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Aus den Archiven: Der synthetische Denker

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Der syn­the­ti­sche Denker

von Jörg Auberg

In sei­nem Buch »Taking It Big« unter­streicht Stan­ley Aro­no­witz die Aktua­li­tät des ame­ri­ka­ni­schen Sozi­al­phi­lo­so­phen C. Wright Mills auch ein hal­bes Jahr­hun­dert nach des­sen Tod und dis­ku­tiert das Kon­zept des poli­ti­schen Intel­lek­tu­el­len im Zeit­al­ter des aka­de­mi­schen Konformismus.

In der lin­ken Mytho­lo­gie nimmt C. Wright Mills einen expo­nier­ten Platz ein. Obgleich er zu den Nutz­nie­ßern jenes Pro­zes­ses gehör­te, den Phil­ip Rahv, der »Com­man­der in Chief« der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len, zu Beginn der 1950er Jah­re als »Insti­tu­tio­na­li­sie­rung der Intel­lek­tu­el­len« gei­ßel­te, und unmit­tel­bar nach dem Zwei­ten Welt­krieg eine Kar­rie­re in der sozio­lo­gi­schen Fakul­tät der Eli­te-Uni­ver­si­tät Colum­bia in New York ver­folg­te, haf­te­te ihm stets der Nim­bus des Auf­säs­si­gen, Rebel­len und Außen­sei­ters an. Typisch ist das Bild, das ihn in Leder­mon­tur auf einem BMW-Motor­rad durch die ame­ri­ka­ni­sche Land­schaft fah­rend zeig­te, womit er sein Image als »James Dean der lin­ken Sozio­lo­gie« (wie ihn Chris­to­pher Lasch ein­mal beschrieb) pflegte.

Stanley Aronowitz: Taking It Big (Columbia University Press, 2012)
Stan­ley Aro­no­witz: Taking It Big (Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2012)

Für Stan­ley Aro­no­witz hat Mills auch nach mehr als einem hal­ben Jahr­hun­dert nach sei­nem Tod (im Jah­re 1962 starb er im Alter von 46 Jah­ren an den Fol­gen einer Herz­at­ta­cke) nichts von sei­ner Aktua­li­tät ver­lo­ren und reprä­sen­tiert den Typus des inte­gren »öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len« in den Ter­ri­to­ri­en des aka­de­misch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes. Anders als Dani­el Gea­ry in sei­ner intel­lek­tu­el­len Bio­gra­fie Radi­cal Ambi­ti­on: C. Wright Mills, the Left, and Ame­ri­can Social Thought (2009) ana­ly­siert Aro­no­witz in sei­nem Buch Taking It Big Mills’ Wir­ken nicht aus einer his­to­ri­schen Per­spek­ti­ve, son­dern er ver­sucht in kri­ti­schen Refle­xio­nen, Mills’ Ana­ly­sen der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft auf die Gegen­wart anzu­wen­den. Aro­no­witz selbst ist ein Bei­spiel für die »Aka­de­mi­sie­rung der Intel­lek­tu­el­len« in der Nach­kriegs­zeit. 1933 gebo­ren, war er zunächst als Orga­ni­sa­tor in der Gewerk­schafts­be­we­gung aktiv, ehe er spä­ter als Sozio­lo­ge an der City Uni­ver­si­ty of New York lehr­te (CUNY) und 2002 als Kan­di­dat der Greens für das Amt des Gou­ver­neurs von New York kan­di­dier­te. Im Gegen­satz zu vie­len lin­ken Aka­de­mi­kern, die »erfolg­reich« den »Marsch durch die Insti­tu­tio­nen« absol­vier­ten, schim­mert bei Aro­no­witz – trotz aller insti­tu­tio­nel­len Ver­stri­ckun­gen – wei­ter­hin das unver­brüch­li­che intel­lek­tu­el­le Talent durch. Aber den­noch steht er – wie Rus­sell Jaco­by in sei­nem zor­ni­gen Abge­sang auf die »öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len« in der Tra­di­ti­on C. Wright Mills (The Last Intellec­tu­als, 1989) schrieb – »am Ende der Tra­di­ti­on urba­ner nicht­aka­de­mi­scher Intellektueller«.

Für Aro­no­witz lebt Mills als Pro­to­typ des »radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len« fort. Gera­de in Zei­ten des Kon­for­mis­mus in den 1950er Jah­ren – als vie­le Intel­lek­tu­el­le den Radi­ka­lis­mus ihrer Jugend­zeit über Bord war­fen und sich den neu­en herr­schaft­li­chen Erfor­der­nis­sen anpass­ten – hielt er die Flam­me des oppo­si­tio­nel­len Geis­tes am Bren­nen und gab sie an eine neue Gene­ra­ti­on wei­ter­gab. Legen­där war sein Auf­ruf »Wir fan­gen an, uns neu zu bewe­gen«, den er zwei Jah­re vor sei­nem Tod in der New Left Review ver­öf­fent­lich­te und der von sei­nem Schü­ler Tom Hay­den bei der For­mu­lie­rung des Grün­dungs­ma­ni­fes­tes der Stu­dents for a Demo­cra­tic Socie­ty (SDS), dem »Port Huron State­ment« aus dem Jah­re 1962, wei­ter­ge­tra­gen wur­de. Für Aro­no­witz ist Mills ein »syn­the­ti­scher Den­ker«, der schein­bar dis­pa­ra­te Ideen und Tra­di­tio­nen euro­päi­scher und ame­ri­ka­ni­scher Pro­ve­ni­enz (von Karl Marx, Max Weber und Karl Mann­heim über Thor­stein Veblen und John Dew­ey bis zu Georg Lukács, Max Hork­hei­mer und Theo­dor W. Ador­no) zu einem eige­nen stim­mi­gen Kon­strukt ver­band. Vor allem Mills’ Ana­ly­se der ame­ri­ka­ni­schen Macht­ver­hält­nis­se in The Power Eli­te (1956; dt. Die ame­ri­ka­ni­sche Eli­te) hat – wie Aro­no­witz ange­sichts der aktu­el­len poli­ti­schen Struk­tu­ren in den USA (jen­seits der irra­tio­na­len Oba­ma-Ido­la­trie) unter­streicht – eine unge­bro­che­ne Aktua­li­tät. Sym­pto­ma­tisch für die Stim­mig­keit der Kri­tik ist der Ver­riss des Buches im Wall Street Jour­nal, der dem »Occu­py Wall Street«-Aktivisten Aro­no­witz die Fähig­keit abspricht, die Rea­li­tät »kon­struk­tiv« zu begreifen.

Die Schwä­che des Buches besteht jedoch nicht im Auf­zei­gen der kon­kre­ten Macht­ver­hält­nis­se in den USA, die Orga­ne wie das Wall Street Jour­nal offen­bar gern ver­schlei­ern möch­ten, son­dern in den Dig­res­sio­nen der Erzäh­lung, in denen Mills als Prot­ago­nist aus dem Fokus des Gesche­hens ver­schwin­det, wäh­rend Aro­no­witz mit sei­nem Weit­win­kel­ob­jek­tiv über die aka­de­mi­schen Land­schaf­ten der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft schweift und sei­ne Haupt­fi­gur zum schwar­zen Par­ti­kel im Ter­ri­to­ri­um schrumpft. Letzt­lich ver­or­tet Aro­no­witz den poli­ti­schen Intel­lek­tu­el­len aus­schließ­lich im Umfeld des »uni­ver­si­tär-indus­tri­el­len« Kom­ple­xes, der den »kul­tu­rel­len Appa­rat«, den Mills kri­tisch betrach­tet hat­te, mit einer dicken schwar­zen Schicht über­zog. »Der poli­ti­sche Intel­lek­tu­el­le ist ein Den­ker, der im Schrei­ben, Spre­chen und Leh­ren unau­to­ri­sier­ter Ideen fort­be­steht«, pos­tu­liert Aro­no­witz. Die Pro­ble­ma­tik die­ser Kon­zep­ti­on besteht frei­lich dar­in, dass er die intel­lek­tu­el­le Exis­tenz aus­schließ­lich in den Gren­zen der bestehen­den aka­de­mi­schen Insti­tu­tio­nen sieht, ohne ein »tran­szen­den­ta­les« oder »uto­pi­sches« Pro­jekt im Sin­ne Mills’ in Betracht zu zie­hen, das dem »radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len« ein von Kapi­tal- und Racket-Inter­es­sen frei­es Ter­rain zusi­cher­te. Gewiss ist sich Aro­no­witz der Gefahr der Kor­rum­pie­rung durch die insti­tu­tio­nel­le Pra­xis bewusst. »Fast jeder jun­ge Intel­lek­tu­el­le, der sich dafür ent­schei­det, als Pro­fes­sor in einer ame­ri­ka­ni­schen Hoch­schu­le sei­nen Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten«, schreibt er, »sieht sich mit der Not­wen­dig­keit kon­fron­tiert, den Anfor­de­run­gen zu genü­gen, die von den Tra­di­tio­nen und den Regeln sei­ner gewähl­ten Fach­rich­tung und den Uni­ver­si­tä­ten dik­tiert werden.«

Mills selbst unter­strich – trotz der Ein­ge­bun­den­heit in die insti­tu­tio­nel­le Welt der aka­de­mi­schen Ivy-League-Welt – die Not­wen­dig­keit der Ein­heit poli­ti­scher Radi­ka­li­tät und sprach­li­cher Klar­heit und warn­te vor der aka­de­mi­schen Ver­wahr­lo­sung des intel­lek­tu­el­len Hand­werks. In sei­nem Buch The Socio­lo­gi­cal Ima­gi­na­ti­on (1959; dt. Kri­tik der sozio­lo­gi­schen Denk­wei­se) mahn­te er den »öffent­li­chen Gehalt« (die Stim­mig­keit von Form und Inhalt) im intel­lek­tu­el­len Dis­kurs an. In sei­ner har­schen, aber gerecht­fer­tig­ten Kri­tik der aka­de­mi­schen Pra­xis, wie sie sich in den 1950er Jah­ren – dem »Zeit­al­ter des Kon­for­mis­mus« (wie Irving Howe die­se Jah­re ein­mal tref­fend cha­rak­te­ri­sier­te) – eta­blier­te, stand Mills in der Tra­di­ti­on der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len, auch wenn er poli­tisch mit ihnen über Kreuz lag. »Im Lexi­kon der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len ist ›Aka­de­mi­ker‹ immer ein Ant­onym zu ›Intel­lek­tu­el­ler‹ gewe­sen«, kon­sta­tier­te Euge­ne Good­he­art. »Die Zweit­klas­si­gen, die Mit­tel­mä­ßi­gen, die Pedan­ti­schen fin­den ihr Zuhau­se in den Fakul­tä­ten. Dem­ge­gen­über fühl­ten sich die New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len vom Leben in der gro­ßen Stadt, jen­seits der Mau­ern der Fakul­tä­ten, elek­tri­siert.« In die­sem Sin­ne agier­te Mills als intel­lek­tu­el­ler Gue­ril­le­ro in der aka­de­mi­schen Insti­tu­ti­on, wobei er jedoch in der heu­ti­gen Welt des aka­de­misch-tech­no­kra­ti­schen Milieus wie ein Relikt aus ver­gan­ge­ner Zeit erscheint, womit jedoch eher ein Urteil über die Arm­se­lig­keit der Gegen­wart gespro­chen ist. Letzt­lich blieb Mills auf­grund sei­nes frü­hen Todes ein Unvoll­ende­ter, der nie sein gro­ßes Pro­jekt – der Kri­tik des kul­tu­rel­len Appa­ra­tes – abschlie­ßen konn­te. Zugleich blieb ihm die voll­kom­me­ne Nie­der­la­ge sei­nes Agen­ten der Ver­än­de­rung – des kri­ti­schen Intel­lek­tu­el­len – in den aka­de­mi­schen und media­len Agen­tu­ren der Macht erspart.

Biblio­gra­fi­sche Angaben:

Stan­ley Aronowitz.
Taking It Big:
C. Wright Mills and the Making of Poli­ti­cal Intellec­tu­als.

New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2012. 
276 Sei­ten, 32,50 US-Dollar.

Zuerst erschie­nen in:  satt.org  (April 2013)

© Jörg Auberg

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