Der Autor in der Revolte
Anmerkungen zu Wolfgang Haugs Biografie über Theodor Plievier
von Jörg Auberg
»Ein Autor muß seinem Stoff gewachsen sein.«
Theodor Plievier 1
In seiner voluminösen Studie Medienintellektuelle in der Bundesrepublik zählte der Historiker Axel Schildt den Schriftsteller Theodor Plievier (1892–1955) zur Gruppe »ehemalige[r] kommunistische[r] Parteigänger«, die »in der Nachkriegszeit von Ost nach West wechselten«.2 Auch Frances Stonor Saunders beschrieb Plievier in ihrer Studie über den »kulturellen Kalten Krieg« als den »deutschen Autor von Stalingrad und ehemaligen Kommunisten«.3 In Erinnerung blieb Plievier als Moskauer Emigrant und Autor der Trilogie Stalingrad (1945), Moskau (1952) und Berlin (1954), die auch durch populäre Rundfunkbearbeitungen von Ludwig Cremer und Gert Westphal im populären Bewusstsein vor allem in der Bundesrepublik haften blieb. Dass Plievier die Soldaten der deutschen Wehrmacht keineswegs von ihren Verbrechen freisprach oder sie als Opfer einer bürokratischen Maschine darstellte, tat dem Erfolg keinen Abbruch. »Plievier ist mit einem der ersten Kriegsbücher zugleich eines der modernsten unter den erfolgreichen gelungen«, beobachtete der Literaturhistoriker Christian Adam. »Ihm und dem Stoff genügte die klassische Erzählform des Romans nicht mehr. Wuchtig und kollagenhaft entwirft er sein Bild der Schlacht.«.4 Wie Plievier in seinem autobiografischen Text »Mein Leben« schrieb, war die Revolte »gegen die Autorität übergeordneter Mächte« das Strukturprinzip seines Lebens: »Die Revolte gegen das Bestehende, die Hingabe und Opfer und vielleicht sogar das Opfer des Lebens fordert, wurde mir zum geistigen Lehrmeister.«5
Zeitgenossen rubrizierten ihn als »deutschen Jack London«, womit sie sowohl sein zuweilen abenteuerliches Leben als Seemann als auch sein literarisches Schaffen im Nachgang referenzierten. In einer kurzen Notiz zu seinem späten Roman Haifische mokierte sich der Spiegel über ein »[l]iterarisiertes Kaschemmen-Milieu« und eine »Hans-Albers-Atmosphäre« und betrachtete das schmale Werk als eher faden Aufguss früherer »Matrosen- und Vaganten-Stories« des Stalingrad-Autors.6 Im Zeitgeist der autoritären Restauration war die Erinnerung an ein Aufbegehren in den »Zonen der Dunkelheit«7 (um einen Begriff des im März 1945 im KZ Buchenwald ermordeten Sozialphilosophen Maurice Halbwachs zu verwenden) ein gesellschaftlicher Affront. Plievier hatte nach seinem Dienst bei der kaiserlichen Marine 1918 an den revolutionären Aufständen in Wilhelmshaven teilgenommen, lebte zeitweilig in der anarchistischen »Kommune am Grünen Weg« bei Urach in Süddeutschland, arbeitete als Autor und Übersetzer für anarchosyndikalistische Zeitschriften und betrieb in Berlin eine Teestube, in der auch anarchistische Literatur verkauft wurde, ehe er 1930 eine erfolgreiche Schriftstellerkarriere begann. Mit seinen dokumentarischen, antimilitaristisch geprägten Romanen Des Kaisers Kulis (1930) und Der Kaiser ging, die Generäle blieben (1932), die beide im linken Malik-Verlag erschienen, konnte er auch international reüssieren. Nach der faschistischen Machtübernahme wurde er 1934 aus Deutschland ausgebürgert und reiste nach einer Odyssee über Prag, Zürich, Paris und Oslo in die Sowjetunion, wo – auch mit Hilfe von Johannes R. Becher – die stalinistischen »Säuberungen« überstand und später als Mitglied des »Nationalkomitees Freies Deutschland« in die sowjetische Besatzungszone ging, ehe über den Umweg »Trizonesien« in die Schweiz emigrierte.
»Die Revolte gegen alle und gegen alles war der große Antrieb […]«8, gab Plievier rückblickend auf seinen Lebensweg zu Protokoll. »Inmitten der europäischen Nacht« war, wie Albert Camus schrieb, die Revolte ein Aufschrei einer selbstvergewissernden Bewegung gegen die Berechnung und das Ressentiment. »Und schon kann die Revolte in der Tat, ohne zu behaupten, alles lösen zu können, wenigstens die Stirn bieten.«9 Dieses Movens, das in vielen Arbeiten über die Literatur- und Intellektuellengeschichte in Deutschland nach 1945 verloren ging, hebt Wolfgang Haug in seiner umfangreichen, detaillierten Plievier-Biografie Anarchist ohne Adjektive: Der Schriftsteller der Freiheit hervor. »Wie Orpheus muß der Historiker in die Unterwelt hinabsteigen, um die Toten ins Leben zurückzubringen«10, bemerkte Siegfried Kracauer. Im Falle Plieviers ist Haug für diesen »Abstieg« und die »Wiederkehr aus dem Totenreich« wie kaum ein anderer prädestiniert: Als Mitbegründer des anarchistischen Trotzdem-Verlages und langjähriger Redakteur der »Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit« Schwarzer Faden beschäftigt er sich seit mehr 30 Jahren mit anarchistischer Geschichte in Deutschland.11 Haugs Buch begnügt sich nicht mit einer nuancierten Beschreibung von Plieviers Lebensweg, sondern will auch frühere Darstellungen – wie etwa Harry Wildes Plievier-Biografie Nullpunkt der Freiheit aus dem Jahre 1965 – korrigieren und widerlegen. »Es gibt in den bisherigen Einträgen zu seiner Person«, bemerkt Haug in einem Interview, »viele Halbwahrheiten oder schlichtweg falsche Darstellungen, die durch das Übernehmen aus Internet-Quellen immer wieder und immer weiter kolportiert werden.«12
Diese Motivation, frühere Darstellungen und Forschungen zu widerlegen, nach seiner Ansicht falsche Einschätzungen zu korrigieren, lässt vielfach die narrative Stringenz des Buches zerfasern. Wie Kracauer insistierte, ist Geschichte sowohl story als auch Studie, und trotz aller Ambition, eine größtmögliche Facette von Fakten und Details aufzubieten, müsse der Geschichtsschreiber bestrebt sein, eine adäquate Form für eine »wechselseitige Durchdringung von Makro- und Mikro-Geschichte« zu finden.13 in seinem Drang, vorherige Plievier-Biografen zu widerlegen oder seinen anarchistischen Standpunkt »unerschütterlich« zu belegen, erschüttert Haug immer wieder seine erzählerische Struktur, die sich am Ende mäandernd in der Aneinanderreihung von Einzelheiten und ausufernden Zitaten verliert. Der Autor als Intellektueller ist, wie Jean-Paul Sartre schrieb, »in seinem Metier selbst dem Widerspruch zwischen dem Partikularen und dem Universellen ausgesetzt«14 und muss im historischen Kontext seine Rolle als Intellektueller (der auch der Schriftsteller ist) definieren. »In ein Jahrhundert der Katastrophen und gesellschaftlichen Umschichtungen hineingeboren«, resümierte Plievier, »habe ich damit fertig zu werden und es auf meine Weise zu deuten.«15 Ob dieses Unterfangen mit der Kategorisierung als »Anarchist ohne Adjektiv«, der »in keine Schublade« passe16, letztlich umfassend beschrieben ist, muss bezweifelt werden. Trotz allem ist Haugs glänzend recherchierte Plievier-Biografie ein Meilenstein, der auch für weitere Studien zur deutschen Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert genutzt werden kann und sollte.
© Jörg Auberg 2021
Bibliografische Angaben:
Wolfgang Haug.
Theodor Plievier – Anarchist ohne Adjektive:
Der Schriftsteller der Freiheit.
Bodenburg: Edition AV, 2020.
490 Seiten, 24,50 Euro.
ISBN: 978–3‑86841–220‑8.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Stalingrad (2018) | © Kiepenheuer & Witsch |
Cover Stalingrad (1978) | © Wilhelm Goldmann Verlag |
Cover The Kaiser Goes, the Generals Remain |
© Faber & Faber |
Cover Theodor Plievier — Anarchist ohne Adjektive |
© Edition AV |
Nachweise
- Theodor Plievier, »Mein Weg«, in: Plievier, Haifische (München: Verlag Kurt Desch, 1953), S. 317 ↩
- Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 99 ↩
- Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War (London: Granta, 1999), S. 81 ↩
- Christian Adam, Der Traum vom Jahre Null – Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945 (Berlin: Galiani, 2016), S. 71 ↩
- Theodor Plievier, »Mein Weg«, S. 310 ↩
- Der Spiegel, Nr. 44 (28. Oktober 1953), S. 31 ↩
- Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, übers. Hilde Lhoest-Offermann (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 60 ↩
- Theodor Plievier, »Mein Weg«, S. 313 ↩
- Albert Camus, L’Homme Révolté (Paris: Gallimard, 1951), S. 371, 376 ↩
- Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, übers. Karsten Witte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973), S. 97 ↩
- Cf. Helge Döring, »Publizistik und Forschung für den Anarchismus – Im Gespräch mit Wolfgang Haug«, Syfo – Forschung und Bewegung, Nr. 5 (2015), S. 73–101 ↩
- Helge Döring, »›Meine Biographie soll ein anderes Plievier-Bild vermitteln‹ – Interview mit Wolfgang Haug«, Syfo – Forschung und Bewegung, Nr. 10 (2020), S. 22 ↩
- Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 144 ↩
- Jean-Paul Sartre, Plaidoyer pour les intellectuels (Paris: Gallimard, 2020), S. 139 ↩
- Theodor Plievier, »Mein Weg«, S. 317 ↩
- Wolfgang Haug, Theodor Plievier – Anarchist ohne Adjektive: Der Schriftsteller der Freiheit (Bodenburg: Edition AV, 2020), S. 443 ↩