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Der Fall Silone

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Der Fall Silone

Ignazio Silones Rolle im Kampf gegen den Faschismus

 

von Jörg Auberg

Heiliger, Revolutionär, Verräter

In der pul­sie­ren­den Zeit des Kal­ten Krie­ges galt Igna­zio Silo­ne (1900–1978) bei anti­sta­li­nis­ti­schen Lin­ken in der west­li­chen Hemi­sphä­re als »säku­la­rer Hei­li­ger«, als der »gelieb­tes­te Volks­held der ita­lie­ni­schen Lin­ken«, des­sen Ruhm und Wahr­haf­tig­keit sich vor allem aus sei­ner Abkehr vom Kom­mu­nis­mus begrün­de­te, ohne den Sozia­lis­mus ver­ra­ten zu haben.1 In sei­nen Roma­nen, schrieb Jür­gen Rüh­le in sei­nem Stan­dard­werk über die Rol­le von Schriftsteller*innen im Kom­mu­nis­mus des 20. Jahr­hun­derts, »gewann die ita­lie­ni­sche Lin­ke mit ihrem Anti­fa­schis­mus, ihrer Ver­wur­ze­lung im Hei­mat­bo­den, ihrer eigen­wil­li­gen Reli­gio­si­tät und stol­zen Unab­hän­gig­keit exem­pla­ri­sche Gestalt«.2 An die­sem Mythos arbei­te­te Silo­ne selbst, als er – in der Bekennt­nis­an­tho­lo­gie ehe­ma­li­ger Kom­mu­nis­ten The God That Fai­led (1950) – dar­auf insis­tier­te, dass sozia­lis­ti­sche Poli­tik nicht an eine par­ti­ku­la­re Theo­rie, son­dern an den »Glau­ben« gebun­den sei. Je mehr sozia­lis­ti­sche Theo­rien ihren »wis­sen­schaft­li­chen« Cha­rak­ter beton­ten, umso flüch­ti­ger sei­en sie; nur sozia­lis­ti­sche Wer­te sei­en per­ma­nent. Auf Theo­rien kön­ne man eine Schu­le begrün­den, insis­tier­te Silo­ne, doch nur auf Basis von Wer­ten kön­ne eine Kul­tur, eine Zivi­li­sa­ti­on, eine neue Lebens­grund­la­ge zwi­schen Men­schen auf­ge­baut wer­den.3

Irving Howe: Decline of the New (Victor Gollancz, 1971)
Irving Howe: Decli­ne of the New (Vic­tor Gol­lan­cz, 1971)

Für den ehe­ma­li­gen Trotz­kis­ten und Lite­ra­tur­kri­ti­ker Irving Howe, des­sen Lebens­the­ma (und Lebens­trau­ma) das Schei­tern des Sozia­lis­mus war, ver­kör­per­te Silo­ne einen »Hero­is­mus der Ermü­dung« in den »dunk­len Zei­ten« des moder­nen Euro­pas, »im Her­zen unse­rer Kata­stro­phe«, hat­te aber zugleich die »Bega­bung für Eigen­sinn«, die ihn über die Bit­ter­keit und Ver­zweif­lung hin­weg half. Für Howe war Silo­ne »der am wenigs­ten ver­bit­ter­te Ex-Kom­mu­nist, der nach­denk­lichs­te Radi­kal­de­mo­krat« und damit ein Vor­bild gegen die blin­de Devo­ti­on gegen­über über­hol­ten Dog­men, auch wenn sie in links­dra­pier­ten Neu­ver­klei­dun­gen erneut unter das Volk gebracht wer­den soll­ten.4 Auch wenn in den 1950er-Jah­ren, der Deka­de des »gesell­schaft­li­chen Kon­for­mis­mus«, Silo­nes poli­ti­sche Lite­ra­tur nicht mehr als »sen­ti­men­ta­le Nost­al­gie« erschei­nen moch­te, reprä­sen­tier­te für Howe ein Roman wie Fon­ta­ma­ra (1933), obgleich er auf den ers­ten Blick in der Nie­der­la­ge endet, trotz allem revo­lu­tio­nä­re Hoff­nung und einen vita­len Elan, der als Gegen­kraft zum anti­rea­lis­ti­schen Ästhe­ti­zis­mus der begin­nen­den Post­mo­der­ne wirk­te. »Silo­nes Roma­ne«, pos­tu­lier­te Howe, »ent­hal­ten die tief­grün­digs­te Visi­on des­sen, was Hero­is­mus in der moder­nen Welt sein kann«.5

Klaus Wagenbach: Mein Italien, kreuz und quer (Wagenbach, 2024)
Klaus Wagen­bach: Mein Ita­li­en, kreuz und quer (Wagen­bach, 2024)

In den 1960er-Jah­ren nahm die Wert­schät­zung für Silo­nes Pro­sa­werk jedoch merk­lich ab. Sym­pto­ma­tisch ist die Antho­lo­gie des Ita­li­en-Lieb­ha­bers Klaus Wagen­bach (Mein Ita­li­en, kreuz und quer), die erst­mals 2004 erschien und zwan­zig Jah­re spä­ter in einer aktua­li­sier­ten Aus­ga­be neu auf­ge­legt wur­de. Auch wenn in Wagen­bachs Ver­lag Silo­nes Roman Der Fuchs und die Kame­lie (1960) 1998 in einer über­ar­bei­te­ten Über­set­zung erschien, in dem – nach Irving Howe – noch ein­mal der »mensch­li­che Impuls« sich wider­spie­gel­te, der »das Bes­te im euro­päi­schen Sozia­lis­mus« reprä­sen­tie­re6, blieb Silo­ne in einem Quer­schnitt, der »die Geschich­te, die stets gegen­wär­ti­ge, die Klas­sen­kämp­fe, das Trau­ma des Faschis­mus, die andau­ern­de Span­nung zwi­schen Selbst­ent­fal­tung und dem Gefühl der Fremd­be­stimmt­heit«7 reflek­tie­ren soll, außen vor. Der Fokus lag nach Wagen­bachs Inten­ti­on auf der Lite­ra­tur der ita­lie­ni­schen Avant­gar­de der 1960er-Jah­re und danach oder (wie Wagen­bach an ande­rer Stel­le schrieb) gegen die »Lan­ge­wei­le des ordent­lich gezim­mer­ten neo­rea­lis­ti­schen Romans«8. Ver­kör­pert wur­de die­se Rich­tung der »nach­ho­len­den« Moder­ni­sie­rung der ita­lie­ni­schen Lite­ra­tur durch die Grup­pe 63, die in Per­son von Nan­ni Bal­est­ri­ni, Umber­to Eco, Lui­gi Maler­ba, Gior­gio Man­ganel­li und ande­ren Autor*innen der Neo-Avant­gar­de den »Kampf gegen den kru­den und sen­ti­men­ta­len Rea­lis­mus der damals offi­ziö­sen Roman­li­te­ra­tur«9 (wie Wagen­bach das Pro­jekt beschrieb) zu orga­ni­sie­ren such­ten. In sei­nem pro­gram­ma­ti­schen Essay »Die Lite­ra­tur als Lüge« stritt Man­ganel­li den Anspruch der Lite­ra­tur ab, Aus­druck von Mora­li­tät zu sein: »Lite­ra­tur ist unmo­ra­lisch«, pos­tu­lier­te er, sei abtrün­nig von »jedem soli­da­ri­schen Gehor­sam, jeder Ein­wil­li­gung ins eige­ne oder frem­de gute Gewis­sen, jedem mit­mensch­li­chen Gebot«. In ers­ter Linie ent­schlie­ße sich der Schrift­stel­ler, »unnütz zu sein«. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der 1930er-Jah­re, in der der Lite­ra­tur eine sozia­le Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wur­de, cha­rak­te­ri­sier­te Man­ganel­li die Lite­ra­tur als »aso­zi­al«: »Die Lite­ra­tur ist anar­chisch und folg­lich eine Uto­pie: als sol­che löst sie sich unun­ter­bro­chen auf, um neue Form zu gewin­nen. Wie alle Uto­pien ist sie infan­til, auf­rei­zend, ver­wir­rend.«10

Ignazio Silone: Der Fuchs und die Kamelie (Wagenbach, 1998)
Igna­zio Silo­ne: Der Fuchs und die Kame­lie (Wagen­bach, 1998)

Mit dem »Spiel­trieb« der post­mo­der­nen Lite­ra­tur nach 1945 konn­te Silo­ne sich nie anfreun­den. »Die alten Legen­den und Hei­li­gen­ge­schich­ten ste­hen ihm näher als die avan­cier­te zeit­ge­nös­si­sche Lite­ra­tur«11, urteil­te der Lite­ra­tur­kri­ti­ker Lothar Mül­ler anläss­lich des hun­derts­ten Geburts­ta­ges Silo­nes. Ähn­lich urteil­te Alber­to Mora­via: Silo­nes Werk gehö­re zu »einer inzwi­schen über­hol­ten Tra­di­ti­on des ita­lie­ni­schen Natu­ra­lis­mus«.12 Für Howe war Silo­ne nicht nur ein Held (wie Geor­ge Orwell oder Arthur Koest­ler), son­dern ein Meis­ter der mora­li­schen Klar­heit »in Momen­ten von Schwie­rig­kei­ten und Soli­da­ri­tät«, auch wenn (wie in Der Fuchs und die Kame­lie) sich der mora­li­sche Wider­stand gegen die Gezei­ten der Herr­schaft ledig­lich in Trä­nen äußert (»Die Trä­nen wecken kei­nen Toten wie­der auf, aber was soll man sonst tun.«).13 wie sich spä­ter – nach Silo­nes Tod – her­aus­stel­len soll­te, war der »mora­li­sche Wider­stand« durch­aus befleckt, Silo­nes Lite­ra­tur Aus­druck einer (mit Man­ganel­lis Wor­ten) »heroi­schen, mytho­lo­gi­schen Unauf­rich­tig­keit«, bevöl­kert mit Hei­li­gen, Revo­lu­tio­nä­ren und Ver­rä­tern in einer »Welt unge­mil­de­ter Här­te und zäher Resi­gna­ti­on« (Lothar Mül­ler).14

 

Silone vor Silone

Walter Trier: Nazi-German in 22 Lessons (Favoritenpresse, 2022)
Wal­ter Trier: Nazi-Ger­man in 22 Les­sons (Favo­ri­ten­pres­se, 2022)

Am Ende sei­nes Lebens (im Jah­re 1978) sag­te Silo­ne – dem Schwei­zer Essay­is­ten Fran­çois Bon­dy zufol­ge – den kryp­ti­schen Satz: »Wenn der Faschis­mus ein­mal wie­der­kehrt, wird er nicht so dumm sein zu sagen: Ich bin der Faschis­mus. Er wird sagen: Ich bin der Anti­fa­schis­mus.«15 Mitt­ler­wei­le ist die­ser Satz von pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen Leugner*innen der Kli­ma­ka­ta­stro­phe wie dem AFD-nahen »Euro­päi­schen Insti­tut für Kli­ma und Ener­gie« usur­piert wor­den, um öffent­lich­keits­wirk­sam Stim­mung gegen einen vor­geb­li­chen »grü­nen Faschis­mus« zu machen, und auch die AFD selbst funk­tio­niert den Anti­fa­schis­ten Silo­ne für ihre Zwe­cke um.16 Dabei blen­den die »Zom­bie-Faschis­ten«17 (um einen Aus­druck Robert W. McChes­neys zu ver­wen­den) sowohl die Vor­ge­schich­te als auch die sozia­len und his­to­ri­schen Pro­ble­me der mensch­li­chen Ent­wick­lung der Gegen­wart wie der Zukunft aus, um ihr reak­tio­nä­res Süpp­chen im Zeit­al­ter der fort­schrei­ten­den Regres­si­on bekömm­lich und schmack­haft über die »(anti-)sozialen« Medi­en hohn­la­chend zu ver­trei­ben.18

Fabio Stassi: Bebelplatz (Sellerio, 2024)
Fabio Stas­si: Bebel­platz (Sel­le­rio, 2024)

Ent­ge­gen die­sen Geschichts­fäl­schun­gen muss der abschlie­ßen­de Satz aus Silo­nes Faschis­mus-Ana­ly­se Der Fascis­mus aus dem Jah­re 1934 (vor sei­ner Kar­rie­re als Roman­schrift­stel­ler und Sprach­rohr des Anti­kom­mu­nis­mus) in Erin­ne­rung blei­ben: »Die Zukunft gehört dem Sozia­lis­mus. Die Zukunft gehört der Frei­heit.«19 Auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2024 rühm­te Fabio Stas­si, Erfin­der des Detek­tivs und Biblio­the­ra­peu­ten Vin­ce Cor­so (»Ich hei­ße Vin­ce Cor­so. Ich bin fünf­und­vier­zig, Wai­se, und ver­die­ne mei­nen Lebens­un­ter­halt, indem ich Leu­ten Bücher ver­schrei­be.«20), Silo­ne als den »berühm­tes­ten anti­fa­schis­ti­schen Dich­ter der Welt« und emp­fahl die Wie­der­lek­tü­re von Roma­nen wie Fon­ta­ma­ra (1933), der Silo­nes Kar­rie­re als Schrift­stel­ler nach sei­ner poli­ti­schen Abkehr vom Kom­mu­nis­mus ein­läu­te­te. Silo­ne sei, lob­te ihn Dwight Mac­do­nald in einer Rezen­si­on in der trotz­kis­ti­schen Zeit­schrift The New Inter­na­tio­nal im April 1939, »ein Intel­lek­tu­el­ler, ein Mann der Ideen«, der in sei­nen Ana­ly­sen des Faschis­mus und Auto­ri­ta­ris­mus ein hoch ent­wi­ckel­tes moder­nes Bewusst­sein reprä­sen­tier­te, wäh­rend die poli­ti­sche The­ma­tik in sei­ner Bel­le­tris­tik (wie in Fon­ta­ma­ra) »manie­riert« blei­be.21

Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle (Edition Converso, 2024)
Fabio Stas­si: Die See­le aller Zufäl­le (Edi­ti­on Con­ver­so, 2024)

In sei­nem Buch Bebel­platz erin­nert Stas­si an die Bücher­ver­bren­nung von 1933, als Student*innen in 34 Uni­ver­si­täts­städ­ten in Deutsch­land über 25.000 Bücher ver­brann­ten, wie Alber­to Man­guel in sei­nem Vor­wort schreibt: »Bücher wer­den zur Ele­gie ihrer selbst, Biblio­the­ken zu ihren Grä­bern.«22 Mit sei­nem gesell­schafts­the­ra­peu­ti­schen Ansatz der Lite­ra­tur wirkt Stas­si wie ein spä­ter »Sart­rea­ner«, der Lite­ra­tur als anti­fa­schis­ti­sches und demo­kra­ti­sches Pro­jekt, als »Nie­der­fahrt zu den Unter­ir­di­schen«23 (Man­ganel­li) begreift. »Die Kunst der Pro­sa ist mit dem ein­zi­gen Sys­tem soli­da­risch«, schrieb Jean-Paul Sart­re in sei­nem Essay Was ist Lite­ra­tur? (1947), »wo die die Pro­sa einen Sinn behält: mit der Demo­kra­tie. Wenn die eine bedroht ist, ist es auch die ande­re.«24 In sei­nen Detek­tiv­ro­ma­nen ent­wirft Stas­si mit den fik­tio­na­len Emp­feh­lun­gen sei­nes Biblio­the­ra­peu­ten Vin­ce Cor­so eine »kom­ple­xe und gran­dio­se Apo­lo­gie und Apo­theo­se der Lite­ra­tur« (Wal­ter van Ros­sum).25 Als Post­script wählt Stas­si ein Zitat Man­ganel­lis: »Die Lite­ra­tur ist Neu­ro­se, dar­um ist von so ent­schei­den­der Bedeu­tung für die Kul­tur der Moder­ne, eben weil sie ihr Traum ist, ihr Sym­ptom, ihre Krank­heit.«26

Exil als Wendepunkt

Stas­si nimmt Silo­ne vor allem als gro­ßen Autoren mas­ku­li­ner Tra­di­ti­on wahr, als einen Schrift­stel­ler, der eine Kate­go­rie von Män­nern dar­stel­le, für die das Schrei­ben schwie­ri­ger als für ande­re sei, um ihm anschlie­ßend mit Lob­hu­de­lei­en ande­rer gro­ßer Schrift­stel­ler wie Gra­ham Gree­ne, Geor­ge Orwell und Albert Camus den Ehren­kranz zu flech­ten und – mit dem Urteil Wil­liam Faul­k­ners – zu dem sei­ner­zeit »größ­ten leben­den ita­lie­ni­schen Schrift­stel­ler« zu ver­klä­ren, ohne dass Stas­si die exak­te Quel­le die­ses Faul­k­ner-Zitats angibt.27 Wäh­rend vie­le ita­lie­ni­schen Autor*innen wie Alber­to Mora­via, Car­lo Emi­lia Gad­da, Lui­gi Piran­del­lo oder Pier Pao­lo Paso­li­ni sich mit dem faschis­ti­schen Regime in Ita­li­en arran­gier­ten oder der faschis­ti­schen »Bewe­gung« anschlos­sen, ging Silo­ne Ende der 1920-er Jah­re ins Schwei­zer Exil. Auf­grund einer schwe­ren Atem­in­suf­fi­zi­enz ver­brach­te er meh­re­re Mona­te in Sana­to­ri­en in Asco­na und Davos und stand als Exi­lant unter stän­di­ger Beob­ach­tung der Schwei­zer Behör­den, wäh­rend er sich in sei­ner pre­kä­ren Situa­ti­on mit schlecht bezahl­ten Tätig­kei­ten als Schreib­kraft, Ita­lie­nisch­leh­rer, Kor­re­spon­dent und Über­set­zer durch­schlug. Neben sei­ner Lun­gen­krank­heit mach­te ihm auch die Poli­tik der »Sta­li­ni­sie­rung« und sei­ne »Exkom­mu­ni­ka­ti­on« durch die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Ita­li­ens (PCI) im Juli 1931 stark zu schaf­fen.28

Ignazio Silone: Der Fascismus (Verlag Neue Kritik, 1978)
Igna­zio Silo­ne: Der Fascis­mus (Ver­lag Neue Kri­tik, 1978)

Etwas pathe­tisch schreibt sein Bio­graf Sta­nis­lao G. Puglie­se, dass sich Silo­ne im nüch­ter­nen Zürich »die Repu­ta­ti­on eines ein­zel­gän­ge­ri­schen und sor­gen­vol­len Man­nes erwarb, gebro­chen an Gesund­heit und Geist«, wobei jedoch die Exil­er­fah­rung ihm gehol­fen habe, sich neu zu erfin­den und aus einem Mit­glied der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei in das zu ver­wan­deln, was Anto­nio Gramsci in ihm stets gese­hen hat­te: in ers­ter Linie einen Schrift­stel­ler.29 Mit dem Roman Fon­ta­ma­ra über die Poli­ti­sie­rung einer Grup­pe von Bau­ern in einem fik­ti­ven Dorf in den Abruz­zen schuf er den Grund­stein sei­ner lite­ra­ri­schen Kar­rie­re, die ihren vor­läu­fi­gen Höhe­punkt in dem Roman Brot und Wein drei Jah­re spä­ter gewin­nen soll­te. Ein­ge­bet­tet zwi­schen die­sen bei­den Exil­ro­ma­nen war die Ana­ly­se des ita­lie­ni­schen Faschis­mus mit dem Titel Der Fascis­mus, die zwi­schen den Jah­ren 1931 und 1934 ent­stand und von Puglie­se als »bru­tal kar­ges Werk« cha­rak­te­ri­siert wird.30 Das Buch erschien 1934 auf Deutsch im Euro­pa-Ver­lag, womit der enga­gier­te Ver­le­ger Emil Oprecht das Schwei­zer Bür­ger­tum vom tota­li­tä­ren Wesen des ita­lie­ni­schen Regimes zu über­zeu­gen ver­such­te. »Die auf­wän­di­ge Halb­le­der­aus­ga­be gab der Zuver­sicht von Autor und Ver­le­ger Aus­druck«, schreibt Chris­toph Ema­nu­el Dejung in sei­ner Oprecht-Bio­gra­fie, »gebil­de­te Krei­se auf­zu­rüt­teln: Zu Recht waren bei­de über­zeugt, mit ihrer wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Arbeit den wah­ren Cha­rak­ter des von kon­ser­va­ti­ven und katho­li­schen Krei­sen ver­harm­los­ten Macht­sys­tems Mus­so­li­nis auf­zu­de­cken.«31

Im Prozess des Zerfalls

Den Auf­stieg des ita­lie­ni­schen Faschis­mus lei­te­te Silo­ne aus dem miss­lun­ge­nen Auf­bau eines ita­lie­ni­schen Staa­tes und dem Ver­fall der bür­ger­li­chen Gesell­schaft. In Anleh­nung an Gramsci beschrieb er den Faschis­mus als Bewe­gung einer bewaff­ne­ten Reak­ti­on, die aus der struk­tu­rel­len Schwä­che Ita­li­ens im Zuge der Ereig­nis­se wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges und der Ver­wer­fun­gen danach her­vor­ging. Das Schei­tern des revo­lu­tio­nä­ren Pro­le­ta­ri­ats führ­te Gramsci auf poli­ti­sche, orga­ni­sa­to­ri­sche, tak­ti­sche und stra­te­gi­sche Män­gel der Arbei­ter­par­tei zurück. Der Sieg des Faschis­mus 1922 müs­se, führ­te Gramsci 1926 aus, »nicht als Sieg gese­hen wer­den, der über die Revo­lu­ti­on errun­gen wur­de, son­dern als eine Kon­se­quenz der Nie­der­la­ge, wel­che die revo­lu­tio­nä­ren Kräf­te auf­grund ihrer inne­ren Schwä­che erlit­ten«.32

Immer wie­der insis­tier­te Silo­ne, dass der Faschis­mus weder »vom Him­mel gefal­len« noch ein Ver­häng­nis, son­dern »ein Pro­dukt der Klas­sen­be­zie­hun­gen« sei.33 Ähn­lich wie in den Ana­ly­sen der »Frank­fur­ter Schu­le« ist der Begriff »Staats­ka­pi­ta­lis­mus« eine zen­tra­le Kate­go­rie in der Beschrei­bung des tota­li­tä­ren Sys­tems (Fried­rich Pol­lock bezeich­ne­te bei­spiels­wei­se die­se Form der Öko­no­mie als »eine töd­li­che Dro­hung für alle Wer­te der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on«34 »Der faschis­ti­sche Staats­ka­pi­ta­lis­mus hat auf die Mobi­li­sa­ti­on der wirt­schaft­li­chen Hilfs­quel­len hin­ge­ar­bei­tet, um das Regime zu hal­ten (ein Pro­blem, das die macht­ha­ben­de Klas­se beschäf­tigt und ver­folgt). Durch ihn hat das Regime eine Atem­pau­se gewon­nen, er hat in gewis­sem Maße den Pro­zeß des Zer­falls der ita­lie­ni­schen Wirt­schaft und die Panik der Bour­geoi­sie vor den immer wach­sen­den Schwie­rig­kei­ten auf die­sem Gebiet hin­aus­ge­scho­ben.«35

Für Puglie­se ist Silo­nes Faschis­mus-Ana­ly­se das letz­te Über­bleib­sel aus sei­ner »Par­tei­m­en­ta­li­tät«, in Anwen­dung einer strik­ten mar­xis­ti­schen Metho­do­lo­gie und in einem pole­mi­schen Ton.36 Dabei ver­kennt er jedoch Silo­nes ana­ly­ti­sche Leis­tung in der »Ent­lar­vung« des faschis­ti­schen Sys­tems, das vor­geb­lich eine »neue Welt« schaf­fen woll­te, dabei jedoch ledig­lich die Rui­nen des bür­ger­li­chen Sys­tems neu ord­ne­te, wäh­rend die Arbei­ter­be­we­gung im Wider­stand gegen das tota­li­tä­re Sys­tem weit­ge­hend ver­sag­te. »Die poli­ti­sche Unrei­fe der Arbei­ter­be­we­gung«, urteil­te Silo­ne scharf, »hat in der Nach­kriegs­zeit das Klein­bür­ger­tum auf den Kapi­ta­lis­mus gesto­ßen und dem Sieg des Fascis­mus gehol­fen.«37

Daniel Guérin: Sur le fascisme (Découverte, 2001)
Dani­el Gué­rin: Sur le fascis­me (La Décou­ver­te, 2001)

Der poli­ti­sche Gebrauchs­wert von Silo­nes Ana­ly­se war in der aku­ten Lage der tota­li­tä­ren Bedro­hung offen­sicht­li­cher als in spä­te­ren Jah­ren der poli­ti­schen »Ent­span­nung«. Vor allem Dani­el Guérins Mark­stein in der anti­fa­schis­ti­schen Dis­kus­si­on der 1930er-Jah­re – Fascis­me et grand capi­tal (1936) – griff in der Dis­kus­si­on des ita­lie­ni­schen Faschis­mus immer wie­der auf Silo­nes Werk zurück, etwa in der Beschrei­bung der faschis­ti­schen Agrar­po­li­tik, die ent­ge­gen der Ankün­di­gun­gen Mus­so­li­nis und sei­ner Satra­pen den Kapi­ta­lis­mus in den agra­ri­schen Regio­nen Ita­li­ens zuguns­ten der Groß­grund­be­sit­zer rekon­sti­tu­ier­te.38 Guérins Ana­ly­se gehör­te neben Silo­nes poli­ti­scher Sati­re Die Schu­le der Dit­akt­oren (1938) zu den Stan­dard­tex­ten der Dis­kus­si­on um Staats­ka­pi­ta­lis­mus und büro­kra­ti­schen Kol­lek­ti­vis­mus im Faschis­mus und Sta­li­nis­mus in den frü­hen 1940er-Jah­ren.39 Silo­nes enga­gier­ter Ver­le­ger Oprecht sah sich vor allem durch das sechs­te Kapi­tel, in dem Silo­ne die faschis­ti­sche »Erobe­rung des fla­chen Lan­des« beschrieb, in sei­ner Hoff­nung auf eine anti­fa­schis­ti­sche Zukunft bestärkt. »Silo­ne gelingt es«, schreibt der Oprecht-Bio­graf Dejung, »das Gesche­hen der Macht­er­grei­fung als his­to­ri­sches Ereig­nis detail­ge­treu und mit ein­drück­li­cher Sach­lich­keit zu schil­dern, ohne ideo­lo­gi­sche Kli­schees zu bemü­hen.«40.

Amerika in den Abruzzen

Selb­st vier­zig Jah­re spä­ter wird Silo­nes Ana­ly­se noch eine authen­ti­sche Serio­si­tät zuge­stan­den. Im Nach­wort zum Reprint von Silo­nes Faschis­mus-Ana­ly­se aus dem Jah­re 1978 im Ver­lag Neue Kri­tik emp­fahl der Her­aus­ge­ber, der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Chris­ti­an Rie­chers (1936–1993), neben der Lek­tü­re von Silo­nes Werk auch des­sen Roman Fon­ta­ma­ra zur Kennt­nis zu neh­men, in dem sich der »Wider­stand der armen Bau­ern gegen den ›moder­nen‹ Kapi­ta­lis­mus« arti­ku­lier­te, der »unter dem Faschis­mus sei­nen Ein­zug in Gebie­te hält, die bis data von gemüt­lich-bes­tia­lisch patri­ar­cha­li­schen Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­sen bestimm­ten waren«.41 In der fik­ti­ven Roman­welt Fon­ta­ma­ras herrscht eine extre­me Hier­ar­chie: An der Spit­ze ste­hen Gott und der Fürst Tor­lo­n­ia, und bis nach unten ist es ein lan­ger Weg. Nach den Hun­den der Auf­se­her des Fürs­ten kommt nichts, »immer noch nichts«, »immer noch nichts« , bis schließ­lich am Ende die »Cafo­ni«, mit­tel­lo­se Klein­bau­ern, erschei­nen, wäh­rend in den Zwi­schen­stu­fen »die Behör­den« ange­sie­delt sind, die vor den »Cafo­ni« war­nen: »Laßt sie nicht her­ein. Nach­her haben wir das gan­ze Rat­haus vol­ler Läu­se.«42

Ignazio Silone: Fontamara (Büchergilde Gutenberg, 1963)
Igna­zio Silo­ne: Fon­ta­ma­ra (Bücher­gil­de Guten­berg, 1963)

Die Gegen­kraft zu den mit­tel­lo­sen Bau­ern ist »der Unter­neh­mer«, der in den Abruz­zen mit Tech­ni­ken des Groß­ka­pi­tals und der faschis­ti­schen Büro­kra­tie­agen­tu­ren »Ame­ri­ka« für sich und sei­ne Inter­es­sen ent­de­cken kann. »Die Cafo­ni müs­sen über den Oze­an«, sagt eine Stim­me im Roman, »um nach Ame­ri­ka zu gelan­gen … aber die­ser Räu­ber hat es wirk­lich hier ent­deckt.«43 In der Ima­gi­na­ti­on war »Ame­ri­ka« – mit den Wor­ten Italo Cal­vi­nos – wie ein mythi­sches Gegen­bild, eine »Uto­pie, eine gesell­schaft­li­che Alle­go­rie, die mit dem in Wirk­lich­keit exis­tie­ren­den Gebil­de glei­chen Namens kaum etwas gemein­sam hat«. Für die eine wie die ande­re Sei­te war »Ame­ri­ka« der »Inbe­griff für alle Mög­lich­kei­ten und Wirk­lich­kei­ten der zeit­ge­nös­si­schen Welt«, eine »ver­wor­re­ne Syn­the­se alles des­sen, das der Faschis­mus negie­ren und aus­schal­ten woll­te«.44

Dazu gehört auch die »Demo­kra­tie« in Fon­ta­ma­ra, die durch Mani­pu­la­ti­on und Kor­rup­ti­on auf­recht­erhal­ten wird. Als vie­le »Cafo­ni« gegen den amtie­ren­den Bür­ger­meis­ter stim­men, da er all­zu offen die Unter­neh­mer unter­stützt, wird die domi­nie­ren­de Posi­ti­on der herr­schen­den Funk­tio­nä­re durch die Stim­men von »Leben­dig-Toten« in einer demo­kra­ti­schen Far­ce gesi­chert. Am Ende erhe­ben und orga­ni­sie­ren sich die »Cafo­ni«: »Nach soviel Lei­den und soviel Kämp­fen, nach soviel Unge­rech­tig­kei­ten, soviel Trä­nen und soviel Ver­zweif­lung, was tun?«45 Wie Eliza­beth Lea­ke schreibt, ist Fon­ta­ma­ra die Fik­tio­na­li­sie­rung des Gramscia­ni­schen Pro­jekts der »orga­ni­sa­to­ri­schen Funk­ti­on der Hege­mo­nie über die Gesell­schaft«, in dem sich eine Grup­pe der »Nie­de­ren« aus der Sta­sis mobi­li­sie­ren, um grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen in der Poli­tik ihrer Gedan­ken und Aktio­nen her­bei­zu­füh­ren.46

Furcht und Elend im Faschismus

Silo­nes Repu­ta­ti­on als Anti­fa­schist wur­de stark beschä­digt, als im Jah­re 2000 zwei jün­ge­re His­to­ri­ker – Dario Bioc­ca and Mau­ro Cana­li – anhand von Doku­men­ten im Archiv der ita­lie­ni­schen Geheim­po­li­zei OVRA (Orga­niz­za­zio­ne di Vigi­lan­za e Repres­sio­ne dell’Antifascismo) den anti­fa­schis­ti­schen Autoren als mut­maß­li­chen Poli­zei­in­for­man­ten in den Jah­ren zwi­schen 1919 und 1931 ent­tarn­ten.47 Die Beweis­la­ge war jedoch kei­nes­wegs ein­deu­tig, da Infor­man­ten stets von ihren Auf­trag­ge­bern unter Deck­na­men geführt wer­den und Silo­ne sei­ne vor­geb­li­chen Berich­te kei­nes­wegs unter sei­nem Klar­na­men an die faschis­ti­sche Dienst­stel­le über­mit­tel­te. Für den Silo­ne-Ver­tei­di­ger Fabio Stas­si ist die Lage ein­deu­tig: In sei­nen Augen ist der Ver­such, Silo­ne als faschis­ti­schen Spi­on zu gei­ßeln, nicht allein fak­tisch unbe­grün­det, son­dern auch ein nie­der­träch­ti­ges Unter­fan­gen, einen auf­rech­ten Mann, der Zeit sei­nes Lebens wegen sei­nes Non­kon­for­mis­mus ver­folgt wur­de, auch post­hum zu beschä­di­gen.48

Aller­dings ist die Sach­la­ge nicht so ein­fach, wie Stas­si sie dar­stellt. His­to­ri­ker wie John Foot oder der renom­mier­te Über­set­zer Wil­liam Wea­ver sehen den Ver­dacht, Silo­ne habe als Infor­mant für die ita­lie­ni­sche Geheim­po­li­zei aus unter­schied­li­chen Moti­ven gear­bei­tet, als durch­aus begrün­det an.49 Dage­gen hin­ter­fragt Silo­nes Bio­graf Puglie­se die Glaub­wür­dig­keit der Beschul­di­gun­gen: War­um soll­te das faschis­ti­sche Regime mit Infor­ma­tio­nen über sei­nen Infor­man­ten Silo­ne, als er zu einem pro­mi­nen­ten Akteur in den anti­fa­schis­ti­schen Bewe­gun­gen in Euro­pa und in den USA auf­stieg, hin­ter dem Berg hal­ten?50

Foto von: LIBRERIA ANTIQUARIA PONTREMOLI SRL via Cesare Balbo 4, Milano, MI, 20136, Italy
Igna­zio Silo­ne: Brot und Wein (Bücher­gil­de Guten­berg, 1936)

Zugleich the­ma­ti­sier­te Silo­ne in sei­nen anti­fa­schis­ti­schen Roma­nen auch immer die Exis­tenz von Spit­zeln, die Furcht vor der Ent­de­ckung, dem Ver­fal­len der Schan­de des Ver­rats. In Brot und Wein (1936) kehrt bei­spiels­wei­se der Sozia­list Pie­tro Spi­na aus sei­nem Exil unter dem Deck­man­tel eines Pries­ters in die Abruz­zen zurück, um dort revo­lu­tio­nä­re Zel­len zu orga­ni­sie­ren. Die Klan­des­t­in­i­tät ist der Humus, auf dem der Ver­rat gedeiht. »Das Leben einer gehei­men Orga­ni­sa­ti­on in einem der Dik­ta­tur unter­stel­len Land«, heißt es an einer Stel­le im Roman, »ist fort­wäh­rend beherrscht von einem blin­den Kampf gegen die Poli­zei­spit­zel.«51 Zu den Spit­zeln gehört der mit­tel­lo­se Stu­dent Lui­gi Murica, der wegen sei­ner Mit­glied­schaft in einer revo­lu­tio­nä­ren Grup­pe ver­haf­tet wird und sich als Spit­zel ver­dingt. Anfangs lie­fert er ledig­lich schein­bar unbe­denk­li­che Infor­ma­ti­on, ver­strickt sich jedoch immer tie­fer in die Infor­man­ten­tä­tig­keit, bis er von der Furcht vor Ent­de­ckung und der zer­mür­ben­den Reue über sei­nen Ver­rat zer­rie­ben wird und nach einer neu­er­li­chen Ver­haf­tung an den Miss­hand­lun­gen im Gefäng­nis stirbt. Wäh­rend die Dik­ta­tur den Pro­zess der Ent­mensch­li­chung und das Elend der Angst per­p­etu­iert, bleibt die Eman­zi­pa­ti­on von Angst auch das Ziel des Spit­zels. »Die Revo­lu­ti­on ist ein Bedürf­nis«, erklärt Murica, »nicht mehr allein zu sein, einer gegen den ande­ren. Sie ist ein Ver­such, gemein­sam zu leben und nicht mehr Angst zu haben. Ein Bedürf­nis nach Brü­der­lich­keit.«52

Für vie­le Kri­ti­ker Silo­nes, die von sei­ner »Schan­de«, Infor­mant der ita­lie­ni­schen Geheim­po­li­zei zu sein, über­zeugt waren oder sind, offen­bar­te der vor­geb­li­che heroi­sche Kämp­fer gegen den Faschis­mus sei­ne Spit­zel­exis­tenz in der Figur von Murica.53 Zugleich könn­te sich der rea­le Autor in der gebro­che­nen Figur des Pie­tro Spi­na reflek­tie­ren, der in der Tar­nung die Herr­schaft über die eige­ne rea­le Exis­tenz ver­liert. »Die Angst, irr­sin­nig zu wer­den, bemäch­tigt sich sei­ner«, schreibt Silo­ne in Brot und Wein. »Er muß sich sei­nen Namen, sei­nen rich­ti­gen, wie­der­ho­len, muss alles ver­ste­cken, was zu sei­ner Ver­klei­dung als Pries­ter gehört, muß sein Knie, sei­ne Schul­tern, sein Gesicht betas­ten, sich in die eige­ne Hand bei­ßen, muß in sei­ner kör­per­li­chen Rea­li­tät einen Punkt des äußers­ten Wider­stan­des gegen sei­ne geis­ti­ge Ver­wir­rung suchen.«54 Dass Silo­ne unter einer Per­sön­lich­keits­stö­rung in den frü­hen 1930er-Jah­ren litt, behaup­ten Bioc­ca und Cana­li ihrer Stu­die und geben als Fak­tum an, Silo­ne habe sich in der Schweiz einer Psy­cho­ana­ly­se bei C. G. Jung unter­zo­gen, obwohl es dafür kei­nen kon­kre­ten Beweis gibt.55

Die Ver­ur­tei­lung Silo­nes basiert nicht auf Bewei­sen, son­dern ledig­lich auf Indi­zi­en. Ähn­lich wie zuletzt bei Sieg­fried Unsel­ds Ent­tar­nung als NSDAP-Mit­glied wird »das Archiv« (das von staat­li­chen Büro­kra­tien betrie­ben und auf­recht erhal­ten wird) zum allei­ni­gen Bewah­rer der his­to­ri­schen Wahr­heit. Im Fal­le von Silo­ne ist die Quel­le der Ermitt­lung das Über­bleib­sel von geheim­po­li­zei­li­chen Akti­vi­tä­ten, die in ein Archiv über­führt wur­den, ohne den Pro­zess der Ent­ste­hung ein­zu­be­zie­hen. Wie Puglia­re (mit einem Hin­weis auf Jac­ques Der­ri­das Schrift Dem Archiv ver­schrie­ben aus dem Jah­re 1995) in sei­ner Ver­tei­di­gung Silo­nes aus­führ­te, ist das Archiv ein Ort, wo Erin­ne­rung, Geschich­te, Fik­ti­on, Tech­no­lo­gie, Macht und Auto­ri­tät inein­an­der wir­ken.56 »Die Archi­vie­rung bringt das Ereig­nis in glei­chem Maße her­vor, wie sie es auf­zeich­net«, schrieb Der­ri­da. »Das ist auch une­re poli­ti­sche Erfah­rung mit den soge­nann­ten Infor­ma­ti­ons­me­di­en.«57 So ist das »Archiv« kei­nes­wegs der Hort einer unum­stöß­li­chen Wahr­heit, son­dern eine »inter­es­sen­ge­steu­er­te« Rekon­struk­ti­on der Vergangenheit.

© Jörg Auberg 2025
Für Über­set­zun­gen aus dem Ita­lie­ni­schen wur­de die Soft­ware Fle­xiPDF NX/DeepL verwendet.

Bibliografische Angaben:

Fabio Stas­si.
Bebel­platz: La not­te dei libri bruciati.
Mit einem Vor­wort von Alber­to Manguel.
Paler­mo: Sel­le­rio Edi­to­re, 2024.
312 Sei­ten, 16 Euro.
ISBN: 978–8‑838947–21‑6.

Fabio Stas­si.
Die See­le aller Zufälle.
Aus dem Ita­lie­ni­schen von Annet­te Kopetzki.
Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2024.
288 Sei­ten, 24 Euro.
ISBN: 978–3‑949558–30‑6.

Klaus Wagen­bach.
Mein Ita­li­en, kreuz und quer.
Aktua­li­sier­te und erwei­ter­te Aus­ga­be letz­ter Hand.
Ber­lin: Wagen­bach, 2024. WAT [827].
400 Sei­ten. 18 Euro.
ISBN: 978–3‑8031–2827‑0.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Bei­trags­bild (Silo­ne-Col­la­ge)
© Jörg Auberg
Cover Decli­ne of the New © Vic­tor Gollancz
Cover Mein Ita­li­en, kreuz und quer © Ver­lag Klaus Wagenbach
Cover Der Fuchs und die Kamelie © Ver­lag Klaus Wagenbach
Cover Nazi-Ger­man in 22 Lessons © Favo­ri­ten­pres­se
Video Fabio Stas­si auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2024 (Aus­schnitt)
© Edi­ti­on Converso
Cover Bebel­platz
© Sel­le­rio Editore
Cover Die See­le aller Zufälle
© Edi­ti­on Converso
Cover Der Fascis­mus
© Ver­lag Neue Kritik
Cover Sur le fascisme
© La Découverte
Cover Fon­ta­ma­ra
© Bücher­gil­de Gutenberg
Cover Brot und Wein © Bücher­gil­de Gutenberg

Nachweise

  1. Eliza­beth Lea­ke, The Reinven­ti­on of Igna­zio Silo­ne (Toron­to: Uni­ver­si­ty of Toron­to Press, 2003), S. 3–4
  2. Jür­gen Rüh­le, Lite­ra­tur und Revo­lu­ti­on: Die Schrift­stel­ler und der Kom­mu­nis­mus in der Epo­che Lenins und Sta­lins (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1987), S. 402
  3. Igna­zio Silo­ne, in: The God That Fai­led, hg. Richard Cross­man (1950; erw. New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2001), S. 114
  4. Irving Howe, Poli­tics and the Novel (1957; rpt. Chi­ca­go: Ivan R. Dee, 2002), S. 226; Irving Howe, Decli­ne of the New (Lon­don: Vic­tor Gol­lan­cz, 1971), S. 280; Mau­rice Isser­mann, If I Had a Ham­mer …: The Death of the Old Left and the Birth of the New Left (New York: Basic Books, 1987), S. 80
  5. Howe, Poli­tics and the Novel, S. 219, 223, 226; Howe, »Mass Socie­ty and Post­mo­dern Fic­tion«, Par­ti­san Review, 26, Nr. 3 (Som­mer 1959):420–436, rpt. in: Decli­ne of the New, S. 190–207
  6. Howe, Decli­ne of the New, S. 292
  7. Klaus Wagen­bach, Nach­wort zu: Mein Ita­li­en, kreuz und quer (Ber­lin: Wagen­bach, 2024), S. 370
  8. Buch­stäb­lich Wagen­bach – 50 Jah­re: Der unab­hän­gi­ge Ver­lag für wil­de Leser (Ber­lin: Wagen­bach, 2014), S. 26
  9. Klaus Wagen­bach, Nach­wort zu: Gior­gio Man­ganel­li, Lügen­buch (Ber­lin: Wagen­bach, 2000), S. 152
  10. Man­ganel­li, Lügen­buch, S. 135–137
  11. Lothar Mül­ler, »Das Schla­gen der Peda­le des Web­stuhls – Christ ohne Kir­che, Sozia­list ohne Par­tei: Zum hun­derts­ten Geburts­tag von Igna­zio Silo­ne«, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, 29. April 2000, Lite­ra­tur­bei­la­ge, S. iv
  12. Alber­to Mora­via und Alain Elkann, Vita di Mora­via: Ein Leben im Gespräch, übers. Ulrich Hart­mann (Frei­burg: Beck & Glück­ler, 1991), S. 360
  13. Howe, Decli­ne of the New, S. 292–293; Igna­zio Silo­ne, Der Fuchs und die Kame­lie, übers. Han­na Dehio, rev. Mari­an­ne Schnei­der (Ber­lin: Wagen­bach, 1998), S. 140
  14. Man­ganel­li, Lügen­buch, S. 142; Mül­ler, »Das Schla­gen der Peda­le des Web­stuhls«, S. iv
  15. Silo­ne, zit. in: Rüh­le, Lite­ra­tur und Revo­lu­ti­on, S. 404
  16. Fred F. Frey, »Der grü­ne Faschis­mus hin­ter dem ›Weltrettungs‹-Getue«, https://eike-klima-energie.eu/2022/12/09/der-gruene-faschismus-hinter-dem-weltrettungs-getue/; sie­he auch https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4isches_Institut_f%C3%BCr_Klima_und_Energie; Chris­ti­an R. Schmidt, »Silo­nes War­nung«, jungle.world, Nr. 5 (2020), https://jungle.world/artikel/2020/05/silones-warnung; Mari­am Lau, »Die AfD regiert indi­rekt längst mit«, Die Zeit, 30. Juni 2024, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024–06/afd-parteitag-essen-parteivorsitz-demonstrationen/komplettansicht
  17. Robert W. McChes­ney, Vor­wort zu: John Bel­la­my Fos­ter, Trump in the White House: Tra­ge­dy and Far­ce (New York: Month­ly Review Press, 2017), S. 8
  18. Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 268; Siva Vaid­hya­nathan, Anti-Social Media: How Face­book Dis­con­nects Us and Under­mi­nes Demo­cra­cy (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 2018); Andrew Marantz, Anti­so­cial: How Online Extre­mist Bro­ke Ame­ri­ca (Lon­don: Pica­dor, 2020)
  19. Igna­zio Silo­ne, Der Fascis­mus (Zürich: Euro­pa-Ver­lag, 1934; rpt. Frankfurt/Main: Ver­lag Neue Kri­tik, 1978), S. 285
  20. Fabio Stas­si, Die See­le der Zufäl­le, übers. Annet­te Kopetz­ki (Karls­ru­he: Edi­ti­on Con­ver­so, 2024), S. 9
  21. Dwight Mac­do­nald, »School for Dic­ta­tors«, The New Inter­na­tio­nal, 5, Nr. 4 (April 1939), S. 126–127
  22. Alber­to Man­guel, Vor­wort zu: Fabio Stas­si, Bebel­platz: La not­te dei libri bru­cia­ti (Paler­mo: Sel­le­rio Edi­to­re, 2024, ePub-Ver­si­on), S. 9
  23. Gior­gio Man­ganel­li, Man­ganel­li furio­so: Hand­buch für unnüt­ze Lei­den­schaf­ten, übers. Mari­an­ne Schnei­der (Ber­lin: Wagen­bach, 1985), S. 127
  24. Jean Paul Sart­re, Was ist Lite­ra­tur?, Schrif­ten zur Lite­ra­tur, Bd. 2, hg. und übers. Trau­gott König (Rein­bek: Rowohlt, 1987), S. 54; ori­gi­nal: Sart­re, Situa­tions III, erw. Neu­aus­ga­be, hg. Arlet­te Elkaïm-Sart­re (Paris: Gal­li­mard, 2013), S. 64
  25. Wal­ter van Ros­sum, Sich ver­schrei­ben: Jean-Paul Sart­re, 1939–1953 (Frankfurt/Main: Fischer, 1990), S. 170; sie­he auch Lothar Bai­er, Was wird Lite­ra­tur? (Mün­chen: Kunst­mann, 2001), S. 54
  26. Stas­si, Die See­le der Zufäl­le, S. 271
  27. Stas­si, Bebel­platz, S. 122
  28. Detail­lier­te Infor­ma­tio­nen zu Silo­nes Erfah­run­gen im Schwei­zer Exil fin­den sich in: Debo­rah Hol­mes, Igna­zio Silo­ne in Exi­le: Wri­ting and Anti­fa­scism in Switz­er­land, 1929–44 (New York: Rout­ledge, 2016, ePub-Ver­si­on); und Sta­nis­lao G. Puglie­se, Bit­ter Spring: A Life of Igna­zio Silo­ne (New York: Farr­ar, Straus and Giroux, 2009, ePub-Ver­si­on), S. 110–160. Zur Attrak­ti­on des Faschis­mus für Autoren wie Paso­li­ni cf. Simo­na Bon­da­vel­li, Fic­tions of Youth: Pier Pao­lo Paso­li­ni, Ado­le­s­cence, Fascisms (Toron­to: Uni­ver­si­ty of Toron­to Press, 2015)
  29. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 114; Lea­ke, The Reinven­ti­on of Igna­zio Silo­ne, S. 3–4
  30. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 126
  31. Chris­toph Ema­nu­el Dejung, Emil Oprecht: Ver­le­ger der Exil­au­to­ren (Mün­chen: Euro­pa Ver­lag, 2023, ePub-Ver­si­on), S. 133
  32. Anto­nio Gramsci, »The Ita­li­an Situa­ti­on and the Tasks of the PCdI« (Lyon-The­sen), in: The Anto­nio Gramsci Rea­der: Sel­ec­ted Wri­tin­gs 1916–1935, hg. David For­gacs (Lon­don: Law­rence and Wis­hart, 1999), S. 147
  33. Silo­ne, Der Fascis­mus, S. 273
  34. Fried­rich Pol­lock, Sta­di­en des Kapi­ta­lis­mus, hg. Hel­mut Dubiel (Mün­chen: C. H. Beck, 1975), S. 72
  35. Silo­ne, Der Fascis­mus, S. 209
  36. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 126
  37. Silo­ne, Der Fascis­mus, S. 285
  38. Dani­el Gué­rin, Sur le fascis­me: La peste bru­ne – Fascis­me et grand capi­tal (Paris: La Décou­ver­te, 2001), S. 408–409
  39. Cf. Micha­el Wres­zin, A Rebel in Defen­se of Tra­di­ti­on: The Life and Poli­tics of Dwight Mac­do­nald (New York: Basic Books, 1994), S. 72–73; Jörg Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le: Eine poli­tisch-kul­tu­rel­le Geschich­te von Auf­stieg und Nie­der­gang, 1930–2020 (Bie­le­feld: tran­script, 2022), S. 135–139
  40. Dejung, Emil Oprecht: Ver­le­ger der Exil­au­to­ren, S. 133
  41. Chris­ti­an Rie­chers, Die Nie­der­la­ge in der Nie­der­la­ge: Tex­te zu Arbei­ter­be­we­gung, Klas­sen­kampf, Faschis­mus, hg. Felix Klo­po­tek (Müns­ter: Unrast Ver­lag, 2009), S. 295
  42. Igna­zio Silo­ne, Fon­ta­ma­ra, übers. Han­na Dehio (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1963), S. 32, 40
  43. Silo­ne, Fon­ta­ma­ra, S. 53
  44. Italo Cal­vi­no, Vor­wort zu: Cesa­re Pave­se, Schrif­ten zur Lite­ra­tur, übers. Erna und Erwin Kop­pen (Ham­burg: Cla­as­sen, 1967), S. 9–10
  45. Silo­ne, Fon­ta­ma­ra, S. 215
  46. Anto­nio Gramsci, Mar­xis­mus und Kul­tur: Ideo­lo­gie, All­tag, Lite­ra­tur, hg. und übers. Sabi­ne Kebir (Ham­burg: VSA-Ver­lag, 1983), S. 62; Lea­ke, The Reinven­ti­on of Igna­zio Silo­ne, S. 92
  47. Dario Bioc­ca und Mau­ro Cana­li, L’informatore: Silo­ne, i comu­nis­ti e la Poli­zia (Mai­land: Luni Editri­ce, 2000); zum Hin­ter­grund sie­he Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 279–308
  48. Stas­si, Bebel­platz, S. 122
  49. John Foot, Blood and Power: The Rise and Fall of Ita­li­an Fascism (Lon­don: Bloomsbu­ry, 2022, ePub-Ver­si­on), S. 194–196; Wil­liam Wea­ver, »The Mys­tery of Igna­zio Silo­ne«, New York Review of Books, 49, Nr. 4 (14. März 2002), https://www.nybooks.com/articles/2002/03/14/the-mystery-of-ignazio-silone/
  50. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 290
  51. Igna­zio Silo­ne, Brot und Wein, übers. Adolf Saa­ger (Zürich: Bücher­gil­de Guten­berg, 1936), S. 280
  52. Silo­ne, Brot und Wein, S. 307
  53. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 287
  54. Silo­ne, Brot und Wein, S. 95
  55. Hol­mes, Igna­zio Silo­ne in Exi­le, S. 38
  56. Puglie­se, Bit­ter Spring, S. 281–282
  57. Jac­ques Der­ri­da, Dem Archiv ver­schrie­ben, übers. Hans D. Gon­dek und Hans Nau­mann (Ber­lin: Brink­mann und Bose, 1997), S. 35

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