Herrschaft oder Anarchie
Kai Lindemann durchleuchtet die Praxis der Rackets
von Jörg Auberg
Der Begriff »Racket« hat im gängigen Sprachgebrauch mittlerweile eine Reihe von Bedeutungen. In erster Linie wird er mit dem Tennisschläger in Verbindung gebracht. Darüber hinaus bezeichnet er (unter anderem) eine Programmiersprache, eine Social-Media-Audio-App (»Let’s Make a Racket«) und ein Medien-Start-up in Minnesota.1 Historisch war das »Racket« ein von politischen und ökonomischen Egoismen gesteuertes Machtkartell, das seine kollektiven Interessen gegen das gesellschaftliche Ganze durchsetzte. In den 1930er Jahren war »Racket« ein gängiger Begriff, der das egoistische Bestreben nach dem Erwerb von Positionen und Vermögen mit kriminellen oder legalen Mitteln in einer kapitalistischen Gesellschaft beschrieb.2
Das »Racket« agierte in der politischen und soziologischen Diskussion in den 1930er Jahren an der Schnittstelle zwischen liberaler Demokratie und totalitären Systemen. »›Rackets‹ scheinen zu einem Stadium der Gesellschaft zu gehören«, schrieb der Jurist Otto Kirchheimer, »wo der Erfolg mehr vom Zugang zu Organisationen und zu technischen Mitteln aller Art anhängt als von besonderen Talenten.«3 Für Max Horkheimer bezog sich das »Konzept der Rackets« auf »große und kleine Unternehmen«; zugleich hatte es für ihn auch kulturelle und soziale Komponenten über den Bereich von Politik und Ökonomie hinaus: »Das Racket war auch das Organisationsmuster der Männer gegenüber den Frauen«, schrieb Horkheimer in dem Aufsatz »Zur Soziologie der Klassenverhältnisse« (1943). »Der moderne Begriff trägt dazu bei, gesellschaftliche Beziehungen der Vergangenheit zu beschreiben.«4 In der besonderen geschichtlichen Situation der 1930er und 1940er Jahre, in der über Formen des Totalitarismus in Europa, der Sowjetunion und den USA diskutiert wurde, ging die politische und gesellschaftliche Metapher des Rackets über traditionelle Vorstellungen von Politik und Ökonomie hinaus. Beispielsweise sprach George Orwell vom »Klassen-Racket«, um – wie Horkheimer – die demokratische Komponente als Gegenmodell zu den faschistischen, stalinistischen und populistischen Strukturen der Gegenwart zu betonen.5
In seinem Buch Die Politik der Rackets rekurriert Kai Lindemann, der seit 2016 das Referat »Arbeitswelt und gesellschaftlicher Zusammenhalt« beim DGB-Bundesvorstand leitet, im Wesentlichen auf Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den 1940er Jahren und konzentriert sich auf den politisch-ökonomischen Kontext der Racket-Theorie. »Der Racket-Begriff besitzt […] im Gegensatz zum Elitebegriff einen Bezug zur herrschenden Klasse und den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen«, unterstreicht er. »Rackets verdecken, entschärfen und integrieren den Klassenkonflikt.«6. Die Auseinandersetzungen finden in seinen Augen auf den Territorien der Klassenkonflikte zwischen Arbeit und Kapital statt, während das Racket als gewalttätiges, kriminelles Gruppensubjekt für ihn schlicht »in den Produkten der Kulturindustrie als Krimi, Thriller, Western oder Kriegsfilm« in Erscheinung tritt.7 Die kulturelle Komponente, die Horkheimer in seinem Text »Die Rackets und der Geist« ansprach, interessiert Lindemann weniger. »Jedes Racket ist verschworen gegen den Geist und alle sind es untereinander«, diagnostizierte Horkheimer und sah die Racket-Herrschaft auch auf den Bildungssektor einwirken: »Bisher hat das Racket allen gesellschaftlichen Erscheinungen seinen Stempel aufgeprägt […]«, resümierte Horkheimer und betonte die demokratische Emanzipation von der Dominanz frei fluktuierender Rackets.8
Für Lindemann sind die wesentlichen Merkmale eines Rackets die Beutegemeinschaft, die Komplizenschaft, der Schutz und die Loyalität, die Einzelwesen zur Unterordnung in den Gruppenverband motivieren. Prototyp dieser Organisationsform sei das »Piratenracket«, das seinen Mitgliedern bei überschaubarem Einsatz einen größtmöglichen Anteil an der Beute oder »Prise« verschaffte. Die Rackets der »Piraten« oder »Korsaren« bedienten sich der ökonomischen Ausprägungen des »Networking«, um sich möglichst viele Vorteile zu verschaffen, nutzten das »Racketeering« als Medium der wirtschaftlichen Bereicherung, um danach im »Privateering« als Privatier vom Ertrag der Beute zu zehren.9 Über das ökonomische Modell hinaus war das »Piraten-Racket« auch teilweise ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Herrschafts- und Lebensweise, wie ihn der »libertäre« Pirat Charles Mission darstellte.10
In seiner politisch-ökonomischen Fixiertheit, die in ihrem Racket-Begriff weit hinter die Erkenntnisse der Kritischen Theorie zurückfällt, kann Lindemann lediglich »netzwerkartige Beutegemeinschaften« verorten, die »interessenpolitisch diametral zu den Beutegemeinschaften der Beschäftigten stehen«11 Sein Resümee ist, dass das Racketeering »die effiziente Institutionalisierung der räuberischen Plünderung und Erpressung« sei. Lindemanns Gegenmodell ist eine vage »Widerspenstigkeit«, die zum Programm erhoben wird. »Die Kritik der Rackets ist der Schlüssel der Überwindung ihrer Praxis«12, postuliert. In seinem Gegenentwurf kommen soziale Medien als strategische Plattformen der herrschenden Praxis nicht vor. In seiner starren Begrifflichkeit verharrt Lindemann in den Betonlandschaften des gewerkschaftlichen Immergleichen. Zwar behauptet er, dass Herrschaftskritik die Negation des Bestehenden sei13, doch allzu viel Negation der aktuellen Herrschaft lässt er nicht zu, denn am Bestehen des herrschaftlichen Komplexes seines Arbeitgebers möchte er – trotz aller vorgeblichen Herrschaftskritik – nicht rütteln. Das Dampfboot muss weiterstampfen.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Kai Lindemann.
Die Politik der Rackets:
Zur Praxis der herrschenden Klassen.
Münster: Westfälisches Dampfboot, 2021.
155 Seiten, 16 Euro.
ISBN: 978–3‑89691–067‑7.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover The Racket |
© RKO Radio Pictures |
Cover Die Politik der Rackets |
© Westfälisches Dampfboot |
Cover The Corsairs of Saint-Malo |
© Columbia University Press |
Nachweise
- Racket: The Programming Language: https://racket-lang.org/; Social Media App: https://www.whatsthehost.com/what-is-racket-com-ist-like-twitter-meets-clubhouse-meets-medium/; Minnesota Media-Start-Up: https://www.niemanlab.org/2021/08/racket-joins-a-rising-tide-of-journalist-owned-media-startups/ ↩
- Cf. Katherine O’Shea McCarthy, »Racketeering. A Contribution to a Bibliography«, Journal of Criminal Law and Criminology 22, Nr. 4 (November 1931), S. 578–586 ↩
- Otto Kirchheimer, Politik und Verfassung (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1964), S. 80 ↩
- Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985), S. 102, 104 ↩
- George Graff, »George Orwell and the Class Racket«, Salmagundi, Nr. 70–71 (Frühjahr-Sommer 1986): 108–120 ↩
- Kai Lindemann, Die Politik der Rackets: Zur Praxis der herrschenden Klassen (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2021), S. 219 ↩
- Lindemann, Die Politik der Rackets, S. 21Fn ↩
- Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 290–291 ↩
- Cf. Henning Hillmann, The Corsairs of Saint-Malo: Network Organization of a Merchant Elite Under the Ancien Régime (New York: Columbia University Press, 2021) ↩
- Byron R. Bryant, »Charles Mission: Libertarian Pirate«, Retort 4, Nr. 2 (Frühjahr 1948), S. 13–18; William S. Burroughs, Cities of the Red Night (London: Picador, 1982) ↩
- Lindemann, Die Politik der Rackets, S. 75 ↩
- Lindemann, Die Politik der Rackets, S. 132 ↩
- Lindemann, Die Politik der Rackets, S. 133 ↩