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Aus den Archiven: Der Algorithmus der Sucht

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AchiveSiva Vaid­hya­nathan über­prüft in sei­nem Buch »The Goo­gliza­ti­on of Ever­y­thing« Anspruch und Wirk­lich­keit der »Goog­le-Kul­tur« und weist auf Gefah­ren der »Wis­sens­pri­va­ti­sie­rung« hin.

 

 von Jörg Auberg

 

 

 

In den Jah­ren vor dem Zwei­ten Welt­krieg ent­warf H. G. Wells, der Autor von Sci­ence-Fic­tion-Roma­nen wie Die Zeit­ma­schi­ne (1895) oder Der Krieg der Wel­ten (1898), die Uto­pie einer »per­ma­nen­ten Wel­t­en­zy­klo­pä­die«, in der das Wis­sen, die Ideen und Leis­tun­gen der Mensch­heit erfasst, kata­lo­gi­siert und für alle Men­schen auf der Welt zugäng­lich wäre. Die Tech­no­lo­gie des Mikro­films kön­ne genutzt wer­den, hoff­te Wells 1937, um das Wis­sen zu repro­du­zie­ren und in der Welt zu ver­tei­len. Auf die­se Wei­se soll­ten ein gemein­sa­mes Ver­ständ­nis und die Vor­stel­lung eines gemein­sa­men Ziels und All­ge­mein­wohls auf glo­ba­ler Ebe­ne ent­wi­ckelt wer­den, um den aktu­el­len Kon­flik­ten ein Ende zu berei­ten. Jahr­zehn­te spä­ter griff der Sci­ence-Fic­tion-Autor Arthur C. Clar­ke, der die Vor­la­ge für Stan­ley Kubricks Film 2001: Odys­see im Welt­raum (1968) lie­fer­te, die­se Idee noch ein­mal auf und ima­gi­nier­te einen Super­com­pu­ter, der – mit künst­li­cher Intel­li­genz aus­ge­stat­tet – als »Welt­hirn« die Men­schen befä­hig­te, statt in Kon­flikt gegen­ein­an­der in Koope­ra­ti­on mit­ein­an­der auf dem Pla­ne­ten zu leben. 

Die­ses Ver­trau­en in die Ratio­na­li­tät einer wert­frei­en Tech­no­lo­gie bestimmt auch den welt­weit ope­rie­ren­den Kon­zern Goog­le, der die uto­pi­sche Ima­gi­na­ti­on eines »Welt­hirns« mit den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten der Gegen­wart in die Rea­li­tät trans­fe­rier­te. Wäh­rend Wells und Clar­ke die Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie für eine gesell­schafts­ver­än­dern­de Pra­xis ein­set­zen woll­ten, stand für die Goog­le-Grün­der Ser­gej Brin und Lar­ry Page die prag­ma­ti­sche Geschäfts­idee im Vor­der­grund. Im Jah­re 1999 stell­te das World Wide Web ein unüber­sicht­li­ches Infor­ma­ti­ons­ter­rain dar, in dem Unmen­gen von Daten ver­bor­gen lagen, die aber kaum effi­zi­ent aus­ge­schöpft wer­den konn­ten. Metho­den des Inde­xie­rens und Web-Craw­lings erwie­sen sich ange­sichts der wach­sen­den Mas­sen von Daten und der zuneh­mend kom­mer­zi­el­len Nut­zung des Inter­nets als inef­fek­tiv. In die­se Lücke spran­gen die Stan­ford-Stu­den­ten Brin und Page mit ihrem Page­Rank-Algo­rith­mus, der die ver­link­ten Doku­men­te auf­grund ihrer »Link­po­pu­la­ri­tät« bewer­tet und gewich­tet. Je öfter ein Doku­ment in den Web­struk­tu­ren ver­linkt wird, umso höher steigt es in der Gewich­tung. Inhal­te spie­len bei die­ser Tech­no­lo­gie kei­ne Rol­le – wohl aber kom­mer­zi­el­le Inter­es­sen, die das Surf­ver­hal­ten von Inter­net-Anwen­dern steuern. 

Googlization of EverythingIm Gegen­satz zu ande­ren welt­um­span­nen­den Unter­neh­men des Sili­con Val­ley (wie Apple oder Micro­soft) stellt sich Goog­le nicht als pro­fit­ori­en­tier­ter Kon­zern dar, son­dern nimmt für sich – in still­schwei­gen­der Anleh­nung an Wells’ »Welt­hirn« — altru­is­ti­sche Moti­ve für sich in Anspruch. Der aka­de­mi­schen Welt ent­sprun­gen, scheint Goog­le wie ein öffent­lich-recht­li­cher Dienst­leis­ter zu agie­ren, der nicht allein die Suche im kaum durch­schau­ba­ren Inter­net orga­ni­siert, son­dern auch elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on, Bild­ver­ar­bei­tung, Über­set­zung und vie­le ande­re kos­ten­lo­se Diens­te sei­nen Kun­den anbie­tet, als wäre Goog­le ein rie­si­ger pla­ne­ta­ri­scher Cam­pus. Hin­ter der Aura des Guten aber lau­ert die Daten­kra­ke, die jede Regung kata­lo­gi­siert und an der nächs­ten Stra­ßen­ecke ver­hö­kert. Wie bei Wil­liam Bur­roughs oder Her­bert Hun­cke wird der Goog­le-Kun­de zum Jun­kie, zum Pro­dukt des Sys­tems, das sich auf Addi­ti­on und Sub­trak­ti­on redu­ziert und Ver­än­de­rung nur als Stei­ge­rung oder Absin­ken der Pro­fi­tra­te wahr­nimmt. Stand am Anfang von Goog­le tat­säch­lich das Bedürf­nis, Ord­nung in das digi­ta­le Cha­os zu brin­gen, sind die Urhe­ber des kom­mer­zi­ell-genia­li­schen Algo­rith­mus selbst zu »Kon­troll­süch­ti­gen« (Bur­roughs) gewor­den, denen die pri­va­te Sphä­re der ande­ren nichts bedeu­tet. Für sie ist die­ser Bereich – pro­gram­mier­tech­nisch gese­hen – ledig­lich eine n‑fach zu beset­zen­de Leerstelle. 

Die Gefah­ren, die ein pri­va­ter Kon­zern, der sich als öffent­lich-recht­li­cher Dienst­leis­ter mas­kiert, benennt der an der Uni­ver­si­tät von Vir­gi­nia leh­ren­de Medi­en­wis­sen­schaft­ler Siva Vaid­hya­nathan in sei­nem Buch The Goo­gliza­ti­on of Ever­y­thing (And Why We Should Worry). Nach sei­ner Mei­nung stieß Goog­le in die Lücke, als nie­mand fähig oder wil­lens war, das Inter­net »sta­bil, nutz­bar und ver­trau­ens­wür­dig« zu machen. Aller­dings ist Vaid­hya­nathan nicht mit der domi­nan­ten Rol­le Goo­gles auf dem Inter­net-Markt ein­ver­stan­den. Vor allem die Digi­ta­li­sie­rung des Wis­sens unter der Ägi­de eines pri­vat­ka­pi­ta­lis­ti­schen Unter­neh­mens berei­tet ihm Sor­ge. In sei­nen Augen könn­te schließ­lich der Tech­no-Fun­da­men­ta­lis­mus, der in der per­ma­nen­ten Anwen­dung fort­ge­schrit­te­ner Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien die Lösung nahe­zu aller mensch­li­cher Pro­ble­me sehe, tri­um­phie­ren, der letzt­lich eine demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit aus­schal­te. Die gro­ße Bedro­hung bestehe dar­in, argu­men­tiert Vaid­hya­nathan, dass der Zugriff auf das mensch­li­che Wis­sen in Zukunft von einem Unter­neh­men gesteu­ert wird, das sich zum Welt­herr­scher – unter der Mas­ke des Altru­is­mus – auf­schwin­gen möchte.

Die Gefahr ist real, doch ist Vaid­hya­nat­hans Gegen­ent­wurf eines glo­ba­len Pro­jekts zur Bewah­rung und Dis­se­mi­na­ti­on des mensch­li­chen Wis­sens (das im Grun­de ein öffent­lich-recht­li­ches Goog­le beschwört, ohne die tech­no­lo­gi­sche Herr­schaft infra­ge zu stel­len) wenig über­zeu­gend, zumal er die Uni­ver­si­tät als Ver­tre­te­rin einer nicht-kom­mer­zi­el­len Ver­nunft und Sach­wal­te­rin des mensch­li­chen Wis­sens prä­sen­tie­ren möch­te, obgleich sie in der rea­len Welt auch nichts ande­res als ein Kapi­tal­un­ter­neh­men ist. Letzt­lich bleibt sein Pro­jekt einer »vita­len glo­ba­len Öffent­lich­keit« auf hal­bem Wege ste­cken: Weder ana­ly­siert er den öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Kon­text, in den sich die »Erfolgs­ge­schich­te« des Goog­le-Kon­zerns ein­bet­tet, noch ist er zu einer kri­ti­schen Distanz zum kom­mer­zi­ell-aka­de­mi­schen Betrieb fähig, der letzt­lich den Djinn Goog­le aus der Fla­sche ließ. Obwohl Vaid­hya­nathan durch­aus wich­ti­ge Fra­gen bezüg­lich des Umgangs mit dem Inter­net stellt, der von Unter­neh­men wie Goog­le maß­geb­lich beein­flusst wird, bleibt sein »Human Know­ledge Pro­ject« vage und abs­trakt. Es ist nicht mehr als ein wohl­fei­les Kon­strukt nach dem Design Potem­kin­scher Dör­fer, das auf aka­de­mi­schen Kon­fe­ren­zen und Kon­gres­sen sein Publi­kum fin­den wird, jedoch nie­mals den Herr­schafts­ap­pa­rat Goog­le her­aus­for­dern wird.

 

Bibliografische Angaben:

Siva Vaid­hya­nathan: The Goo­gliza­ti­on of Ever­y­thing (And Why We Should Worry). Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press, 2011. 266 Sei­ten, 26.95 Dollar. 

 

Zuerst erschie­nen in:  satt.org  (Sep­tem­ber 2011)

© Jörg Auberg

 

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