Kritik und Gegenöffentlichkeit
Seit 1967 setzt die Zeitschrift Cineaste Massstäbe in der Filmpublizistik
von Jörg Auberg
»Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.«
Siegfried Kracauer 1
Im Sommer 1967 erschien die erste dreißigseitige Ausgabe der New Yorker Filmzeitschrift Cinéaste (damals noch in der französischen Schreibweise), die Gary Crowdus – zu jener Zeit ein Student der New York University in Greenwich Village – auf einem Vervielfältigungsapparat der Universität in einer Auflage von fünfhundert Exemplaren produzierte und kostenfrei an Kommilitonen verteilte sowie an Interessenten in New York, Detroit, San Francisco, Los Angeles und anderen US-amerikanischen Städten verschickte.2 Damals – zwischen der abebbenden »Nouvelle Vague« und der aufschwappenden Welle des »New Hollywood« – waren die Cahiers du Cinéma das leuchtende Vorbild einer engagierten Filmkritik.
In der Revolte des Mai 1968 spielte nicht nur das Medium Film in der Verbreitung revolutionärer Gedanken und einer radikalen Gesellschaftskritik eine besondere Rolle, sondern auch Filmzeitschriften erhielten zunehmend eine politisch-soziale Ausrichtung.3 Obwohl Cineaste keinen Hehl aus seiner Verbundenheit mit dem »linken Projekt« machte (im Rückblick bezeichnete sich Crowdus als »SDS-Fellow-traveler«4), bewahrte sich die Zeitschrift ihre Unabhängigkeit und verweigerte sich dem Abdriften in ideologische oder sektiererische Fährnisse, wie es etwa die Cahiers du Cinéma in ihren »roten Jahren« des Maoismus vorexerzierten5 in einem Artikel für die Encyclopedia of the American Left (1990) hob der langjährige Cineaste-Redakteur Dan Georgakas hervor: »Cineaste war der selbsternannte Verfechter der neuen Bewegung; Ende der 1980er Jahre genoss es eine weltweite Reputation für seine hervorragende Qualität und gehörte zu den Filmzeitschriften mit den höchsten Auflagenzahlen in den Vereinigten Staaten.«6
Während Cineaste vor allem mit seiner breitgefächerten Mischung aus kritischen Artikeln, Interviews, Buch‑, Film- und Videorezensionen bestach, blieb die Beschäftigung mit der »Franzosentheorie«, die Ende der 1970er und vor allem in den 1980er Jahren zum bevorzugten Spielmaterial akademischer Fan-Clubs wurde, außen vor. Diesen Vorwurf erhoben die Kollegen der marxistisch-leninistisch ausgerichteten, im proletarischen großformatigen Zeitungsformat gedruckten Konkurrenzzeitschrift Jump Cut in ihrem Gruß zum zehnjährigen Jubiläum: Ungeachtet aller Verdienste habe Cineaste eine starke Aversion gegen neue Theorie wie die Semiologie und gestalterische Innovationen im politischen Film – »Godard ist der offensichtlichste Fall« – an den Tag gelegt. Nichtsdestotrotz entrichtete das Jump Cut-Politbüro (in Gestalt von Julia Lesage, John Hess und Chuck Kleinhans) den Cineaste-Genossen »unsere Solidarität und besten revolutionäre Grüße für die nächsten zehn Jahre«.7
Mittlerweile haben sich die Zeiten geändert. Traditionelle Filmzeitschriften können sich zumeist ihr Überleben nur noch sichern, indem sie sich (wie Sight and Sound oder Film Quarterly) einer großen Institution wie dem British Film Institute oder einer privaten Stiftung wie der Ford Foundation unterordnen oder zum Mundstück der Industrie umfunktioniert wurden (die Redaktion der Cahiers du Cinéma trat geschlossen zurück, als Medienunternehmer die Zeitschrift kauften, um die Kritik im Interesse der Industrie zu enthaupten8). Andererseits verloren die unabhängigen Zeitschriften durch den unaufhaltsamen Alterungsprozess ihre Produzenten: Nach dem Tod von John Hess und Chuck Kleinhans fällt es Julia Lesage zunehmend schwer, das Unternehmen Jump Cut am Laufen zu halten. In der bislang letzten Ausgabe vom 30. März 2021 bekannte sie, dass sie 82 Jahre alt sei, aber noch in guter Verfassung, umso lange wie möglich, einen Jump Cut nach dem anderen herauszubringen.9
Im Gegensatz war Cineaste nie ein unternehmerisches oder ideologisches Spekulationsobjekt. Obwohl seit der Gründung Gary Crowdus das New Yorker Projekt »Editor in Chief« begleitet, war zu keinem Zeitpunkt ein nach Rendite schielender kapitalistischer Unternehmer. Zwar war es Cineaste immer wieder gelungen, talentierte und engagierte Autoren wie Bill Nichols, Peter Biskind, James Monaco, James Roy MacBean, Thomas Doherty und Richard Porton zu gewinnen, doch profitierte die Zeitschrift von einer politischen und persönlichen Beharrlichkeit und Nachhaltigkeit ihrer Produzenten. Über viele Jahre (wenn nicht Jahrzehnte) prägten Crowdus, Georgakas, Ruth McCormick und Lenny Rubenstein das redaktionelle Geschäft. Auch wenn McCormick und Rubenstein sich in den 1980er und 1990er Jahren sich aus »operativem Geschäft« der Zeitschrift zurückzogen, gelang es Crowdus über die Dekaden hinweg, neue Autoren und Redaktionsmitarbeiter für Cineaste zu gewinnen, ohne dass das politische und künstlerische Ethos der Zeitschrift in Frage gestellt wurde.
Im Laufe der Jahrzehnte sammelte sich in den Archiven von Cineaste nicht allein Unmengen kritischer Artikel und Essays über die Geschichte und Politik des Films in den letzten hundert Jahren, sondern vor allem Interviews mit Filmschaffenden (Regisseuren, Autoren und Kritikern) mit einer reflexiven »Tiefenschärfe«, die im gängigen Filmjournalismus nahezu konkurrenzlos ist. Die Balance zwischen Aspekten des Psychologischen und des Politischen sowohl in der Kunst als auch im Leben, schrieb Karen Jaehne in einer Rezension des ersten Cineaste-Interviewbandes, katapultiere die Interviews an die Spitze einer innovativen Filmkritik.10 Für die Cineaste-Produzenten ist die Form des Interviews in erster Linie ein Forum für die Artikulation provokativer Ideen in politischer und künstlerischer Hinsicht. Daher sehen sie sich eher in der Tradition von Studs Terkel und seiner Praxis der »Oral History« von Arbeitern und Angestellten in der Gesellschaft als in der von Prominentengazetten der Kulturindustrie, die sich auf ein simples Frage-Antwort-Prozedere reduzieren.11 Als Produzenten im Sinne Walter Benjamins, die sich nicht mit »der bloßen Belieferung eines Produktionsapparates«12 begnügen und sich als fungible Stichwortgeber für narzisstische Selbstdarsteller in einer funktionalen Industrie verwerten wollen, besteht – auch für Spätergeborene, die nicht zur Gründungsgeneration gehören – der Anspruch, dem radikalen Impetus der Zeitschrift Geltung zu verschaffen.
Über viele Jahre war neben dem ehemaligen »SDS-Fellow-Traveler« Gary Crowdus auch der griechisch-amerikanische Autor und Aktivist Dan Georgakas (1938–2021) für die politische Kontinuität der Zeitschrift verantwortlich. Im November 2021 erstarb jedoch seine Stimme.13 Seit den 1960er Jahren war Georgakas in linkslibertären und anarchistischen Zirkeln aktiv, publizierte im Sommer 1966 Gesprächsnotizen mit James Baldwin in Arts in Society14, später den Klassiker Detroit: I Do Mind Dying15 Neben seiner Tätigkeit in der Cineaste-Redaktion arbeitete Georgakas mit dem Historiker Paul Buhle an der Encyclopedia of the American Left und der Anthologie The Immigrant Left in the United States (1996) sowie mit den Filmemachern Deborah Shaffer und Stewart Bird an dem Projekt Solidarity Forever: On Oral History of IWW (1985). 2015 setzte ihm Kostas Vakkas mit seinem Dokumentarfilm Dan Georgakas: A Diaspora Rebel ein Denkmal.
Ohne Georgakas, gibt Gary Crowdus unumwunden zu, hätte Cineaste in all den Jahrzehnten weder administrativ noch redaktionell funktioniert.16 Obgleich er sich der radikalen Linken zurechnete, distanzierte er sich von autoritären, marxistisch-leninistischen Vorstellungen, wie sie beispielsweise die Untergrund-Formation Weatherman vertrat. Als der radikale Filmemacher Emile de Antonio, der in den 1960er Jahren zu scharfen Kritikern der US-amerikanischen Politik in Gestalt von Joseph McCarthy, Lyndon B. Johnson und Richard Millhouse Nixon gehörte, den Repräsentanten des »Weather Underground« ein nahezu unkritisches Forum bot, kritisierte Georgakas harsch die fehlende Kritik gegenüber einem autoritären Politbüro, das in Verkleidung über Militarismus und Faschismus schwadronierte, aber nie den Verrat an den demokratischen Idealen der Studenten- und Antikriegsbewegung der 1960er Jahre thematisierte. Aus machtpolitischen Motiven zerstörten sie eine Bewegung und deren Strukturen, womit sie populistisch-autoritären Kräften (die mit Nixon, Ronald Reagan und Donald Trump die amerikanischen Institutionen ihren Zwecken in einem »Zombie-Faschismus« übernahmen) den Boden bereiteten. In den Augen Georgakas’ trugen nicht allein die Funktionäre eines in einen imaginären Untergrund abgedrifteten ML-Autoritarismus Schuld an der politisch-gesellschaftlichen Situation: Auch die Filmemacher wollte er »nicht vom Haken lassen«. Obgleich er ihre Ernsthaftigkeit, einer radikalen Gruppe im Zeitalter des Konformismus Gehör zu verschaffen, nicht in Abrede stellen wollte, hielt er ihnen ihre allzu leichte Bereitwilligkeit vor, die Verlautbarungen des Weather Underground unkritisch zu akzeptieren, ohne »harte Fragen« zu stellen.17
Obwohl Cineaste der filmhistorischen Vergangenheit (vor allem der Zeit der »Schwarzen Liste« in den späten 1940er und den 1950er Jahren – zuletzt in einem unveröffentlichten Interview von Brian Neve mit dem Drehbuchautor und Regisseur Abraham Polonsky18) seit je einen großen kritischen Raum geboten hat, werden neuere Entwicklung nicht in einer nostalgischen Retromanie ausgeblendet. Die Zeitschrift tauchte nicht in einem »Retroscape«19 unter. Auch wenn (nach einem Diktum William Faulkners) »die Vergangenheit niemals tot« und auch nie vergangen ist20, darf die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht in einer »Museumifikation«21 der Gegenwart ausarten. Obwohl er selbst auf den Club der Achtzigjährigen zusteuere und Reminiszenzen über »die guten alten Zeiten« genieße, sei er mehr an der Gegenwart interessiert, schrieb Georgakas zum fünfzigjährigen Jubiläum der Zeitschrift im Herbst 2017. »Ich glaube, dass der Bedarf nach einer alternativen Medienkultur ist heute sogar entscheidender als zu der Zeit unserer Gründung«, insistierte er.22
Die jüngste Ausgabe von Cineaste ist ein Beweis für die kritische Lebendigkeit des »Projekts«: Neben filmhistorischen Artikeln über Billy Wilder, Fred Zinnemann, Joseph Mankiewicz und Melvin Van Peebles finden sich darin auch ein langes Interview mit Kenneth Branagh, mit dem Gary Crowdus über seinen Kindheitsfilm Belfast sprach, als auch ein Interview mit der Regisseurin Jane Schoenbrun, die sich in ihren Filmen kritisch mit den Internet-Technologien und deren Auswirkung auf die menschliche Psyche auseinandersetzt. Diese Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart impliziert eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sowohl in der Zeit der »Schwarzen Liste« als auch in den momentanen Ausprägungen der »sozialen Medienplattformen« wie Facebook und Twitter das Schema der Kontamination durch Desinformation nutzen, um im Sinne autoritärer Strukturen Presse- und Meinungsfreiheit zu eliminieren.23 Cineaste ist somit keine bloße Filmzeitschrift, sondern steht in der Tradition des radikaldemokratischen Projekts der »New Left«, wie es sich in Zeitschriften wie Liberation (1956–1977) und Radical America (1967–1999) artikulierte. Zu wünschen ist, dass Cineaste trotz Verlusten auch die jetzigen »harten Zeiten« übersteht.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Cineaste.
Herausgegeben von Gary Crowdus.
Vierteljährliche Erscheinungsweise.
Adresse: 733 Third Avenue, 16th Floor. New York, NY, 10017
Web: www.cineaste.com
4 Print-Ausgaben (international): 44 US-Dollar.
Online-Archivzugriff über Journal Storage (JSTOR) (kostenpflichtig).
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Cineaste |
© Cineaste |
Cover Cahiers du Cinéma |
© Cahiers du Cinéma |
Cover The Cineaste Interviews |
© Lake View Press |
Zeichnung Cineaste-Redaktion |
© Bill Plympton/Cineaste |
Foto Cineaste-Redaktionskonferenz |
© Cineaste |
Layout Underground Con |
© Cineaste |
Foto Dan Georgakas |
© The National Herald (dan-georgakas_15_0_type13281) |
Nachweise
- Siegfried Kracauer, »Über die Aufgabe des Filmkritikers« (1932), in: Kracauer, Werke, Bd. 6:3, hg. Inka Mülder-Bach (Berlin: Suhrkamp, 2004), S. 63 ↩
- Gary Crowdus, »Looking Back at Our Beginnings: A Personal History of Cineaste«, Cineaste 32, Nr. 4 (Herbst 2007): 39 ↩
- Cf. Paul Douglas Grant, Cinéma militant: Political Filmmaking & May 1968 (New York: Wallflower Press, 2016), S. 16 ↩
- Crowdus, »Looking Back at Our Beginnings: A Personal History of Cineaste«, S. 40 ↩
- Cf. Emilie Bickerton, A Short History of Cahiers du Cinéma (London: Verso, 2011), S. 71–84 ↩
- Dan Georgakas, »Newsreel and Post-New Left Radical Filmmaking«, in: Encyclopedia of the American Left, hg. Mari Jo Buhle, Paul Buhle und Dan Georgakas (New York: Garland, 1990), S. 531 ↩
- Julia Lesage, John Hess und Chuck Kleinhans, »Happy Birthday, Cinéaste«, Jump Cut, Nr. 19 (Dezember 1978), S. 39, http://www.ejumpcut.org/archive/onlinessays/JC19folder/CineasteBirthdayEdl.html ↩
- Cf. Cahiers du Cinéma, Nr. 765 (April 2020) ↩
- Julia Lesage, »The Last Word: Since the Last Issue«, Jump Cut, Nr. 60, http://ejumpcut.org/currentissue/LastWord/index.html ↩
- Karen Jaehne, Rezension von The Cineaste Interviews, Film Quarterly 37, Nr. 1 (Herbst 1983), S. 54 ↩
- Cineaste-Redaktion, »Editorial«, Cineaste 44, Nr. 2 (Frühjahr 2019): 1 ↩
- Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 692 ↩
- Eleni Sakellis, »Dan Georgakas, Author, Activist and TNH Contributor Has Died, 83«, The National Herald, 24. November 2021, https://www.thenationalherald.com/dan-georgakas-author-activist-and-tnh-contributor-has-died-83/; Gary Crowdus et al., »A Memorial Tribute to Dan Georgakas (1938–2021)«, https://www.cineaste.com/spring2022/a‑memorial-tribute-to-dan-georgakas ↩
- Dan Georgakas, »James Baldwin … in Conversation«, in: Black Voices: An Anthology of Afro-American Literature, hg. Abraham Chapman (New York: New American Library, 1968), S. 660–668 ↩
- Dan Georgakas und Marvin Surkin, Detroit: I Do Mind Dying – A Study in Urban Revolution (1975; rpt. Chicago: Haymarket Books, 2012) ↩
- Crowdus, »Looking Back at Our Beginnings: A Personal History of Cineaste«, S. 41 ↩
- Dan Georgakas, »Underground Con«, Cineaste 7, Nr. 4 (Winter 1976–77): 23, 51; Dan Georgakas und Paul McIsaac, »Interview with Emile de Antonio und Mary Lampson« (1976), in: Emile de Antonio: A Reader, hg. Douglas Kellner und Dan Streible (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2000), S. 291–297; Gary Crowdus und Dan Georgakas, »History is the Theme of All My Films: An Interview with Emile de Antonio«, Cineaste 12, Nr. 2 (1982): 20–28 ↩
- Brian Neve, »Romanticism, Realism, and the Blacklist: An Interview with Abraham Polonsky«, Cineaste 47, Nr. 1 (Winter 2021): 12–20 ↩
- Simon Reynolds, Retromania: Pop Culture’s Addiction to Its Own Past (London: Faber & Faber, 2011), S. ix ↩
- William Faulkner, Requiem for a Nun (London: Vintage, 2015), S. 85 ↩
- Reynolds, Retromania, S. 21 ↩
- Dan Georgakas, »Cineaste at Fifty«, Cineaste 42, Nr. 4 (Herbst 2017): 33 ↩
- Cineaste-Redaktion, »Editorial: From the Backlist to Social Media«, Cineaste 47, Nr. 1 (Winter 2021): 1 ↩