Untergrundlinge und Loftmenschen
Anmerkungen zu Alan Walds Kritik der New Yorker Intellektuellen
Von Jörg Auberg
Nach einem langen Winter der Agonie läutete im Frühjahr 2003 für die Partisan Review, »einst die wichtigste intellektuelle Zeitschrift in den Vereinigten Staaten«1 (wie es in einem Nachruf hieß), die Totenglocke. Obwohl sie über drei Jahrzehnte bereits im Koma gelegen hatte, kam die Nachricht von ihrem Ableben doch überraschend: Ausgerechnet in ihrem siebzigsten Jahrgang machte man ihr den Garaus, nagelte den Sarg zu und ließ sie im Orkus verschwinden. Zuletzt dümpelte das einstige Flaggschiff der amerikanischen Intellektuellen bei einer Auflage von 3200 Exemplaren vor sich hin, und der Tod des letzten Herausgebers eröffnete dem aktuellen Besitzer der Zeitschrift die Gelegenheit, des Verlustobjektes sich zu entledigen. »Die allgemeine Haltung war, dass die Partisan Review ein Reliquienschrein war«2, gab er zu Protokoll und begrub die Zeitschrift, mit der die Gruppe der »New Yorker Intellektuellen« seit den dreißiger Jahren dazu beigetragen hatte, die US-amerikanische Kultur zu entprovinzialisieren und das Publikum in den USA dem Modernismus entgegenzuführen. Mit dem unwiderruflichen Ende der Partisan Review wurde eine Ära entsorgt, die unrettbar mit dem »alten Europa« verbunden war und deren Residuen in der »neuen amerikanischen Politik« des frühen 21. Jahrhunderts gänzlich fehl am Platz waren.
Spuren der Verwüstung
Die Geschichte der New Yorker Intellektuellen ist in vieler Hinsicht typisch für die Entwicklung linker Intellektueller im 20. Jahrhundert. Ihren Anfang nahm sie in der Großen Depression, als sich links orientierte Schriftsteller, Poeten, Essayisten, Kritiker und Journalisten um die Partisan Review scharten. Vorwiegend aus jüdischen Immigrantenfamilien stammend, hatten viele von ihnen zunächst mit der Kommunistischen Partei sympathisiert, schlugen aber im Zuge der Moskauer Prozesse einen von Leo Trotzki beeinflussten antistalinistischen Kurs ein und begriffen sich als Vorkämpfer einer revolutionären künstlerischen Moderne, deren Repräsentanten sowohl in den autoritären als auch in den demokratisch verfassten Staaten verfemt und attackiert wurden.
Im Laufe der Jahre begannen jedoch die marxistischen Überzeugungen bei den meisten Angehörigen dieses Zirkels zu schwinden: Nach dem zweiten Weltkrieg engagierten sie sich als geläuterte Liberale und wiedergeborene Amerikaner im antikommunistischen Kampf gegen den stalinistischen Totalitarismus und für die kulturelle Freiheit. Schließlich war es ihnen gelungen, aus der Peripherie ins Zentrum der amerikanischen Gesellschaft vorzudringen und die intellektuelle Debatte bis Ende der fünfziger Jahre zu bestimmen: Die »Untergrundlinge«3 aus Brooklyn oder der Bronx verwandelten sich in »Loftmenschen« in der Upper West Side. Wer etwas auf sich hielt, hatte die Partisan Review abonniert und stellte das Inventarstück für jeden Besucher leicht erkennbar im Apartment aus, wie ein magisches Objekt, von dem eine illuminierende, prestigiöse Strahlung auf den Abonnenten überging. Nun waren die einstigen Bohemiens respektabel geworden und gehörten zum Establishment. Für nachgeborene Intellektuelle der Linken hatten sie die Ideale ihrer Jugend verraten und sich ans System verkauft. Der bekennende Trotzkist Alan Wald, der für seine voluminöse Studie der New Yorker Intellektuellen mit dem programmatischen Titel The New York Intellectuals fast fünfzehn Jahre lang in Bibliotheken und Archiven recherchierte und auf ausgedehnten Reisen kreuz und quer über den nordamerikanischen Kontinent diverse Zeitzeugen aufspürte, ist der Auffassung, dass sich die Partisans mit ihrer Drift vom linken Antistalinismus zum liberalen Antikommunismus ihrer kritischen Fähigkeiten entschlugen und als verblendete Claqueure der kulturellen Eindämmungspolitik im Kalten Krieg endeten. Über die vermeintlichen Deserteure und Renegaten wird moralisch gerichtet: Als sie noch im Terrain der antistalinistischen Linken ihre Heimstatt hatten, war ihr kritischer Verstand ungetrübt, lautet die Klage, doch als sie von der Fahne gingen und sich feige davonstahlen, schien sich ihr Intellekt – als gerechte Strafe für ihre ruchlose Apostasie – unaufhaltsam zurückzubilden.
In Walds Erzählungen sind die Territorien penibel abgezirkelt und in übersichtliche Parzellen aufgeteilt, doch vergisst der Erzähler in seinem groß angelegten Versuch zur Errettung der historischen Wirklichkeit, dass dem Abspringen vom Red Special langwierige, komplexe Prozesse im intellektuellen Milieu vorausgingen, über die keine literaturkritischen Essays, politischen Verlautbarungen oder theoretischen Abhandlungen im internen Zirkular irgendeiner Splitterpartei Auskunft geben. Die abrupten, zuweilen grotesk-komisch anmutenden Kehrtwendungen in der intellektuellen Arena, die Wald akribisch rekonstruiert, scheinen den Erzähler mehr zu frappieren als seine Protagonisten. In seiner humorlosen Verbissenheit nimmt er ihre politische Überzeugung und ihr Bekenntnis zur »radikalen Linken« ernster als die New Yorker Intellektuellen selbst. Ohne dass es Wald auf seinen ausgedehnten Exkursionen durch die Katakomben der Geschichte recht wahrnimmt, fanden sich bereits in ihrer radikalen Phase während der Großen Depression konservative Spuren in ihrer Kritik der amerikanischen Kultur. Fraglich ist, ob ihr politisches Engagement tatsächlich einen zentralen Stellenwert besaß, ob die New Yorker Intellektuellen in ihrer Jugend realiter solche »dissidenten Revolutionäre« waren, als die sie Wald sehen möchte.
Sicherlich spielte zu jener Zeit, als die Linke auf dem Vormarsch zu sein schien, der radical chic eine nicht unwesentliche Rolle: In den späten dreißiger Jahren gewann der Trotzkismus im New Yorker Intellektuellenmilieu eine gewisse Popularität, blieb aber ein Zeitgeist-Phänomen. Größtenteils sei es eine Politik ohne Preis, Gefahr oder Verpflichtung gewesen, kritisierte Norman Mailer 1968, eine Politik, die fast ausschließlich an der Schreibmaschine stattfand, ohne dass die Intellektuellen mit ihrer Existenz für sie einstehen mussten oder wollten.4 Das Engagement spielte sich im Kopf und am Schreibtisch ab. Die Distanz zu organisatorischen Strukturen der Linken hatte nicht allein ihre Ursache im Bewahren einer intellektuellen Unabhängigkeit, sondern auch in der Aversion gegen den Muff und die Bürokratengier, alle geistigen Energien in Zirkularen, Resolutionen und Satzungen zu kanalisieren, gegen die Disziplin und Strenge, die sich in solchen Formationen auszutoben pflegten. Über die Jahrzehnte hinweg betrachteten sich die New Yorker Intellektuellen, selbst die ideologischen Scharfmacher des Antikommunismus, als vage links, auch wenn es ihnen mit fortschreitendem Alter schwerer fiel, dies inhaltlich zu begründen. Letztlich verfolgten sie als zum kulturellen Establishment vorgedrungene Intellektuelle eigene Interessen einer kulturellen Bourgeoisie, die im Sozialismus nichts Emanzipatorisches, wohl aber Bedrohliches erkennen konnte.
Während Wald die New Yorker Intellektuellen der dreißiger und frühen vierziger Jahre engstirnig über den »revolutionären Marxismus« (der in der sektiererischen Codesprache für den Trotzkismus in der vom Meister autorisierten Version steht), ihren scheinbar militanten Antistalinismus auf antikapitalistischer Basis zu definieren und ihren späteren politischen und moralischen Verfall damit zu begründen sucht, dass sie nicht der Versuchung widerstanden hätten, die »bitteren Früchte des Antikommunismus« zu probieren oder in die »Sackgasse der Sozialdemokratie« zu laufen, verschwendet er keinen Gedanken auf die strukturellen Veränderungen, die sich seit den Zeiten der Großen Depression ereigneten, auf die hegemonischen Prozesse, welche den Konsumismus in der amerikanischen Gesellschaft, die institutionelle Integrierung ehemals marginalisierter Intellektuellen und die fortschreitende Assimilation ethnischer Minderheitengruppen im Zuge der »permanenten Kriegsökonomie« der Blockpolarisation zwischen den USA und der UdSSR vorantrieben. Stets nur begreift Wald – in Nachfolge Noam Chomskys – den politischen Intellektuellen als »authentisches«, »kreatives« Individuum, als »interdisziplinären Generalisten«, der Zusammenhänge durchschaut und die Lügen der Herrschenden aufdeckt, als wäre dieser Intellektuelle ein frei flottierender, von höheren Idealen und Verantwortlichkeiten geleiteter swashbuckler, als hänge er nicht von gesellschaftlichen und ökonomischen Herrschaftsverhältnissen ab, als sei die intellektuelle Arbeit und Existenz nicht von Kompromissen, Gefälligkeiten und Wohlverhalten, von Stipendien, Stiftungen und Zuwendungen, von Gutachten und gegenseitiger Promotion abhängig. Der »revolutionäre Marxist« lässt die gesellschaftlichen Bedingungen außer Acht und konzipiert den Intellektuellen als moralischen, fast anarchistischen Voluntaristen, dessen Bewusstsein das Sein bestimmen soll.5
Zwar ist es erfreulich, wenn sich Intellektuelle auch in den Apparaten ihr kritisches Bewusstsein bewahren und den partikularen Machtinteressen so genannter Eliten widersetzen, doch bleiben sie Ausnahmen. Sie taugen nicht dazu, zum gesellschaftlichen Modell erhoben zu werden, und es hilft wenig, den Intellektuellen zur mythischen oder comic-haften Figur zu stilisieren, die über den Verhältnissen schwebt. »Der ökonomische Prozess bewirkte«, notierte Max Horkheimer in den sechziger Jahren, »die Zusammenziehung der Macht in den Händen von Monopolen, heute in eine Anzahl von Rackets in den verschiedenen industriellen, fachmännischen, politischen Schichten, die über eine hierarchische Struktur zur straff geordneten Verwaltung treiben, die der automatisierten Gesellschaft entspricht.«6 Dies schränkt auch die intellektuelle Kreativität und Produktivität ein: Am Ende verkommt der Intellektuelle zum Funktionär in der Organisation. Er macht sich keine unnützen Gedanken und streut keinen Sand ins Getriebe, sondern organisiert den Schmiermittelnachschub. Er degeneriert zum Techniker des Apparats, hört auf, Intellektueller zu sein, dessen Anspruch es sein müsste, sich – wie Jean-Paul Sartre in seinem »Plädoyer für die Intellektuellen« (1965) formulierte – seiner Widersprüchlichkeit bewusst zu werden und als monströses Produkt monströser Gesellschaften zu begreifen, die ihn zur eigenen Überwindung oder Destruktion in die Welt setzen.7
Von diesem Anspruch entfernten sich die New Yorker Intellektuellen immer weiter, je näher sie an die kulturellen und staatlichen Institutionen rückten und je mehr sie sich mit der Gesellschaft zu identifizieren begannen, die den unterprivilegierten Immigrantenkindern aus Brooklyn oder der Bronx den Aufstieg zu geachteten Professoren an Elite-Universitäten des Landes oder zu Zelebritäten des New Yorker Kulturbetriebs ermöglicht hatte. Die politischen und kulturellen Disruptionen der sechziger Jahre – die Aufstände in den Metropolen, die Studentenrevolte, die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, der aufkommende Feminismus, die Gegenkultur – zerstörten schließlich den alten Zusammenhalt der Gruppe, die sich in verschiedene politische, kulturelle und geografische Richtungen verstreute. Viele New Yorker Intellektuelle, die in den dreißiger Jahren ihre Lehrzeit bei den revolutionären Schulmeistern des Trotzkismus absolviert hatten, liefen nun zum lärmschlagenden Trupp neokonservativer Ideologen über, die sich im Gefolge des ehemaligen Schauspielers Ronald Reagan aus der kalifornischen Provinz am Kreuzzug gegen den Kommunismus und das sowjetische »Reich des Bösen« beteiligten. Ironischerweise unterstützten sie eine politische Administration, die über Steuer- und Postreformen die Publikation und Distribution kleiner, nicht-profitorientierter kritischer Zeitschriften erschwerte und die konservative intellektuelle Hegemonie festigte.8 Ein Zirkel von Intellektuellen, der sich in erster Linie über das Medium der little magazines konstituiert und Ruhm in der amerikanischen Kultur erlangt hatte, machte sich nun zum Propagandistenklub einer Regierung, die über legislative Maßnahmen die letzten Schlupfwinkel einer kritischen Öffentlichkeit in der amerikanischen Landschaft zu beseitigen suchte. Aber die Uhr war ohnehin längst abgelaufen: Im Zeitalter digitaler Netze und multimedialer Informationskanäle bestand kaum noch Interesse an kleinen Zeitschriften, die zu Beginn des Jahrhunderts die Macht der etablierten Organe unterminiert und einer neuen kulturellen Bewegung Ausdruck verschafft hatten.
Alte Erinnerungen
Ehe sich jedoch der Vorhang auf der intellektuellen Bühne für immer senkte, nutzten die Überlebenden der New Yorker Garde in den achtziger Jahren die verbleibende Zeit, um ihre Version der alten Geschichte zu erzählen und den Nachgeborenen (sofern sie sich dafür überhaupt interessierten) zu vermitteln, »wie es denn eigentlich gewesen ist«. Immer schon besaßen sie ein Faible für die Selbstdramatisierung: Der Intellektuelle war nicht auf die Rolle des Produzenten und Vermittlers von Ideen beschränkt, sondern übernahm auch die des Entertainers im Medienbetrieb. Auf Effekte bedacht, verkauften die Partisans die Abenteuer des Intellekts als serielles Spektakel an ein intelligentes wie begieriges Publikum. In aller Öffentlichkeit fielen sie übereinander her, ließen kein gutes Haar am Kontrahenten und tauschten vor der feixenden Menge kräftige Schellen aus. Zuweilen erinnerten die Auseinandersetzungen zwischen den New Yorker Intellektuellen an Slapstick und Screwball-Comedy, an die anarchische Lust der Destruktion, wie sie Laurel & Hardy in Perfektion demonstrierten. Mit verbissenem Ernst wurde das intellektuelle Konstrukt des Gegenübers in alle Einzelteile zerlegt und wutschnaubend in den Boden gestampft, um anschließend langmütig die Gegenattacke abzuwarten und über sich ergehen zu lassen. »Die New Yorker Intellektuellen waren eine streitsüchtige und unsympathische (jüdische?) Familie«, merkt Eugene Goodheart an, »voller begabter, neidischer, vom Konkurrenzdenken geprägter Geschwister, die meistens schlecht übereinander dachten.«9
Entsprechend nehmen sich die Memoiren und Autobiografien aus: Persönliche Abneigungen und Animositäten, alte Zänkereien und aufgeschobene Abrechnungen, aufgestauter Groll und despektierlicher Klatsch sind der Kitt, der die Erzählungen der Memoiristen zusammenhält. Indiskret wird noch über das letzte Detail berichtet, wohlwissend, dass der (von ihnen sonst so beklagte) kulturindustrielle Markt danach verlangt. Bereitwillig erteilen die Zelebritäten der intellektuellen Abteilung Auskunft über ihre Freund- und Bekanntschaften, üben sich im name-dropping, wischen den toten Kollegen, die nun nicht mehr widersprechen können, noch einmal kräftig eins aus, rufen sich die scheußlichen, schmählichen Einzelheiten ins Gedächtnis, fügen im Prozess der Erinnerung noch schimpflichere hinzu. Im gleißenden Rampenlicht des intellektuellen Exhibitionsgeländes gerieren sie sich als Signalanlagen ihrer selbst, stets bemüht, die alten Konkurrenten um mindestens einen Kopf zu überragen, die Erinnerung an deren Blamagen und Mängel wachzuhalten, um das eigene Prestige zu steigern.
Kaum unterscheidet sich die Autobiografie eines Sidney Hooks, in grauer Vorzeit einmal Aushängeschild des amerikanischen Marxismus, von den Memoiren der Hollywood-Diva Bette Davis: Am Ende hat jener die Nase vorn, wer im abschließenden Spurt die Konkurrenten abhängt und ihnen eine Nase drehen kann. Geprägt sind sie von persönlichen Eitelkeiten, von der störrischen Insistenz, nicht nur ein »verwehendes Stäubchen« im gewaltigen Exhibitionsgelände zu sein. Vor dem Publikum paradieren selbst ernannte Geistesheroen, die es im New Yorker Starsystem zu etwas gebracht haben. Ausgestellt wird der arrivierte Intellektuelle als herausragende Persönlichkeit, die sich auf dem historischen Parcours gegen alle Widrigkeiten und Nachstellungen der Konkurrenten und geistfeindlichen Massen behauptete.10
Bagatellisiert wird in den Memoiren häufig das Ausmaß des eigenen politischen Engagements in der Kommunistischen Partei, das dem gern gezeichneten Bild des kritischen, verantwortungsvollen Intellektuellen zuwiderläuft. Für Alan Wald ist diese Verdrängung der eigenen Vergangenheit Ausdruck einer »politischen Amnesie«. Akribisch hält er den Überlebenden, die dem Publikum weismachen wollten, sie seien immer schon glühende Antikommunisten gewesen, ihre Artikel aus den frühen dreißiger Jahren vor, in denen sie sich als hundertprozentige Kommunisten präsentierten. Pedantisch prangert er jede Ungenauigkeit an, korrigiert die von den Siegern geschriebene Geschichte und lässt einigen Verlierern Gerechtigkeit widerfahren, doch haftet dem Unterfangen, die selbstzufriedenen Memoiristen mit einer kompromittierenden Vergangenheit zu konfrontieren, ein fragwürdiges Moment an. Von einem detektivischen Spürsinn getrieben, kommt es dem Historiker auf die Nachzeichnung vergangener Debatten und Auseinandersetzungen, auf die Rekonstruktion des »Tathergangs«, auf die Bloßstellung und Überführung der Delinquenten an. Der Zugang zu Archivmaterialien, unveröffentlichten Manuskripten und Briefen, Entwürfen und Skizzen bietet ihm die Chance, ein Bild aus zahllosen Splittern und Fragmenten zu rekonstruieren, zugleich aber wird Geschichte zur Sache von Spezialisten, die mit polizeilichem Eifer die Vergangenheit durchkämmen und die Lücken der Erinnerung offen legen.
So wird manche verloren geglaubte Wahrheit wiedergewonnen, doch verschwindet hinter der peniblen Faktenhuberei die Geschichte selbst. Ausgespielt wird die Erinnerung, die einem fortwährenden Prozess der Veränderung unterliegt, gegen die statischen »Fakten«, als steckte in ihnen selbst, isoliert und abgeschlossen, die Wahrheit. Letztlich tragen die akkumulierten Details nicht dazu bei, ein klares Bewusstsein der Zusammenhänge zu bekommen und die Fassade, welche die Protagonisten selbst um sich errichteten, zu durchdringen. Stattdessen wird eine lange, jede Verfehlung registrierende Anklageschrift der New Yorker Intellektuellen präsentiert, welche die Geschichte auf den politischen Aspekt verengt.
Die Memoiristen triumphierten über ihre toten einstigen Mitstreiter und politischen Widerparts im New Yorker Zirkel und wollten die Geschichte festschreiben. Dabei begnügten sie sich nicht, der Nachwelt ihre autorisierte Version zu hinterlassen, sondern wollten auch von Biografen und Historikern vernommen werden. Wurden sie übergegangen, reagierten sie gereizt und beleidigt wie eitle Diven vom Sunset Boulevard und sprachen den jüngeren Autoren, die ihnen nicht den notwendigen Respekt zollten, die intellektuelle und fachliche Kompetenz ab. Misstrauisch und argwöhnisch begegneten sie jedem Versuch, die Geschichte anders als sie zu interpretieren, befürchteten, nach Jahren des Triumphes zerrupft und zu Opfern einer operation rewrite zu werden. Die Greise verschanzten sich in den Unterständen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten gebaut hatten, und verteidigten die alten Stellungen mit allen Mitteln und gegen alle Attacken. Der intellektuelle Soldat, so lässt sich an ihren starrsinnigen Ein- und Auslassungen ablesen, stirbt wutverzerrt im Gefecht oder zumindest im schlammigen, vom Kadavergeruch überhangenen Schützengraben, nicht an Gicht oder Hirnverkalkung auf einem weichen Bett. Die grantigen Nachlassverwalter, deren vornehmliches Verdienst darin bestand, ihre dahingeschiedenen Kollegen überlebt zu haben, wachten über die Erzählungen und Anekdoten, über das kollektive Gedächtnis ihrer Gruppe, als müssten sie noch immer alte Feinde zurückschlagen, als hätte sich in einem halben Jahrhundert nichts verändert. Die traumatische Erfahrung des Stalinismus lastete wie ein Alp auf ihren Erinnerungen, und selbst die aktuellen politischen und kulturellen Situationen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts interpretierten sie nach dem starren Schema, das sie zu Zeiten der Moskauer Prozesse entwickelt haben. Noch 1994 vermutete der ketzte Überlebende der originalen Partisans ein »stalinistisches Unbewusste im kulturellen Untergrund«11 am Werke.
Der Kampf geht weiter
Auch für Wald geht – selbst nach dem Untergang des intellektuellen Organisators Partisan Review – der Kampf der 1930er Jahre weiter. Im Vorwort zur dreißigjährigen Jubiläumsausgabe seiner Geschichte der New Yorker Intellektuellen wiederholt der inzwischen emeritierte Professor der University of Michigan seine Mär der »Radikalisierung« und »Deradikalisierung« von den »wilden Jahren« der marxistischen Abenteuer in den zerklüfteten Stadtlandschaften New Yorks bis zur konformistischen Unterwerfung der Apostaten unter das Diktat des Neokonservatismus in den 1970er und 1980er Jahren. Wie die einstigen Partisans widmet sich der akademische Pensionär noch immer der Pflege seiner Feindbilder: War vor dreißig Jahren Irving Howe – der einstige trotzkistische Feuerkopf, der nach seiner Apostasie als wiedergeborener »demokratischer Sozialist« die »Linksradikalen« der New Left in den Senkel stellte – Walds Lieblingsfeind, so ist es heute immer noch Dissent, die von Howe und anderen linken »Abtrünnigen« gegründete Zeitschrift, die als eine der wenigen Medien der New Yorker Intellektuellen noch immer existiert. Dass Dissent unter der Ägide des Historikers Michael Kazin (des Sohnes des linkslibertären Literaturkritikers Alfred Kazin) mittlerweile eine linksplurale Gesellschaftskritik verfolgt, die sich entscheidend von der Linie der »NATO-Intellektuellen« (wie C. Wright Mills in den späten 1950er Jahren seinen einstigen linken Mitstreiter Howe kritisierte12) unterscheidet, nimmt Wald nicht wahr. Wie bereits 1987 verharrt Wald in einer sektiererischen Interpretation der Geschichte, wobei einzig die Kämpen der Socialist Workers Party die Beute des historischen Mehrwerts zur Rettung der Menschheit davon tragen.
In seiner verengten ideologischen Perspektive geht es Wald stets nur um die Moralisierung der Politik, deren Kulmination in der intellektuellen Propädeutik des »wahren« Marxismus liegt, zu dem nur eine kleine Elite verschworener wie akribisch arbeitender Geister fähig ist. Bereits der Gründungsvater des US-amerikanischen Trotzkismus, James P. Cannon, hatte in den 1940er Jahren sich und seinen unerschrockenen Gefährten die historische Krone aufgesetzt. Wenn die Geschichte dieser Epoche geschrieben werde, meinte er in der ihm eigenen Bescheidenheit, erkännten die Historiker, dass die einzig wirklich moralischen Menschen die Trotzkisten gewesen seien.13 Walds Erzählung bewegt sich an den Linien dieser »politischen Pathologie« (wie Dwight Macdonald die trotzkistische »Metapolitik« jener Zeit beschrieb). Der Marxismus ist – nicht allein, aber auch – ein Herrschaftsinstrument von Intellektuellen, die sich zu einer »neuen Klasse« erhoben, statt sich der Emanzipation aller Menschen zu widmen. Nach Sartre ist der Intellektuelle der »Hüter der Demokratie«, der das Allgemeine gegen das Partikulare verteidigt und sich dem Gedanken einer Elite verweigert.14 Dagegen ist Walds Erzählung von der Konzeption des »falschen Intelektuellen«, des »Technikers des praktischen Wissens« (wie Sartre diesen Typus nennt) geprägt, der sich den Strukturen der Herrschaft unterwirft und emanzipatorische Ansätze verwirft. Der Intellektuelle »ist zunächst ein Zweifler«, hob Sartre hervor, »also ein potentieller Verräter, in einem anderen Sinn betreibt er diese Bewußtwerdung für alle«.15 In seiner ideologischen Ummauerung hat Wald keinen Blick für »Nebenwidersprüche« wie Rassismus, Feminismus oder Massenkultur oder für Personen wie Murray Bookchin, die auch zum »New Yorker« Milieu gehörten, aber nicht in die schematische Konzeption von Walds Historiographie passen.16
Einer kritischen Retrospektive auf die eigene Arbeit verweigert sich Wald. In der jüngeren Vergangenheit haben andere Autoren Aspekte der Wechselwirkung zwischen den New Yorker Intellektuellen und den intellektuellen Flüchtlingen aus Europa wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse oder Siegfried Kracauer beleuchtet.17 Gleichfalls unterbelichtet bleibt die Rolle von Dwight Macdonalds Zeitschrift Politics in der Diskussion von Krieg, Rassismus und Pazifismus in den 1940er Jahren, die in Walds Geschichte auf wenigen Seiten zu Sprache kommt, während trotzkistische Mikro-Wortfabriken jeglicher Couleur oder Devianz in extenso behandelt werden. Zwar wird Wald nicht müde, den New Yorker Intellektuellen und ihren Historiografen eine »politische Amnesie« vorzuwerfen, doch verengt sich seine historische Wahrnehmung auf Grund eines ideolologisch begründeten Eklektizismus auf eine schematische Darstellung von Aufstieg und Fall, ohne tatsächlich die Bruchstellen in der historischen Entwicklung schlüssig lokalisieren zu können. Wie Mark Shechner vor dreißig Jahren mit Recht bemerkte, ist Wald »der Archivar der amerikanischen trotzkistischen Bewegung«18, der maulwurfartig verscharrte Fragmente der Vergangenheit an die Oberfläche wirft, ohne jedoch die eigenen Methoden der Geschichtsschreibung zu hinterfragen – zu sehr hat er sich in sein Maulwurfsfell der Selbstgerechtigkeit eingeschlagen. Am Ende steht ein stoisches Il fault continuer, ohne dass Wald imstande ist, die Erfahrungen der Vergangenheit adäquat zu verarbeiten.
Bibliografische Angaben:
Alan M. Wald.
The New York Intellectuals:
The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s.
Thirtieth Anniversary Edition.
Chapel Hill & London: University of North Carolina Press, 2017.
504 Seiten, 34,95 US-Dollar.
ISBN: 978–1‑4696–3594‑1.
Bildquellen (Copyrights) |
|
Cover The New York Intellectuals (1987) | © University of North Carolina Press, 1987 |
Cover The New York Intellectuals (2017) | © University of North Carolina Press, 2017 |
Foto von Berenice Abbott | © New York Public Library Digital Collections |
Cover Partisan Review | © Howard Gotlieb Archival Research Center, Boston University |
Cover Dissent | © Dissent Magazine |
Alan Wald: Publicity-Foto (1987) | © Alan Wald Collection/University of Michigan |
Andere Fotos | © Jörg Auberg |
© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- Thomas Steinfeld, »Der Wohltäter«, Süddeutsche Zeitung, 22. April 2003 ↩
- Boston Globe, 17. April 2003 ↩
- Der Begriff geht auf Isaac Rosenfeld zurück, der damit in Anlehnung an Dostojewskis »Untergrundmenschen« die Intellektuellen-Generation der 1940er Jahre charakterisierte. Cf. Isaac Rosenfeld, An Age of Enormity: Life and Writing in the Forties and Fifties, hg. Theodore Solotaroff (Cleveland: World Publishing Company, 1962), S. 47 ↩
- Norman Mailer, »Up the Family Tree«, Partisan Review, 35:2 (Frühjahr 1968), S. 249 ↩
- Noam Chomsky, »The Responsibility of Intellectuals« (1967), in: The Essential Noam Chomsky, hg. Anthony Arnove (New York: The New Press, 2008), S. 39–62; siehe auch Alan M. Wald, The Responsibility of Intellectuals: Selected Essays on Marxist Traditions in Cultural Commitment (New Jersey: Humanities Press, 1992) ↩
- Max Horkheimer, »Notizen 1949–1969«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/M.: Fischer, 1991), S. 409 ↩
- Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen: Interviews, Artikel, Reden 1950–1973, hg. Vincent von Wroblewsky, übers. Eva Groepler et al. (Reinbek: Rowohlt, 1995), S. 108–109 ↩
- Cf. Jeffrey Escoffier, »Pessimism of the Mind: Intellectuals, Universities and the Left«, Socialist Review, 18:1 (Januar-März 1988), S. 132–133. Siehe auch Eric Bulson, Little Magazine, World Form (New York: Columbia University Press, 2017) ↩
- Eugene Goodheart, »The Abandoned Legacy of the New York Intellectuals«, American Jewish History, 80:3 (März 1991), S. 364 ↩
- Zur Kritik cf. Leo Löwenthal, »Die biografische Mode«, in: Löwenthal, Literatur und Massenkultur (Schriften, Bd. 1), hg. Helmut Dubiel (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980), S. 245 ↩
- Kommentar von William Phillips, Partisan Review, 61:1 (Winter 1994), S. 8 ↩
- Cf. Maurice Isserman, If I Had a Hammer …: The Death of the Old Left and the Birth of the New Left (New York: Basic Books, 1987), S. 116–123; C. Wright Mills, »Letter to the New Left« (1960), in: The Politics of Truth: Selected Writings of C. Wright Mills, hg. John H. Summers (New York: Oxford University Press, 2008), S. 256 ↩
- Dwight Macdonald, Politics Past: Essays in Political Criticism (New York: Viking, 1970), S.274 ↩
- Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen, S. 109, 130; zur Kritik des Marxismus aus neomarxistischer Perspektive cf. Alvin W. Gouldner, Against Fragmentation: The Origins of Marxism and the Sociology of Intellectuals (New York: Oxford University Press, 1985) ↩
- Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen, S. 128 ↩
- Cf. Janet Biehl, Ecology or Catastrophe: The Life of Murray Bookchin (New York: Oxford University Press, 2015), S. 1–51 ↩
- Cf. Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2009), S. 140–188; und Johannes von Moltke, The Curious Humanist: Siegfried Kracauer in America (Berkeley: University of California Press, 2016), S. 26–43 ↩
- Mark Shechner, »New York Intellectuals«, Salmagundi, Nr. 76–77 (Herbst 1987-Winter 1988), S. 209 ↩