Texte und Zeichen

Die Politik der Rackets

D

Herrschaft oder Anarchie

Kai Lin­de­mann durch­leuch­tet die Pra­xis der Rackets

von Jörg Auberg

Der Begriff »Racket« hat im gän­gi­gen Sprach­ge­brauch mitt­ler­wei­le eine Rei­he von Bedeu­tun­gen. In ers­ter Linie wird er mit dem Ten­nis­schlä­ger in Ver­bin­dung gebracht. Dar­über hin­aus bezeich­net er (unter ande­rem) eine Pro­gram­mier­spra­che, eine Social-Media-Audio-App (»Let’s Make a Racket«) und ein Medi­en-Start-up in Min­ne­so­ta.1 His­to­risch war das »Racket« ein von poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Ego­is­men gesteu­er­tes Macht­kar­tell, das sei­ne kol­lek­ti­ven Inter­es­sen gegen das gesell­schaft­li­che Gan­ze durch­setz­te. In den 1930er Jah­ren war »Racket« ein gän­gi­ger Begriff, der das ego­is­ti­sche Bestre­ben nach dem Erwerb von Posi­tio­nen und Ver­mö­gen mit kri­mi­nel­len oder lega­len Mit­teln in einer kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft beschrieb.2

The Racket (John Crom­well, 1951)

Das »Racket« agier­te in der poli­ti­schen und sozio­lo­gi­schen Dis­kus­si­on in den 1930er Jah­ren an der Schnitt­stel­le zwi­schen libe­ra­ler Demo­kra­tie und tota­li­tä­ren Sys­te­men. »›Rackets‹ schei­nen zu einem Sta­di­um der Gesell­schaft zu gehö­ren«, schrieb der Jurist Otto Kirch­hei­mer, »wo der Erfolg mehr vom Zugang zu Orga­ni­sa­tio­nen und zu tech­ni­schen Mit­teln aller Art anhängt als von beson­de­ren Talen­ten.«3 Für Max Hork­hei­mer bezog sich das »Kon­zept der Rackets« auf »gro­ße und klei­ne Unter­neh­men«; zugleich hat­te es für ihn auch kul­tu­rel­le und sozia­le Kom­po­nen­ten über den Bereich von Poli­tik und Öko­no­mie hin­aus: »Das Racket war auch das Orga­ni­sa­ti­ons­mus­ter der Män­ner gegen­über den Frau­en«, schrieb Hork­hei­mer in dem Auf­satz »Zur Sozio­lo­gie der Klas­sen­ver­hält­nis­se« (1943). »Der moder­ne Begriff trägt dazu bei, gesell­schaft­li­che Bezie­hun­gen der Ver­gan­gen­heit zu beschrei­ben.«4 In der beson­de­ren geschicht­li­chen Situa­ti­on der 1930er und 1940er Jah­re, in der über For­men des Tota­li­ta­ris­mus in Euro­pa, der Sowjet­uni­on und den USA dis­ku­tiert wur­de, ging die poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Meta­pher des Rackets über tra­di­tio­nel­le Vor­stel­lun­gen von Poli­tik und Öko­no­mie hin­aus. Bei­spiels­wei­se sprach Geor­ge Orwell vom »Klas­sen-Racket«, um – wie Hork­hei­mer – die demo­kra­ti­sche Kom­po­nen­te als Gegen­mo­dell zu den faschis­ti­schen, sta­li­nis­ti­schen und popu­lis­ti­schen Struk­tu­ren der Gegen­wart zu beto­nen.5

Kai Lindemann - Die Politik der Rackets
Kai Lin­de­mann: Die Poli­tik der Rackets (West­fä­li­sches Dampf­boot, 2021)

In sei­nem Buch Die Poli­tik der Rackets rekur­riert Kai Lin­de­mann, der seit 2016 das Refe­rat »Arbeits­welt und gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt« beim DGB-Bun­des­vor­stand lei­tet, im Wesent­li­chen auf Arbei­ten des Frank­fur­ter Insti­tuts für Sozi­al­for­schung aus den 1940er Jah­ren und kon­zen­triert sich auf den poli­tisch-öko­no­mi­schen Kon­text der Racket-Theo­rie. »Der Racket-Begriff besitzt […] im Gegen­satz zum Eli­te­be­griff einen Bezug zur herr­schen­den Klas­se und den gesell­schaft­li­chen Klas­sen­ver­hält­nis­sen«, unter­streicht er. »Rackets ver­de­cken, ent­schär­fen und inte­grie­ren den Klas­sen­kon­flikt.«6. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen fin­den in sei­nen Augen auf den Ter­ri­to­ri­en der Klas­sen­kon­flik­te zwi­schen Arbeit und Kapi­tal statt, wäh­rend das Racket als gewalt­tä­ti­ges, kri­mi­nel­les Grup­pen­sub­jekt für ihn schlicht »in den Pro­duk­ten der Kul­tur­in­dus­trie als Kri­mi, Thril­ler, Wes­tern oder Kriegs­film« in Erschei­nung tritt.7 Die kul­tu­rel­le Kom­po­nen­te, die Hork­hei­mer in sei­nem Text »Die Rackets und der Geist« ansprach, inter­es­siert Lin­de­mann weni­ger. »Jedes Racket ist ver­schwo­ren gegen den Geist und alle sind es unter­ein­an­der«, dia­gnos­ti­zier­te Hork­hei­mer und sah die Racket-Herr­schaft auch auf den Bil­dungs­sek­tor ein­wir­ken: »Bis­her hat das Racket allen gesell­schaft­li­chen Erschei­nun­gen sei­nen Stem­pel auf­ge­prägt […]«, resü­mier­te Hork­hei­mer und beton­te die demo­kra­ti­sche Eman­zi­pa­ti­on von der Domi­nanz frei fluk­tu­ie­ren­der Rackets.8

Henning Hillmann: The Corsairs of Saint-Malo (Columbia University Press, 2021)
Hen­ning Hill­mann: The Cor­sairs of Saint-Malo (Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2021)

Für Lin­de­mann sind die wesent­li­chen Merk­ma­le eines Rackets die Beu­te­ge­mein­schaft, die Kom­pli­zen­schaft, der Schutz und die Loya­li­tät, die Ein­zel­we­sen zur Unter­ord­nung in den Grup­pen­ver­band moti­vie­ren. Pro­to­typ die­ser Orga­ni­sa­ti­ons­form sei das »Pira­ten­ra­cket«, das sei­nen Mit­glie­dern bei über­schau­ba­rem Ein­satz einen größt­mög­li­chen Anteil an der Beu­te oder »Pri­se« ver­schaff­te. Die Rackets der »Pira­ten« oder »Kor­sa­ren« bedien­ten sich der öko­no­mi­schen Aus­prä­gun­gen des »Net­wor­king«, um sich mög­lichst vie­le Vor­tei­le zu ver­schaf­fen, nutz­ten das »Racke­tee­ring« als Medi­um der wirt­schaft­li­chen Berei­che­rung, um danach im »Pri­va­tee­ring« als Pri­va­tier vom Ertrag der Beu­te zu zeh­ren.9 Über das öko­no­mi­sche Modell hin­aus war das »Pira­ten-Racket« auch teil­wei­se ein Gegen­ent­wurf zur bür­ger­li­chen Herr­schafts- und Lebens­wei­se, wie ihn der »liber­tä­re« Pirat Charles Mis­si­on dar­stell­te.10

In sei­ner poli­tisch-öko­no­mi­schen Fixiert­heit, die in ihrem Racket-Begriff weit hin­ter die Erkennt­nis­se der Kri­ti­schen Theo­rie zurück­fällt, kann Lin­de­mann ledig­lich »netz­werk­ar­ti­ge Beu­te­ge­mein­schaf­ten« ver­or­ten, die »inter­es­sen­po­li­tisch dia­me­tral zu den Beu­te­ge­mein­schaf­ten der Beschäf­tig­ten ste­hen«11 Sein Resü­mee ist, dass das Racke­tee­ring »die effi­zi­en­te Insti­tu­tio­na­li­sie­rung der räu­be­ri­schen Plün­de­rung und Erpres­sung« sei. Lin­de­manns Gegen­mo­dell ist eine vage »Wider­spens­tig­keit«, die zum Pro­gramm erho­ben wird. »Die Kri­tik der Rackets ist der Schlüs­sel der Über­win­dung ihrer Pra­xis«12, pos­tu­liert. In sei­nem Gegen­ent­wurf kom­men sozia­le Medi­en als stra­te­gi­sche Platt­for­men der herr­schen­den Pra­xis nicht vor. In sei­ner star­ren Begriff­lich­keit ver­harrt Lin­de­mann in den Beton­land­schaf­ten des gewerk­schaft­li­chen Immer­glei­chen. Zwar behaup­tet er, dass Herr­schafts­kri­tik die Nega­ti­on des Bestehen­den sei13, doch all­zu viel Nega­ti­on der aktu­el­len Herr­schaft lässt er nicht zu, denn am Bestehen des herr­schaft­li­chen Kom­ple­xes sei­nes Arbeit­ge­bers möch­te er – trotz aller vor­geb­li­chen Herr­schafts­kri­tik – nicht rüt­teln. Das Dampf­boot muss weiterstampfen.

© Jörg Auberg 2022

Bibliografische Angaben:

Kai Lin­de­mann.
Die Poli­tik der Rackets: 
Zur Pra­xis der herr­schen­den Klassen.
Müns­ter: West­fä­li­sches Dampf­boot, 2021.
155 Sei­ten, 16 Euro.
ISBN: 978–3‑89691–067‑7.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover The Racket
© RKO Radio Pictures
Cover Die Poli­tik der Rackets
© West­fä­li­sches Dampfboot
Cover The Cor­sairs of Saint-Malo
© Colum­bia Uni­ver­si­ty Press
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Nachweise

  1. Racket: The Pro­gramming Lan­guage: https://racket-lang.org/; Social Media App: https://www.whatsthehost.com/what-is-racket-com-ist-like-twitter-meets-clubhouse-meets-medium/; Min­ne­so­ta Media-Start-Up: https://www.niemanlab.org/2021/08/racket-joins-a-rising-tide-of-journalist-owned-media-startups/
  2. Cf. Kathe­ri­ne O’Shea McCar­thy, »Racke­tee­ring. A Con­tri­bu­ti­on to a Biblio­gra­phy«, Jour­nal of Cri­mi­nal Law and Cri­mi­no­lo­gy 22, Nr. 4 (Novem­ber 1931), S. 578–586
  3. Otto Kirch­hei­mer, Poli­tik und Ver­fas­sung (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1964), S. 80
  4. Max Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, hg. Gun­ze­lin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1985), S. 102, 104
  5. Geor­ge Graff, »Geor­ge Orwell and the Class Racket«, Sal­magun­di, Nr. 70–71 (Früh­jahr-Som­mer 1986): 108–120
  6. Kai Lin­de­mann, Die Poli­tik der Rackets: Zur Pra­xis der herr­schen­den Klas­sen (Müns­ter: West­fä­li­sches Dampf­boot, 2021), S. 219
  7. Lin­de­mann, Die Poli­tik der Rackets, S. 21Fn
  8. Hork­hei­mer, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 12, S. 290–291
  9. Cf. Hen­ning Hill­mann, The Cor­sairs of Saint-Malo: Net­work Orga­niza­ti­on of a Mer­chant Eli­te Under the Anci­en Régime (New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2021)
  10. Byron R. Bryant, »Charles Mis­si­on: Liber­ta­ri­an Pira­te«, Ret­ort 4, Nr. 2 (Früh­jahr 1948), S. 13–18; Wil­liam S. Bur­roughs, Cities of the Red Night (Lon­don: Pica­dor, 1982)
  11. Lin­de­mann, Die Poli­tik der Rackets, S. 75
  12. Lin­de­mann, Die Poli­tik der Rackets, S. 132
  13. Lin­de­mann, Die Poli­tik der Rackets, S. 133

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