Texte und Zeichen

Alberto Manguel: Packing My Library

A

Monumente des Scheiterns

 

Alberto Manguel beschwört die stetige Arbeit der Humanität in der Bewahrung der Materialität der Bücher im Zeitalter der Digitalisierung

 

Von Jörg Auberg

 

Packing my Library
Pack­ing my Library

Im Jah­re 2015 sah sich Alber­to Man­guel, Autor der preis­ge­krön­ten Geschich­te des Lesens (1996), nach fünf­zehn Jah­ren gezwun­gen, sei­ne Biblio­thek in einem alten stei­ner­nen Pfarr­haus in einem klei­nen süd­fran­zö­si­schen Dorf auf­zu­ge­ben. Die Grün­de für den »Abriss« blei­ben im Dun­keln, doch für das Ver­schwin­den der Biblio­thek spie­len sie eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Nahe­zu vier­zig­tau­send Bücher muss­te Man­guel in Kis­ten ver­stau­en und nach Kana­da ver­schi­cken, ehe er sich mit sei­nem Lebens­part­ner Craig Ste­phen­son in New York nie­der­ließ. »Ich dach­te, sobald die Bücher ihren Platz gefun­den hat­ten«, schreibt Man­guel in sei­nem Buch Pack­ing My Libra­ry (das auf deutsch unter dem Titel Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek erschien), »wür­de ich auch den mei­nen fin­den. Doch es soll­te anders kom­men.«1

 

Unterwegs

Jorge Luis Borges 1963
Jor­ge Luis Bor­ges 1963

Manguel, 1948 als Sohn eines argen­ti­ni­schen Diplo­ma­ten in Bue­nos Aires gebo­ren, ist ein lesen­der und biblio­phi­ler Kos­mo­po­lit, der im Lau­fe sei­nes Lebens vie­le Sta­tio­nen auf meh­re­ren Kon­ti­nen­ten durch­lief: Tel Aviv, Bue­nos Aires, Cal­ga­ry, Toron­to, Paris, Lon­don, Mai­land, Tahi­ti und eben Mon­di­on in Süd­frank­reich. In den Jah­ren zwi­schen 1964 und 1968 las er dem erblin­de­ten Schrift­stel­ler Jor­ge Luis Bor­ges vor, und 2016 trat er in die Stap­fen des Meis­ters, als er die Stel­le des Direk­tors der argen­ti­ni­schen Natio­nal­bi­blio­thek über­nahm, die er jedoch zwei Jah­re spä­ter wie­der aufgab.

Da Man­guel Zeit sei­nes Lebens auf Rei­sen war, hat­ten sei­ne Biblio­the­ken nie­mals etwas Defi­ni­ti­ves oder End­gül­ti­ges. Stän­dig befan­den sie sich im Auf­bau und im Abbau. Obgleich er durch die ver­schie­de­nen Kon­ti­nen­te streif­te, redu­zier­te sich sein Besitz nicht auf weni­ge Din­ge, die er in einem Kof­fer ver­stau­en und in einem Hotel­zim­mer unter­brin­gen konn­te (ein kul­tu­rel­ler Noma­de mit spär­li­chen Hab­se­lig­kei­ten war er nicht). Eine Biblio­thek in der einen oder ande­ren Form besaß er immer.

In sei­nem Buch, das im US-ame­ri­ka­ni­schen Ori­gi­nal in Titel Pack­ing My Libra­ry an einen berühm­ten Vor­trag Wal­ter Ben­ja­mins aus dem Jah­re 1931 erin­nert, reflek­tiert er die Dia­lek­tik von Aus­pa­cken und Ein­pa­cken, Erin­ne­rung und Aus­lö­schung oder Verdrängung. 

[pullquote]Der Ver­lust hilft der Erin­ne­rung auf die Sprün­ge. Der Ver­lust der eige­nen Biblio­thek erin­nert sich dar­an, wer du wirk­lich bist.2[/pullquote]

 

Stetige Arbeit

 

Alberto Manguel: Packing my Library (Yale University Press, 2018)
Alber­to Man­guel: Pack­ing my Libra­ry (Yale Uni­ver­si­ty Press, 2018)

Für Man­guel sind Biblio­the­ken – nicht nur im Fall der legen­dä­ren Biblio­thek von Alex­an­dria, die im Jah­re 48 vor Chris­tus zer­stört wur­de – »groß­ar­ti­ge Monu­men­te des Schei­terns«, die nie­mals den Stand einer Voll­endung errei­chen kön­nen: Immer wie­der lau­fen sie Gefahr, nie­der­ge­ris­sen und ver­nich­tet zu wer­den (wobei die Ver­nich­tung der Bücher die Aus­lö­schung »gezeich­ne­ter« Indi­vi­du­en vor­weg­nimmt, wie Leo Löwen­thal in einem Essay über den Zusam­men­hang von Buch- und Men­schen­ver­nich­tung schrieb3. Den­noch bleibt die Ver­tei­di­gung des Buches und der Biblio­thek eine »ste­ti­ge Arbeit« der Huma­ni­tät und der Frei­heit. »Es war euch nicht ver­gönnt, die Arbeit zu erle­di­gen«, sag­te ein Rab­bi vor neun­zehn­hun­dert Jah­ren, »und den­noch dürft ihr sie nicht auf­ge­ben.«4

In sei­ner Ele­gie rekur­riert Man­guel auf The­men, die er schon in sei­nem Buch The Libra­ry at Night (2006) erör­ter­te – etwa die unter­schied­li­chen Ord­nungs­prin­zi­pi­en einer pri­va­ten und einer öffent­li­chen Biblio­thek. In sei­nem Vor­trag hat­te Wal­ter Ben­ja­min bereits die »lei­se Lan­ge­wei­le der Ord­nung«5 mil­de kri­ti­siert. Sowohl in Pack­ing My Libra­ry als auch in The Libra­ry at Night rekur­riert Man­guel auf die Prin­zi­pi­en Aby War­burgs, der sei­ne Biblio­thek nach dem »Gesetz guter Nach­bar­schaft« orga­ni­sier­te, wobei Bekann­tes neben Unbe­kann­tem stand, ohne dass das Ord­nungs­prin­zip für Außen­ste­hen­de ein­sich­tig war.6

 

Bücher & Unsterblichkeit

»Bücher sind die bes­ten Besitz­stän­de im Leben, sie sind unse­re Unsterb­lich­keit«7, zitiert Man­guel War­lam Scha­la­mow. Für die digi­ta­len For­men der Bücher hat er nicht viel übrig. Auf einen moder­nen E‑Book-Rea­der mit einer 32GB-Spei­cher­kar­te pas­sen mehr als drei­ßig­tau­send Bücher; er lie­ße sich in die Jacken­ta­sche ste­cken, so dass man mit einer gan­zen Biblio­thek unter­wegs sein könn­te. Doch damit kann und will sich Man­guel nicht anfreun­den. »Ich brau­che die Mate­ria­li­tät der Wör­ter, die stoff­li­che Prä­senz der Bücher, ihre Form, Grö­ße und Tex­tur«8, insis­tiert er. 

 

Alberto Manguel: Die verborgene Bibliothek (S. Fischer, 2018)
Alber­to Man­guel: Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek (S. Fischer, 2018)

Schon 2006 war er gegen­über den Mög­lich­kei­ten und Ver­spre­chen der digi­ta­len Netz­kul­tur skep­tisch. Für ihn geht die Digi­ta­li­sie­rung der Tex­te mit nicht kom­pen­sier­ba­ren Ver­lus­ten ein­her. Als die Libra­ry of Con­gress Zei­tun­gen des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts auf Micro­fi­che spei­cher­te und die Ori­gi­na­le aus Platz­grün­den ver­nich­te­te, han­del­te sie sich feh­ler­haf­te Repro­duk­tio­nen mit Schmutz, Krat­zern und abge­schnit­te­nen Texträn­dern ein, ohne den Ver­lust unge­sche­hen machen zu kön­nen. Für Man­guel haben die Werk­zeu­ge der elek­tro­ni­schen Medi­en im Gegen­satz zu Büchern kei­nen unsterb­li­chen Wert. »Das Aus­pa­cken von Büchern ist eine ent­hül­len­de Tätig­keit«9, unter­streicht er in der Tra­di­ti­on Wal­ter Ben­ja­mins. Die Sinn­lich­keit auch muf­fig rie­chen­der Bücher lässt sich nicht durch die schein­bar end­lo­se Wei­te des elek­tro­ni­schen Raums aus­glei­chen. Für das »Gehäu­se, des­sen Bau­stei­ne Bücher sind«10 (wie Wal­ter Ben­ja­min schrieb), gibt es kei­nen Ersatz.

 

Biblio­gra­fi­sche Angaben:

Alber­to Manguel.
Pack­ing My Library.
An Elegy and Ten Digressions.
New Haven und Lon­don: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2018.
160 Sei­ten, 23,00 US-Dollar.
ISBN: 9780300219333.

Alber­to Manguel.
Die ver­bor­ge­ne Bibliothek.
Eine Ele­gie und zehn Abschweifungen.
Über­setzt von Achim Stanislawski.
Frankfurt/Main: S. Fischer, 2018.
192 Sei­ten, 18,00 Euro.
ISBN: 9783103973693.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Pack­ing My Library
© Yale Uni­ver­si­ty Press
Cover Die ver­bor­ge­ne Bibliothek
© S. Fischer Verlag
Foto von Jor­ge Luis Borges
Wiki­me­dia
Foto und Gra­fik Biblio­thek und digi­ta­le Gegenwart
© Jörg Auberg

© Jörg Auberg 2018

 
 
 
 
 
 

Nachweise

  1. Alber­to Man­guel, Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek: Eine Ele­gie und zehn Abschwei­fun­gen, übers. Achim Sta­nis­law­ski (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2018), S. 9
  2. Man­guel, Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek, S. 67
  3. Leo Löwen­thal, »Calib­ans Erbe«, in: Schrif­ten, Band 4, hg. Hel­mut Dubiel (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1990), S. 136
  4. Todd Git­lin, The Six­ties: Years of Hope, Days of Rage (New York: Ban­tam, 1987), S. 424
  5. Wal­ter Ben­ja­min, »Ich packe mei­ne Biblio­thek aus«, in: Ben­ja­min, Schrif­ten, Band IV:1, hg. Till­man Rex­roth (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 388
  6. Man­guel, Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek, S. 119
  7. Man­guel, The Libra­ry at Night (Toron­to: Vin­ta­ge Cana­da, 2007), S. 216
  8. Man­guel, Die ver­bor­ge­ne Biblio­thek, S. 22
  9. Man­guel, The Libra­ry at Night, S. 14
  10. Ben­ja­min, »Ich packe mei­ne Biblio­thek aus«, S. 396

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