Der Fluchtpunkt in den Tod Aller
Markus Schmidt ergötzt sich an der Morbidität des Verfalls
Von Jörg Auberg
»Das Leben lebt nicht!«1
Friedrich Kürnberger, Der Amerika-Müde
In den letzten Jahren hat sich das fotografische Genre der »Urban Exploration« etabliert: Dabei erkunden Fotografen verlassene Orten (in einem Pseudoanglizismus als »Lost Places« deklariert, obwohl diese Ort weniger verloren oder vergessen denn aufgegeben sind), um eine »ungeschönte Vergangenheit« zu dokumentieren, wie es in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung hieß.2 Die »ungeschönte Vergangenheit« wird jedoch durch eine »melancholische Retronormativität« gefiltert, um einen Begriff des Soziologen Oliver Nachtwey zu bemühen, der das nostalgische Flair des freiflutenden Gefühls »Früher war alles besser« zu definieren versucht.3
Dieses Gefühl der Melancholie und Nostalgie verbreitet auch der Band Verlassene Orte Niederrhein des »Urban Explorers« Markus Schmidt, der in stilisierten Fotografien einen stillgelegten Güterbahnhof, eine »verwunschene Villa«, das ehemalige Ausbesserungswerk der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, aufgegebene Armaturenwerke, verfallene Häuser, Hotels, Bordelle, von Unkraut und verrottenden Autowracks überwucherten Geisterdörfern in der Region zwischen Duisburg und Düsseldorf und im Umkreis von Wesel, Kleve, Krefeld und Kalkar. Eine konkrete Definition für den »Niederrhein« hält Schmidt nicht parat und verharrt im Vagen: Der »Niederrhein« sei die Region zwischen »Rheinland und Münsterland, den Niederlanden und dem Ruhrgebiet«, in der sich »in zahlreichen vergessenen Gemäuern und verlassenen Orten verborgene Welten eröffnen«.4 Schmidt zieht sich auf die angebliche Nicht-Definierbarkeit der niederrheinischen Region zurück, obwohl eine klare Definition möglich wäre: »Der linke Niederrhein«, heißt es in der Einleitung zu dem Band Der Niederrhein in frühen Fotografien, »umfasst die linksrheinischen Teile des niederrheinischen Tieflandes und der Niederrheinischen Bucht. Im Nordosten wird er durch den Rhein, im Westen durch die politische Grenze zu den Niederlanden und im Süden durch die ansteigende Eifel begrenzt.«5
Zwar gelingt es Schmidt, die untergegangene Welt des niederrheinischen Kapitalismus in ausdrucksstarken, von Morbidität und Nostalgie überquellenden Fotografien zu stilisieren, doch die Texte, die Ruinen, Geheimnis und Abenteuer beschwören, bleiben flach. Selbst das eigene Ziel, »die Schönheit im Verfallenen zu suchen«6, vermögen sie nicht einzulösen. Dies liegt vor allem daran, dass Schmidt es nicht vermag, die Orte, die er fotografiert, in einen geschichtlichen Kontext einzuordnen. So kommentiert er beispielsweise seine Fotografie des stillgelegten Ausbesserungswerkes in Duisburg-Wedau mit den Worten: »Im Zweiten Weltkrieg errichtete man [sic!] zudem zwei Hochbunker zum Schutz vor Bomben. Zum Glück, denn das Gelände wurde Ziel zahlreicher Angriffe.« 7 Dass die Eisenbahnstrecken aus dem Ruhrgebiet in die Vernichtungslager der Nazis eine besondere militärische Bedeutung hatten, vermag Schmidt nicht zu bedenken.
Ebenso verklärt er mit seinen stilisierten Bildkompositionen die Kupfer- und Kühlelemente sowie Blasformen für Hochöfen in einer verrottenden Armaturenfabrik in Duisburg, ohne dass er die ökologischen Folgen der schwerindustriellen Vergewaltigung der Natur jemals in Betracht zieht. Als »Urban Explorer« erkundet Schmidt die bizarren Orte der Vergangenheit, beschreibt in seinen kurzen Texten von Laub bedeckte oder durchs Gestrüpp Schienen, verwahrloste Hallen, in denen Überbleibsel rostiger Werkzeuge zurückgeblieben sind oder Waggons auf einem stillgelegten Schienennetz, doch ist er unfähig, die historischen Zusammenhänge jenseits des nostalgischen Schleiers zu vermitteln. So ist für ihn die Ruine der alten Weseler Eisenbahnbrücke, die im 19. Jahrhundert einmal die Verbindung zwischen Norddeutschland und den Niederlanden repräsentierte, nur ein Signum der »Eroberung anglo-amerikanischer-kanadischer Truppe« 8, ohne auch nur einen halben Gedanken auf den Grund der Zerstörung – nämlich die vorangegangene Verwüstung des europäischen Kontinents durch deutsche Truppen – zu verschwenden.
So zeichnet sich der »Urban Explorer« weniger durch einen Blick auf eine »ungeschönte Vergangenheit« denn durch eine Geschichtsvergessenheit aus. Nicht zufällig rekurriert der Untertitel des Bandes auf den »Charme des Verfalls«, womit er die nostalgische Ideologie des selbst ernannten »Heimatsenders« WDR ansprach und deren »Heimatfunker« auf den Plan rief. »Längst verlassene Gebäude, aufgelöste Werkshallen, vom Verfall gezeichnete Fabriken: Sie alle sind Zeugen einer Vergangenheit, die den Niederrhein und das Leben der Menschen dort prägte«, heißt es im PR-Text des WDR-Kulturmagazins Westart. »Der junge Fotograf und Autor Markus Schmidt hat sich auf die Suche nach der verblassten Schönheit gemacht und ihren morbiden Charme mit seiner Kamera festgehalten.«9 Die WDR-Kulturredaktion schwärmt vom »Reiz des Verfalls«, ohne die »Logik der Zerfalls« in Rechnung zu stellen. »Nach dem Zweiten Krieg ist alles, auch die auferstandene Kultur zerstört, ohne es zu wissen«, schrieb Theodor W. Adorno 1961; »die Menschheit vegetiert kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen, dem es noch die Selbstbestimmung auf die eigene Zerschlagenheit verschlagen hat.«10 Weder Schmidt noch seine PR-Agenten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vermögen die »Konstruktion der Geschichte als Verfallsgeschichte«11 zu begreifen. In seiner falschen, nostalgisch verklärten Stilisierung des Vergangenen agiert Schmidt als Agent der Anti-Aufklärung. »Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden«12, zitierte Susan Sontag Friedrich Nietzsche in ihrem Buch über Fotografie.
In der fotografischen Welt der »Urban Explorer« wird der proletarische Gegenentwurf zur kapitalistischen Welt als »Kritik der menschlichen Geographie« in der dämmernden Welt, in der der Raum unter der Zeit begraben wird13, von einer inszenierten Morbidität einkassiert, die jegliche kritische Reflexion unterminiert. Oder mit Adorno gesprochen: Der Fluchtpunkt liegt im Tod aller.14 Der »Charme des Verfalls« übertüncht die »vermummte Herrschaft« 15 und legt einen verklärenden Schleier über eine Landschaft, die für viele auch einmal Strafkolonie war. Vor einigen Jahren warfen Jörg Schröder und Barbara Kalender einen »fremden Blick« auf die von der Herrschaft der Industrie gemodelte Landschaft, in der sich »Industriekapitäne« ihre Prunkvillen auf das Werkgelände stellen ließen, »um ihren kleinen Sklavenstaat ständig überwachen zu können«.16 Zu diesem »fremden Blick« durch das Objektiv einer Kamera ist Schmidt offenbar nicht fähig oder gewillt.
© Jörg Auberg 2020
Bibliografische Angaben:
Markus Schmidt.
Verlassene Orte Niederrhein: Der Charme des Verfalls.
Erfurt: Sutton, 2019.
168 Seiten, 140 Abbildungen, 29,99 Euro.
ISBN: 9783963031403.
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Alle Fotos | © Sutton Verlag |
Nachweise
- Friedrich Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kuernberger_amerikamuede_1855?p=390 ↩
- Felix Stephan, »Fenster zur ungeschönten Vergangenheit«, Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2012, https://www.sueddeutsche.de/kultur/urban-explorer-steigen-in-verlassene-gebaeude-ein-fenster-zur-ungeschoenten-vergangenheit‑1.1355456–0#seite‑2 ↩
- Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 37 ↩
- Markus Schmidt, Verlassene Orte Niederrhein: Der Charme des Verfalls (Erfurt: Sutton, 2019), S. 4 ↩
- Alois Döring, »Leben am Niederrhein«, in: Der Niederrhein in frühen Fotografien, hg. Alois Döring (Rheinbach: Regionalia Verlag, 2014), S. 11 ↩
- Schmidt, Verlassene Orte Niederrhein, S. 4 ↩
- Schmidt, Verlassene Orte Niederrhein, S. 50 ↩
- Schmidt, Verlassene Orte Niederrhein, S. 70 ↩
- https://www1.wdr.de/fernsehen/west-art/sendungen/verlassene-orte-niederrhein-100.html ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 285 ↩
- W. Martin Lüdke, Anmerkungen zu einer »Logik des Zerfalls«: Adorno-Beckett (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 93 ↩
- Susan Sontag, Über Fotografie, übers. Mark W. Rien und Gertrud Barch (Frankfurt/Main: Fischer, 1980), S. 174 ↩
- Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, übers. Jean-Jacques Raspaud (Berlin: Edition Tiamat, 1996), S. 152 ↩
- Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1975), S. 314 ↩
- Adorno, Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 269 ↩
- Jörg Auberg, »Letzte Ausfahrt Ruhrgebiet«, literaturkritik.de, Nr. 12 (Dezember 2011) ↩