Texte und Zeichen

Blick zurück nach vorn

B

Blick zurück nach vorn 

Eine Bücherlese des zurückliegenden Jahres 2022 

von Jörg Auberg

The Beat Goes On

Zu den ver­dienst­vol­len Unter­neh­mun­gen des Rowohlt-Ver­la­ges gehört die Pfle­ge des »klas­si­schen Erbes« im sonst vor­nehm­lich auf Pro­fit und Ren­di­te aus­ge­rich­te­ten Holtz­brinck-Kon­zern. Seit Jah­ren wer­den Wer­ke von Autoren, wel­che die »Mar­ke« Rowohlt im deut­schen Ver­lags­we­sen unter der Ägi­de von Ernst Rowohlt und sei­nes Nach­fol­gers Hein­rich Maria Ledig-Rowohlt ent­schei­dend präg­ten, kon­ti­nu­ier­lich in einer zeit­ge­mä­ßen Über­tra­gung neu über­setzt. Neben Roma­nen von Reprä­sen­tan­ten der »klas­si­schen Moder­ne« wie Ernest Heming­way, John Dos Pas­sos und Lou­is-Fer­di­nand Céli­ne betrifft dies auch Bücher von Jack Kerouac, dem »König der Beats« (wie ihn sein Bio­graf Bar­ry Miles titu­lier­te). In den 1960er und 1970er Jah­ren wur­den Kerou­acs Tex­te bei Rowohlt häu­fig mit Pulp-Fic­tion-Titel wie »Bebop, Bars und wei­ßes Pul­ver« oder »Gamm­ler, Zen und hohe Ber­ge« ver­trie­ben. Inzwi­schen scheint sich selbst im Ver­lags­mar­ke­ting eine gewis­se Serio­si­tät durch­ge­setzt zu haben.

In den spä­te­ren Roma­nen nach sei­nen Erfol­gen als Beat-Autor mit den Wer­ken On the Road (1957) und The Sub­ter­ra­ne­ans (1958) kon­tras­tier­te Kerouac die hek­ti­sche Urba­ni­tät der spä­ten 1950er Jah­ren in Metro­po­len wie New York und San Fran­cis­co mit einem »post­mo­der­nen« Tran­szen­den­ta­lis­mus, in dem Natur­ver­bun­den­heit und bud­dhis­ti­sche Reli­gio­si­tät domi­nier­ten und die anti­po­li­ti­sche Hal­tung der Hip­pie-Gegen­kul­tur der 1960er Jah­re vor­weg genom­men wur­den. Sowohl The Dhar­ma Bums (1958) als auch Deso­la­ti­on Angels (1965) nut­zen den Stil des lan­gen Pro­sa-Gedichts, um in Form des Memoi­ren-Romans die Beat­nik-Erfah­rung (reprä­sen­tiert von Kerouac als Erzäh­ler und zeit­ge­nös­si­schen Cha­rak­te­ren wie Gary Sny­der, Allen Gins­berg, Neal Cass­idy, Ken­neth Rex­roth, Caro­lyn Cas­sa­dy, Micha­el McClure und ande­ren) in einer rhap­so­dischen Lite­ra­tur­form als zeit­ge­nös­si­sche ame­ri­ka­ni­sche Mytho­lo­gi­sie­rung des Proust’schen Ver­suchs des Fest­hal­tens der Erin­ne­rung einer ver­lo­re­nen Zeit darzustellen.

Jack Kerouac: Die Dharma-Jäger (Rowohlt, 2022)

Jack Kerouac.
Die Dhar­ma-Jäger.
Ori­gi­nal: The Dhar­ma Bums (1958).
Über­setzt von Tho­mas Überhoff.
Ham­burg: Rowohlt, 2022.
288 Sei­ten, 24 Euro.
ISBN: 978–3‑498–03587‑7.

Jack Kerouac: Engel der Trübsal (Rowohlt, 2022)

Jack Kerouac.
Engel der Trübsal.
Ori­gi­nal: Deso­la­ti­on Angels (1965).
Über­setzt von Jan Schönherr.
Ham­burg: Rowohlt, 2022.
528 Sei­ten, 26 Euro.
ISBN: 978–3‑498–03586‑0.

In sei­ner Stu­die The Beats in Mexi­co unter­sucht David Ste­phen Calon­ne die Fas­zi­na­ti­on, die Mexi­ko auf zahl­rei­che Autoren und Autorin­nen der Beat Gene­ra­ti­on aus­üb­te. Für Jack Kerouac stell­te das »magi­sche Land« eine Aus­deh­nung der ame­ri­ka­ni­schen »fron­tier« jen­seits der kapi­ta­lis­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Begren­zun­gen dar, wäh­rend es für Wil­liam Bur­roughs ein zeit­wei­ser Zufluchts­ort vor der Ver­fol­gung poli­zei­li­cher und juris­ti­scher US-Behör­den war. Daüber hin­aus ana­ly­siert Calon­ne die Bedeu­tung  Mexi­kos im gegen­kul­tu­rel­len Ent­wurf von Beat-Autoren und Beat-Autorin­nen wie Law­rence Fer­lin­ghet­ti, Allen Gins­berg, Micha­el McClure, Bon­nie Brem­ser und Mar­ga­ret Rand­all, wobei er auch das indi­ge­ne Erbe der Mayas und Azte­ken, den Scha­ma­nis­mus und den Ein­satz »bewusst­seins­er­wei­tern­der Dro­gen« wie Pey­o­te einbezieht.

David Stephen Calonne, The Beats in Mexico (Rutgers University Press, 2022)

David Ste­phen Calonne.
The Beats in Mexico.
New Bruns­wick: Rut­gers Uni­ver­si­ty Press, 2022.
290 Sei­ten, 29,95 US-$.
ISBN: 978–1‑978–82872‑8.

Im reani­mier­ten Ver­lag Black Spar­row Press ver­öf­fent­lich­te Nee­li Cher­kov­ski eine erwei­ter­te Fas­sung sei­ner teil­weil­se sehr per­sön­lich gehal­te­nen Bio­gra­fie über den Dich­ter und Ver­le­ger Law­rence Fer­lin­ghet­ti, der nach einem Stu­di­um an der Pari­ser Sor­bon­ne in San Fran­cis­co zunächst den Buch­la­den City Lights eröff­ne­te und 1954 den bis heu­te bestehen­den Ver­lag City Lights Books, in der neben klas­si­schen Beat-Wer­ken auch poli­ti­sche Bücher von Howard Zinn, Noam Chom­sky und Hen­ry A. Giroux ver­legt wer­den. Fer­lin­ghet­ti und City Lights Books sind wie Frank Nor­ris’ McTeague oder Jack Lon­dons Fris­co Kid unaus­lösch­li­cher Teil der kul­tu­rel­len Ima­gi­na­ti­on San Franciscos.

Neeli Cherkovski, Ferlinghetti: A Life (Black Sparrow Press, 2022)

Nee­li Cherkovski.
Fer­lin­ghet­ti: A Life.
Bos­ton: Black Spar­row Press, 2022.
272 Sei­ten, 18,95 US-$.
ISBN: 978–1‑57423–259‑2.

Der Dich­ter Harold Nor­se ist in ers­ter Linie für sei­nen Bericht über das angeb­lich »ver­laus­te« und von Kaker­la­ken heim­ge­such­te »Beat Hotel« in der Pari­ser Rue Git-Le-Coeur bekannt. In dem von A. Robert Lee und Dou­glas Field her­aus­ge­ge­be­nen Band Harold Nor­se: Poet Maverick, Gay Lau­rea­te wird Nor­se der lite­ra­ri­schen Obsku­ri­tät ent­ris­sen und sowohl in sei­nen ver­schie­de­nen Facet­ten als Beat-Dich­ter und Akti­vist im Gay Libe­ra­ti­on Move­ment in den spä­ten 1960er Jah­ren por­trä­tiert. Selbst von Beat-Lau­rea­ten wie Law­rence Fer­lin­ghet­ti wur­de Nor­ses Ori­gi­na­li­tät in Abre­de gestellt: Er habe eine eige­ne Stim­me gehabt, schrieb sein Ver­le­ger Fer­lin­ghet­ti, doch habe er sich viel­fach zum Sprach­rohr ande­rer Dich­ter gemacht. In einem Gedicht konn­te er wie T. S. Eli­ot klin­gen, in einem ande­ren wie­der­um wie Wil­liam Bur­roughs. In die­ser Sicht­wei­se war er der Zelig der Beat Gene­ra­ti­on. Die ver­schie­de­nen Bei­trä­ge der Antho­lo­gie posi­tio­nie­ren Nor­se jedoch im Kon­text der post­mo­der­nen Avant­gar­de der 1960er Jah­re mit ihren Cut-Up-Expe­ri­men­ten (wie sie vor allem von Bur­roughs und Bri­on Gysin vor­an­ge­trie­ben wur­den) und der »Mimeo Revo­lu­ti­on«, die einer Viel­zahl klei­ner Zeit­schrif­ten in bil­li­gen Ver­viel­fäl­ti­gungs­tech­ni­ken den tra­di­tio­nel­len Publi­ka­ti­ons­weg über Ver­la­ge und Zeit­schrif­ten­kon­zer­ne ersparte.

A. Robert Lee und Dou­glas Field (Hgg.).
Harold Nor­se: Poet Maverick, Gay Laureate.
Clem­son: Clem­son Uni­ver­si­ty Press, 2022.
304 Sei­ten, 83,60 UK-£.
ISBN: 978–1‑63804–016‑3.

Obwohl die Beats in den spä­ten 1950er Jah­ren von wei­ten Tei­len der US-ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­in­dus­trie gefei­ert und hofiert wur­den, begeg­ne­te ihm die intel­lek­tu­el­le Eli­te größ­ten­teils mit Arg­wohn, wenn nicht mit Feind­se­lig­keit. Wäh­rend sie in Nor­man Mailer einen Für­spre­cher und eta­blier­ten Intel­lek­tu­el­len wie Alfred Kazin und Irving Howe kri­ti­sche Kom­men­ta­to­ren ihrer Akti­vi­tä­ten hat­ten, beschrieb sie Nor­man Podho­retz in sei­nem berüch­tig­ten Essay »The Know-Not­hing Bohe­mi­ans« als Reprä­sen­tan­ten einer auf Anti­in­tel­lek­tua­lis­mus und Gewalt fixier­ten Cli­que kul­tu­rel­ler Hoo­li­gans. In sei­nen spä­ten Jah­ren mach­te der von Alko­ho­lis­mus und Erfolg­lo­sig­keit gebeu­tel­te Jack Kerouac wähn­te er eine  »jüdi­sche lite­ra­ri­sche Mafia« am Wer­ke, die sei­ne lite­ra­ri­schen Anstren­gun­gen hin­ter­häl­tig unter­mi­nier­te. Wie Josh Lam­bert in sei­ner Stu­die The Lite­ra­ry Mafia her­aus­stellt, war in den 1960er und 1970er Jah­ren die Vor­stel­lung einer »lite­ra­ri­schen Mafia« omni­prä­sent: Selbst bekann­te Autoren wie Mario Puzo und Tru­man Capo­te oder der Medi­en­künst­ler Richard Kos­te­la­netz sahen sich von einem jüdisch domi­nier­ten, nepo­tis­tisch agie­ren­den Zir­kel von Publi­zis­ten, Kri­ti­kern, Her­aus­ge­bern und Lek­to­ren umge­ben, der als »lite­ra­ri­scher Mob« dar­über wach­te, wer Zugang zu Ver­la­gen und Medi­en beka­men oder wer aus­ge­sperrt blieb. An die Stel­le des Begrei­fens, wie die­se lite­ra­ri­schen Agen­tu­ren in einem kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem der Ver­brei­tung und Ver­wer­tung arbei­te­ten und funk­tio­nier­ten, setz­ten sich anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­theo­rien. Wie Lam­bert her­aus­stellt, kommt es in einer lite­ra­ri­schen Kul­tur dar­auf an, wer Ein­fluss gewin­nen und stra­te­gisch wich­ti­ge Posi­tio­nen beset­zen kann. Dies ist in ers­ter Linie von öko­no­mi­schen Fak­to­ren abhän­gig. Das Gebil­de einer »lite­ra­ri­schen Mafia« ist daher eher »Spuk« denn real in der Gesell­schaft vorhanden.

Josh Lambert: The Literary Mafia (Yale University Press, 2022)

Josh Lam­bert.
The Lite­ra­ry Mafia.
Jews, Publi­shing, and Post­war Ame­ri­can Literature.

New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2022.
272 Sei­ten, 35 US-$.
ISBN: 978–0‑30025–142‑5.

Literatur & Erfahrung

In Come Back in Sep­tem­ber, sei­nen Erin­ne­run­gen an sei­ne »lite­ra­ri­schen Lehr­jah­re« in den frü­hen 1970er Jah­ren, reka­pi­tu­liert Dar­ryl Pink­ney die Span­nun­gen zwi­schen dem »jüdi­schen lite­ra­ri­schen Estab­lish­ment« New Yorks und den auf­stre­ben­en­den, nach Krea­ti­vi­tät und Aner­ken­nung suchen­den afro-ame­ri­ka­ni­schen Stu­den­ten, die wie Jack Lon­dons Figur Mar­tin Eden aus beeng­ten Ver­hält­nis­sen der Vor­her­seh­bar­keit aus­bre­chen und eine Welt sich erschrei­ben woll­ten. Im Herbst 1973 schrieb sich Pinck­ney im Kurs »Crea­ti­ve Wri­ting« am Bar­nard Col­lege bei der domi­nan­ten Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin und Schrift­stel­le­rin Eliza­beth Hard­wick ein, über die er die Initia­ti­on in das New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len­mi­lieu und Zugang zu wich­ti­gen Medi­en wie der New York Review of Books als auch zu ihren Mache­rIn­nen wie Robert Sil­vers, Bar­ba­ra Epstein, Mary McCar­thy und Sus­an Son­tag. Zugleich war er in die poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Strö­mun­gen der 1970er und 1980er Jah­re — in die Zei­ten der Eman­zi­pa­ti­on, des Auf­bruchs und des Roll­backs — invol­viert und reflek­tiert sich in der auto­bio­gra­fi­schen Retro­spek­ti­ve als intel­lek­tu­el­ler Autor, der die letz­ten Momen­te eines »gol­de­nen Zeit­al­ters« in New York erleb­te, ehe die »guten, alten Zei­ten« der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len von den Mas­ke­ra­den von Raub­tier­ka­pi­ta­lis­ten wie Donald Trump, wel­che die New Yor­ker Welt von Hoch­fi­nanz, Enter­tain­ment und Poli­tik (wie die Jour­na­lis­tin Mag­gie Haber­man in ihrer Trump-Bio­gra­fie Con­fi­dence Man schrieb) in einem prä­fa­schis­ti­schen Mer­ger ein­schmol­zen, von den Wel­len eines auto­ri­tä­ren »Popu­lis­mus« fort­ge­schwemmt wurden.

Darryl Pinckney, Come Back in September (Riverrun, 2022)

Dar­ryl Pinckney.
Come Back in September:
A Lite­ra­ry Edu­ca­ti­on on West Six­ty-Seventh Street, Manhattan.

Lon­don: Riverrun/Quercus, 2022.
421 Sei­ten, 30 UK-£.
ISBN: 978–1‑52942–604‑5.

In sei­ner Lis­te der bes­ten Bücher des Jah­res 2022 posi­tio­niert das New Yor­ker Maga­zin Vul­tu­re Peter Brooks’ Buch Sedu­ced by Sto­ry an neun­ter Stel­le. In die­ser elo­quen­ten wie intel­li­gen­ten Abhand­lung über den Gebrauch und Miss­brauch des »Nar­ra­tivs« (wie es nun zur Flos­kel der kul­tur­in­dus­tri­el­len Mund­stü­cke der sozia­li­sier­ten Halb­bil­dung gewor­den ist) beschäf­tigt sich der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Brooks mit einer Welt, die vom »Nar­ra­tiv« über­nom­men wur­de. In der »All­ge­gen­wart des ent­frem­de­ten Geis­tes« (wie sie Theo­dor W. Ador­no in sei­ner »Theo­rie der Halb­bil­dung« beschrieb) wird das »Sto­rytel­ling« zur obe­ren Maxi­me, wobei es nicht mehr — wie bei Wil­liam Faul­k­ner oder Wal­ter Ben­ja­min — um die Infra­ge­stel­lung von rea­lis­ti­schen Kon­ven­tio­nen geht, son­dern um die fal­sche Dra­pie­rung des Geschicht­li­chen durch die »Geschich­ten­ma­che­rei«. Im media­len Zir­kus, in dem das »Nar­ra­tiv« als Gegen­mit­tel zu Kogni­ti­on und Erkennt­nis ein­ge­setzt wird und den Stra­te­gien der Ver­här­tung und Ver­schleie­rung die­nen soll, fin­det eine Ent­wer­tung der kri­ti­schen Werk­zeu­ge statt, unter­streicht Brooks, wäh­rend auto­ri­tä­re Falsch­mün­zer in ihren diver­sen Mas­ke­ra­den des »Con­fi­dence Man« die toxi­schen Geschäf­te des »gesell­schaft­li­chen Unwe­sens« (Ador­no) betreiben.

Peter Brooks, Seduced by Story (New York Review Books, 2022)

Peter Brooks.
Sedu­ced by Story:
The Use and Abu­se of Narrative.

New York: New York Review Books, 2022.
176 Sei­ten, 17,95 US-$.
ISBN: 978–1‑68137–663‑9.

In einer Kri­tik zu Isaac Bas­he­vis Sin­gers post­hu­men Essay­band Old Truths and New Cli­chés wies Adam Kirsch in der New Yor­ker Wochen­zei­tung The Nati­on (4. Okto­ber 2022) auf die lebens­lan­ge Iden­ti­tät des Nobel­preis­trä­gers als »Zei­tungs­mensch« hin, die sein Den­ken über das Wesen von Lite­ra­tur präg­te: Nach sei­ner Maxi­me war ein Text, der sei­ne Leser:innen lang­weil­te, wert­los. In ers­ter Linie begriff sich Sin­ger als tra­di­tio­nel­ler »Geschich­ten­er­zäh­ler«, der für den Moder­nis­mus wenig übrig hat­te. In sei­ner Vor­stel­lung war selbst Geor­ge Orwells 1984 »nicht wirk­lich Lite­ra­tur«. Im Titel­es­say aus dem Jah­re 1967 kon­sta­tiert er, dass Kunst (in ihrer moder­nen Aus­drucks­form von Joy­ce, Kaf­ka oder der abs­trak­ten Male­rei und Lyrik) von der äuße­ren Rea­li­tät erschöpft sei. Der Band ver­sam­mel­te neun­zehn Essays Sin­gers, die sich mit den lite­ra­ri­schen Küns­ten, aber auch mit Fra­gen des jüdi­schen Lebens und per­sön­li­chen phi­lo­so­phi­schen Fra­ge­stel­lun­gen beschäf­ti­gen. Wie Adam Kirsch in sei­nem Essay unter­strich, gehör­ten sowohl Sin­gers Figur »Gim­pel, der Narr« aus der alten Welt wie auch Saul Bel­lows kon­ser­va­ti­ve Intel­lek­tu­el­len-Gestalt Her­zog aus der ehe­mals neu­en Welt zu den Abkömm­lin­gen von Fjo­dor Dos­to­jew­skis »bril­lan­ten Neurotikern«. 

Isaac B. Singer, Old Truths and New Clichés (Princeton University Press, 2022)

David Strom­berg (Hg.).
Old Truths and New Clichés:
Essays by Isaac Bas­he­vis Singer.

Prince­ton: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 2022.
248 Sei­ten, 24,95 US-$.
ISBN: 978–0‑69121–763‑5.

IIn ihrem lei­den­schaft­li­chen Buch Papy­rus schreibt die spa­ni­sche Phi­lo­lo­gin Ire­ne Val­le­jo ihre Ver­si­on der »Geschich­te der Welt in Büchern«. »Das Buch«, kon­sta­tiert sie in ihrer Ein­lei­tung, »hat sich im Lau­fe der Zeit bewährt, es hat sich sich als Lang­stre­cken­läu­fer erwie­sen.« Sie taucht in die tie­fe­ren Schich­ten der Biblio­phi­lie der Zivi­li­sa­ti­on, begon­nen bei den grie­chi­schen und römi­schen Kul­tu­ren, um den »ero­ti­schen und lite­ra­ri­schen Reso­nanz­raum des Mythos« biblio­phi­ler Uto­pien von Alex­an­dria und ande­ren Orten odys­see­ischer Fan­ta­sien zu erfah­ren. Am Ende ist die Illu­si­on para­die­si­cher Zustän­de jen­seits des Alterns, der Krank­hei­ten, Pro­sta­ta­pro­ble­me oder seni­len Demenz so falsch wie die im gesell­schaft­li­chen Unwe­sen beschwo­re­ne Wich­tig­keit des Buches. Letzt­lich ist — mit Ador­no gespro­chen — die Phi­lo­lo­gie »ver­schwo­ren mit dem Mythos: sie ver­sperrt den Ausweg«. 

Irene Vallejo. Papyrus: Die Geschichte der Welt in Büchern (Diogenes, 2022)

 

 

 

Ire­ne Vallejo.
Papy­rus: Die Geschich­te der Welt in Büchern.
Über­setzt von Maria Mei­nel und Luis Ruby.
Zürich: Dio­ge­nes, 2022.
752 Sei­ten, 28 Euro.
ISBN: 978–3‑257–07198‑6.

Geschichte & Erzählung

In sei­ner Intel­lek­tu­el­len­ge­schich­te Hei­mat Welt­büh­ne beschreibt Alex­an­der Gal­lus den Exil-Her­aus­ge­ber der Zeit­schrift Die Welt­büh­ne Her­mann Bud­zis­law­ski als Erfül­lungs­ge­hil­fes der sta­li­nis­ti­schen »Ein­heits­front«, der nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges in den Jah­ren 1967 bis 1971 als Chef­re­dak­teur der DDR-Zeit­schrift Die Welt­büh­ne die poli­ti­schen Prä­mis­sen der SED kri­tik­los über­nahm. In sei­ner Stu­die Hin­ter der Welt­büh­ne: Her­mann Bud­zis­law­ski und das 20. Jahr­hun­dert wen­det sich Dani­el Sie­mens gegen das vor­herr­schen­de »Nar­ra­tiv«, in dem ost­deut­sche Intel­lek­tu­el­le vor­wie­gend in »Defi­zit-Bio­gra­fien« abge­han­delt wer­den, wobei bes­ten­falls von »fehl­ge­lei­te­tem Idea­lis­mus und poli­ti­scher Zäh­mung« die Rede ist. »Die Geschich­te von Her­mann Bud­zis­law­ski und sei­nem Kampf um die Welt­büh­ne ist letzt­lich eine Vari­an­te der all­ge­mei­nen Pro­blem­la­ge von poli­ti­scher Macht und intel­lek­tu­el­ler Mög­lich­keit«, schreibt Sie­mens in sei­ner Ein­lei­tung. »Bud­zis­law­ski ver­kör­per­te eine extre­me, poli­tik­na­he Posi­ti­on in die­sem Span­nungs­feld, wäh­rend Kurt Tuchol­sky für die gegen­ge­setz­te Opti­on stand, die des sich von Par­tei­aus­ein­an­der­set­zun­gen abseits hal­ten­den Intel­lek­tu­el­len.« Damit ver­engt und sim­pli­fi­ziert Sie­mens jedoch die Intel­lek­tu­el­len­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts, da er die Wahl­mög­lich­keit des Intel­lek­tu­el­len auf Anpas­sung oder Abseits redu­ziert, ohne die poli­ti­schen Inhal­te von Anti­fa­schis­mus, Mar­xis­mus, Auto­ri­ta­ris­mus und kri­ti­scher Theo­rie im Zeit­al­ter von Mas­sen­ver­nich­tung, ato­ma­rer Bewaff­nung und Öko­lo­gie in Betracht zu zie­hen. Dass Bud­zis­law­ski im Gegen­satz zu ande­ren Köp­fen der Welt­büh­ne wie Carl Ossietz­ky und Kurt Tuchol­sky kaum in der geschicht­li­chen Erin­ne­rung ver­an­kert ist, liegt ver­mut­lich auch an sei­ner extre­men Zeit­ge­bun­den­heit, über die hin­aus er den Nach­ge­bo­re­nen intel­lek­tu­ell nichts hinterließ.

Daniel Siemens, Hinter der "Weltbühne": Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert (Aufbau, 2022)

Dani­el Siemens.
Hin­ter der Welt­büh­ne: Her­mann Bud­zis­law­ski und das 20. Jahrhundert.
Ber­lin: Auf­bau Ver­lag, 2022.
413 Sei­ten, 28 Euro.
ISBN: 978–3‑351–03812‑0.

In sei­ner schma­len Stu­die Poli­tics and Lite­ra­tu­re at the Dawn of World War II unter­sucht der eme­ri­tier­te Anglist James A. W. Hef­fer­n­an den Ein­fluss des Zwei­ten Welt­krie­ges und sei­ner Vor­ge­schich­te in Euro­pa und Nord­ame­ri­ka auf die intel­lek­tu­el­le und lite­ra­ri­sche Pro­duk­ti­on von Intel­lek­tu­el­len, Schrift­stel­lern und Dich­tern wie Phil­ip Rahv, Ernest Heming­way, Mar­tha Gell­horn, W. H. Auden und Ber­tolt Brecht. Dabei fokus­siert er sei­nen Blick auf die poli­ti­schen Ereig­nis­se in Euro­pa, die der Kata­stro­phe vor­an­gin­gen (der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg oder die Annek­ti­on der Tsche­cho­slo­wa­kei), und die epi­sche Umset­zung von Geschich­te in Erzäh­lung. Gra­ham Gree­nes Urteil, dass Heming­ways For Whom the Bell Tolls »wah­rer als Geschich­te« sei, ist mehr als frag­wür­dig. Hef­fer­n­an hin­ter­fragt (vor dem aktu­el­len Hin­ter­grund des Ukrai­ne-Krie­ges) die his­to­ri­sche Ver­läss­lich­keit der lite­ra­ri­schen »Ver­ar­bei­tun­gen«, die den jewei­li­gen geschicht­licht­li­chen und emo­tio­na­len Sen­si­bi­li­tä­ten der Zeit geschul­det waren. Die »Tex­te« ber­gen so eige­ne »Wahr­hei­ten« in sich. 

James A. W. Heffernan.
Poli­tics and Lite­ra­tu­re at the Dawn of World War II.
Lon­don: Bloomsbu­ry Aca­de­mic, 2022.
216 Sei­ten, 115 US-$.
ISBN: 978–1‑350–32495‑4.

In Zei­ten des Krie­ges und der fort­schrei­ten­den Mili­ta­ri­sie­rung des öffent­li­chen Dis­kur­ses erscheint die Geschich­te des US-ame­ri­ka­ni­schen Pazi­fis­mus im Zwei­ten Welt­krieg War by Other Means zum rich­ti­gen Zeit­punkt. Anhand von vier exem­pla­ri­schen Bio­gra­fien von David Del­lin­ger, Doro­thy Day, Bayard Rus­tin und Dwight Mac­do­nald schil­dert der Jour­na­list Dani­el Akst die ver­schie­de­nen Facet­ten und Beweg­grün­de der dama­li­gen Kriegs­geg­ner, die sich ange­sichts des bedroh­li­chen Sie­ges­zu­ges des inter­na­tio­na­len Faschis­mus, des Holo­causts und der Mög­lich­keit der nuklea­ren Exter­mi­na­ti­on nicht nur in poli­ti­scher Hin­sicht per­ma­nent unter Druck stan­den, son­dern auch mora­lisch: Mit wel­cher Berech­ti­gung konn­te man sich dem »guten Krieg« gegen die dämo­ni­schen Kräf­te des Faschis­mus wider­set­zen? Aksts The­se ist, dass weni­ger die poli­ti­sche Oppo­si­ti­on der Pazi­fis­ten im Zwei­ten Welt­krieg ent­schei­dend war, son­dern ihr Enga­ge­ment und ihre oft reli­gi­ös moti­vier­te Hin­ga­be, die gesam­te Exis­tenz in die Waag­scha­le zu wer­fen, um gegen das von ihnen ange­pran­ger­te Unrecht zu oppo­nie­ren. Die­se radi­ka­le Hal­tung, die ohne Rück­sicht auf sich selbst auch Aus­gren­zun­gen und Haft­straf­ten in Kauf nahm, ist für Akst der Motor, der auch auf die spä­te­re Bür­ger­rechts- und Anti­kriegs­be­we­gung in den 1950er und 1960er Jah­ren ent­schei­dend. Die­se The­se ist nicht ganz schlüs­sig: Zwar wirk­ten in die­sen Bewe­gun­gen Del­lin­ger und Rus­tin als füh­ren­de Figu­ren mit, doch der Ein­fluss von Doro­thy Day »Catho­lic Worker«-Bewegung und die wech­seln­den poli­ti­schen Bekennt­nis­se des New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len Dwight Mac­do­nald blieb eher mar­gi­nal. Den­noch ist Aksts Buch ein wich­ti­ger Bei­trag zur kri­ti­schen Selbst­ver­ge­wis­se­rung in einer »Zei­ten­wen­de«, da Gewalt wie­der zum zen­tra­len Momen­tum der Poli­tik gewor­den ist.

Daniel Akst, War by Other Means (Melville House, 2022)

Dani­el Akst.
War by Other Means:
How the Paci­fists of WWII Chan­ged Ame­ri­ca for Good.
Brook­lyn und Lon­don: Mel­ville House, 2022.
368 Sei­ten, 28,99 US-$.
ISBN: 978–1‑612–19924‑5

© Jörg Auberg 2023

 
 
 
 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 
 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

 
 
 
 

 

Kommentar hinzufügen

Moleskin Blues Error: GRAVE

Texte und Zeichen

Um auf dem Laufenden zu bleiben …

Jörg Auberg - Writer, critic, editor, publisher