jean Malaquais: ›Planet ohne Visum‹«, Süddeutsche Zeitung, 28. Dezember 2022 ↩
- Fokke Joel, »›Planet ohne Visum‹ von 1947: Verräter, Renegaten, Widerständler«, taz, 5. November 2022 ↩
- Nadine Püschl, Nachwort zu Jean Malaquais, Planet ohne Visum (Hamburg: Edition Nautilus, 2022), S. 654 ↩
- Thomas Wörtche, »Einer der großen Romane des 20. Jahrhunderts«, Culturmag, Februar 2023, http://culturmag.de/crimemag/einer-der-grossen-romane-des-20-jahrhunderts/148417 ↩
- Max Horkheimer, »Aufzeichnungen und Entwürfe zur Dialektik der Aufklärung«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 272; Nancy Fraser, Cannibal Capitalism (London: Verso: 2022), S. 164 ↩
- »Characters Without Convictions«, New York Times, 23. Mai 1948 ↩
- Orville Prescott, »Books of the Times«, New York Times, 21. Mai 1948 ↩
- Norman Mailer, »Un Hommage à Jean Malaquais«, in: Jean Malaquais, Planète sans Visa (Paris: Éditions Phébus, 1999; rpt. Éditions Libretto, 2009), S. 9 ↩
- Peter Brooks, Balzac’s Lives (New York: New York Review Books, 2020), S. 21; Brooks, Honoré de Balzac: My Reading (Oxford: Oxford University Press, 2022), S. 18–19 ↩
- Alfred Kazin, »New York Jew«, New York Review of Books, 19, Nr. 10 (14. Dezember 1972), https://www.nybooks.com/issues/1972/12/14/ ↩
- Christopher Hitchens, »Interview with Norman Mailer«, New Left Review, I:222 (März-April 1997), S. 118–119 ↩
- Mark Shechner, After the Revolution: Studies in the Contemporary Jewish American Imagination (Bloomington: Indiana University Press, 1987), S. 160–162 ↩
- Dan La Botz, »Transatlantic: Dramatic, Beautiful, and (Perhaps a Little too Much) Fun«, New Politics, 19, Nr. 3 (Sommer 2023), S. 139 ↩
- Léo Malet, Le cinquième procédé (Paris: Éditions Fleuve Noir, 2012), S. 59, EPUB-Ausgabe; Übersetzung: Léo Malet, Das fünfte Verfahren, übers. Hans-Joachim Hartstein (Reinbek: Rowohlt, 1997), S. 70 ↩
- Geneviève Nakach, Malaquais Rebelle (Paris: Cherche Midi, 2011), S. 163–166 ↩
- Leo Trotzki, Mein Leben, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/leben/45-ohnevisum.htm ↩
- »The Revolutionary Movement and the Second World War: Interview with Marc Chirik, 1985«, https://libcom.org/article/revolutionary-movement-and-second-world-war-interview-marc-chirik-1985 ↩
- Malaquais, Planet ohne Visum, S. 162 ↩
- Malaquais, Planet ohne Visum, S. 163–165 ↩
- Malaquais, Planet ohne Visum, S. 479 ↩
- Mark Polizzotti, Revolution of the Mind: The Life of André Breton (Boston: Black Widow Press, 2009), S. 563, EPUB-Ausgabe ↩
- Mitchell Abidor, »World Without Escape«, Jewish Currents, 7. September 2022, https://jewishcurrents.org/world-with-no-escape ↩
- Victor Serge, Notebooks 1936–1947, hg. Claudio Albertani und Claude Rioux, übers. Mitchell Abidor und Richard Greeman (New York: New York Review Books, 2019), S. 249, 430, 445 ↩
- Susan Weissman, Victor Serge: A Political Biography (London: Verso, 2013), S. 343, EPUB-Ausgabe ↩
- Richard Greeman, Einleitung zu: Victor Serge, Last Times, übers. Ralph Manheim, rev. Richard Greeman (New York: New York Review Books, 2022), S. xi, 390 ↩
- Victor Serge, »Der proletarische Humanismus«, in: Victor Serge, Schriftsteller und Proletarier, übers. Grete Osterwald, Archiv sozialistischer Literatur 28 (Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik, 1977), S. 100–101 ↩
- Serge, »Der proletarische Humanismus«, S. 101 ↩
- Greeman, Einleitung zu: Victor Serge, Last Times, S. x‑xi ↩
- Irving Howe, »Europe’s Night«, Partisan Review, 14, Nr. 1 (Januar-Februar 1947), S. 94 ↩
- Pierre Masson, »La souricière et le refuge: Jean Malaquais et Victor Serge, Visions de la France vaincue«, La Revue des lettres modernes, Nr. 8 (2021), S. 97–109 ↩
- Insa Wilke, »Staatenlos – Jean Malaquais: ›Planet ohne Visum‹«, Süddeutsche Zeitung, 28. Dezember 2022 ↩
- Malaquais, Planet ohne Visum, S. 130, 137 ↩
- Lou Marin, »Ein derber Planet ohne Visum«, Graswurzelrevolution, Nr. 478 (April 2023), Beilage »Libertäre Buchseiten«, S. 6; Marin bezieht sich unter anderem auf eine pornografische Szene nach dem Nazi-Einmarsch in Marseille: cf. Malaquais, Planet ohne Visum, S. 583 ↩
- Jean Malaquais, Le Gaffeur (Paris: Édition L’Échappé, 2016); Geneviève Nakach, »Malaquais, Du point d’ancrage au point de fuite«, in: Jean Malaquais entre deux mondes, hg. Geneviève Nakach und Julien Roumette (Paris: Lettres Modernes Minard, 2017), S. 28–29; Julien Roumette, »Malaquais et Anna Seghers: Deux ésthetiques pour deux visions politiques de Marseille sous Vichy 1940–1942«, in: Jean Malaquais entre deux mondes, S. 94 ↩
- Hans-Albert Walter, Anna Seghers’ Metamorphosen: Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1984), S. 92 ↩
- Ingemo Engström und Gerhard Theuring, Fluchtweg nach Marseille (München: Edition Filmmuseum, 2023), Booklet S. 2 ↩
- Engström und Theuring, Fluchtweg nach Marseille, Booklet S. 5 ↩
- Kraft Wetzel, »Filmregisseure als Agenten der Erinnerung«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 1977, wiederabgedruckt in Fluchtweg nach Marseille, Booklet, S. 7–8 ↩
- Greeman, Einleitung zu: Victor Serge, Last Times, S. xiii ↩