Die unvollendete Stadt
Zwei Bücher von Christoph Lindner und Angelika Möller beschäftigen sich mit der Entwicklung New Yorks im 19. und 20. Jahrhundert
Von Jörg Auberg
Als Leo Trotzki im Januar 1917 für kurze Zeit mit seiner Familie in einem billigen Apartment in der New Yorker Bronx: Zum ersten Mal verfügte der zukünftige Revolutionsführer, schrieb Isaac Deutscher, über den ungewohnten Luxus eines Telefons in der Wohnung.1 In den Augen Trotzkis war New York keineswegs ein Moloch, sondern der Inbegriff der Moderne. »Ich bin in New York, in der märchenhaft prosaischen Stadt des kapitalistischen Automatismus, wo in den Straßen die ästhetische Theorie des Kubismus und in den Herzen die sittliche Philosophie des Dollars herrscht«, schrieb er später in seiner Autobiografie. »New York imponiert mir, als der vollkommenste Ausdruck des Geistes der Gegenwartsepoche.«2
Obwohl New York seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer internationalen Großstadt aufstieg und Paris als kulturelles Zentrum der Moderne spätestens nach der Niederlage Frankreichs 1940 ablöste, war es in den 1930er Jahren doch nicht allein eine vitale, von politischen und kulturellen Debatten und Streitigkeiten erfüllte Metropole, wie sich der Literaturkritiker Irving Howe erinnerte. Es war auch »brutal, hässlich, beängstigend, ein übel riechender Dschungel«, den Louis-Ferdinand Céline in seinem Roman Reise ans Ende der Nacht (1932) beschwor.3 New Yorks Erscheinung wurde nicht nur von einer imponierenden Skyline von »Wolkenkratzern« bestimmt, sondern auch von einem Provinzialismus, der sowohl aus dem alten Europa als auch den ländlichen Regionen der USA in die Stadt eingewandert war. Diese Dialektik von Altem und Neuem dokumentierte Berenice Abbott in ihrem legendären Fotoprojekt Changing New York (1939), in der sie sowohl das pulsierende Leben Manhattans, die kathedralenartigen Hochhäuser und die kleinen kleinen Läden der Immigranten in der Zeit der Depression festhielt.
In seinem Buch Imagining New York City orientiert sich der niederländische Kulturwissenschaftler Christoph Lindner entlang der horizontalen und vertikalen Linien der Stadt, der Skyline und den »sidewalks«, wie sie sich in den Jahren zwischen 1890 und 1940 herausbildeten, um eine Darstellung der Metropole in Literatur, Kunst, Film und Urbanismus zu präsentieren. Lindners Perspektiven beschränken sich auf die bloßen Oberflächen des urbanen Raums und blenden Erfahrungen der zweiten Generation von Immigranten (wie sie Irving Howe, Alfred Kazin oder Henry Roth in ihren Erinnerungen und Romanen beschrieben) aus. Stattdessen rekurriert Lindner auf das Bild New Yorks als »unvollendeter Stadt« (das der Stadthistoriker Thomas Bender in seinem Buch New York Intellect prägte4) und sprengt den eigenen vorgegebenen zeitlichen und räumlichen Rahmen, indem er in einer akademischen Text-Bricolage Zitate von Walter Benjamin, Roland Barthes, Jean Baudrillard, Guy Debord, Michel Foucault, Georg Simmel, Jane Jacobs, Lewis Mumford und Slavoj Žižek zu einem Hotchpotch verrührt, wobei selbstverständlich auch kein »Requiem für die Twin Towers« fehlen darf.
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»Die Stichhaltigkeit einer Konzeption läßt sich danach beurteilen, ob sie die Zitate herbeizitiert«5, schrieb Theodor W. Adorno in kritischen Handreichungen für Schriftsteller. Die Konzeption von Lindners Buch beschränkt sich auf ein geometrisches Gerüst des urbanen Raums, das er mit Zitaten und Reproduktionen der New Yorker Kulturgeschichte verhängt, die mehr und mehr zu einer Staffage von Beliebigkeiten und Belanglosigkeiten verkommen. Da sich Lindner keine Disziplin bei der Konstruktion und beim Schreiben auferlegt, schleppt er viel von dem mit sich, was Adorno »Abfall und Bodenramsch« in der schriftstellerischen Produktion nannte. So benutzt Lindner immer wieder Phrasen wie »To adopt a phrase developed by Dasgupta«, »Jean Baudrillard explores similar ideas« oder »to use Michel Foucault’s phrase«.6 Solche Textspuren können sich – um noch einmal Adornos Kritik zu bemühen – »als Kruste der Arbeit« festsetzen, doch gehört es zur Aufgabe des Autors, Kritik nicht allein gegenüber anderen zu üben, sondern auch gegenüber sich selbst. »Nie darf man kleinlich sein beim Streichen«7, riet Adorno.
Leider macht Lindner mit seiner akademischen Schreibweise, in der das Aneinanderreihen von Zitaten mehr zählt als das stringente Entwickeln von Ideen und Gedanken, die guten Ansätze seines Buches zunichte. So lenkt er beispielsweise den Blick auf die Wahrnehmung New Yorks aus afroamerikanischer Perspektive in den Werken James Weldon Johnsons oder zerrt in einem Akt der kulturhistorischen Archäologie den im Jahre 1901 produzierten Film What happened on 23rd Street ans Tageslicht, der eine New Yorker Straßenszene dokumentierte.8 Beim Flanieren durch New York spaziert eine Dame über einen Luftschacht, und ein Luftstoß aus der Tiefe wirbelt ihren Rock nach oben. Diese Szene wurde später in dem Billy-Wilder-Film The Seven Year Itch (1955) geradezu identisch verwendet und trug dazu bei, ein ikonisches Marilyn-Monroe-Bild in der Populärkultur zu entwickeln. An diesem Beispiel illustriert Lindner in seinen aufklärerischen Momenten am Zusammenspiel von Kulturindustrie, Konsum und erotischem Spektakel den urbanen Raum als Bühne der sexuell durchdrängten Zurschaustellung, Selbstbehauptung und Ausbeutung, wie sie auch in Romanen wie Sister Carrie (1900) von Theodore Dreiser oder Maggie (1893) von Stephen Crane zum Ausdruck kamen. Hätte Lindner in diesem forschenden und durchdringenden Stil sein New Yorker Projekt bewältigt, hätte er einen originären Beitrag zur New-York-Literatur leisten können. So aber verliert sich das Unternehmen, dem er großspurig die Aura einer »kritischen Tradition des Außenseiters«9 anheftet, in der Beliebigkeit.
Die Vorgeschichte der Metropole New York beschreibt dagegen Angelika Möller in ihrem gut lesbaren und sorgfältig recherchierten Buch Das andere New York, das auf einen weitgefächerten Bestand aus Literatur, Primärquellen und Archivmaterialien zurückgreift und die urbane Genese in der Zeit zwischen 1790 und 1860 analysiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war New York – heißt es in der Einleitung – »weit davon entfernt, eine Weltstadt zu sein, holte aber stetig auf und wurde zur ersten Stadt auf dem Territorium der USA, die die Bezeichnung Metropole verdiente«10. Aufgrund des Platzmangels verlief New Yorks räumliche Ausbreitung zunächst horizontal in der Gestalt von Parks und Friedhöfen, Erholungs- und Zerstreuungszentren, ehe der städtische Raum sich in vertikale Gefilde erhob.
Die Stadtplanung erfolgte auf der Basis eines rechtwinkeligen Gitternetzes (des sogenannten »Grids«), das sich in erster Linie an ökonomischen und zweckmäßigen Erfordernissen orientierte, während Elemente einer demokratischen Kultur (wie etwa öffentliche Versammlungsorte) keinerlei Rolle spielten. Auch öffentliche Parks wie der Central Park, die heute als Inbegriff einer demokratischen Parkkultur gelten, basierten in ihrer Entstehungszeit »auf oligarchischen Machtverhältnissen, die sich rhetorisch in ein demokratisches Gewand kleideten«11. Im sich ständig verändernden Raum verwandelten sich Armenfriedhöfe, die ursprünglich als Orte des Friedens angelegt wurden, in Areale der Massenkultur und der kommerziellen Spektakel. In der Zeit vor dem Bürgerkrieg war New York ein Kampfplatz ökonomischer, politischer und sozialer Machtgruppen, die um jeden Quadratmeter im noch vagen urbanen Terrain kämpften. »Das unbestimmte Territorium New York Citys in der Antebellum Era war ein umkämpfter und kontroverser Ort«, resümiert Möller. »In diesem Zwischenraum verbanden sich Pragmatismus und Idealismus miteinander.«12 Erst später durchdrang der US-amerikanische Kapitalismus jede Zelle des Grids, mit dem die Grundstruktur der Herrschaft gelegt wurde.
Bibliografische Angaben:
Christoph Lindner. Imagining New York City: Literature, Urbanism, and the Visual Arts, 1890–1940. New York Oxford University Press, 2015. 264 Seiten, $ 99.
Angelika Möller. Das andere New York: Friedhöfe, Freiräume und Vergnügungen, 1790–1860. Bielefeld: Transcript Verlag, 2015. 268 Seiten, € 29,99.
© Text: Jörg Auberg 2016
Fotos: New York Public Library (1)/Archiv des Autors (8)
- Isaac Deutscher, The Prophet: The Life of Leon Trotsky (London: Verso, 2015), S.251 ↑
- Leo Trotzki, Mein Leben: Versuch einer Autobiographie, übers. Alexandra Ramm (Berlin: S. Fischer, 1930), S. 258 ↑
- Irving Howe, »New York in the Thirties« (1961), rpt. in The New York Intellectuals Reader, hg. Neil Jumonville (New York und London: Routledge, 2007), S. 27 ↑
- Thomas Bender, New York Intellect: A History of Intellectual Life in New York City (New York: Knopf, 1987), Kindle-Ausgabe ↑
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 108 ↑
- Christoph Lindner, Imagining New York City: Literature, Urbanism, and the Visual Arts, 1890–1940 (New York Oxford University Press, 2015), S. 160, 130, 148 ↑
- Adorno, Minima Moralia, S. 105 ↑
- Der Film ist über YouTube abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=wna2a7Mk1i8 ↑
- Lindner, Imagining New York City, S. 4 ↑
- Angelika Möller, Das andere New York: Friedhöfe, Freiräume und Vergnügungen, 1790–1860 (Bielefeld: Transcript Verlag, 2015), S. 10 ↑
- Möller, Das andere New York, S. 117 ↑
- Möller, Das andere New York, S. 230 ↑