Genosse Münchhausen
Sigismund Krzyżanowskis Roman Münchhausens Rückkehr liegt erstmals in einer deutschen Übersetzung vor
Von Jörg Auberg
In dem kurzen sowjetischen Animationsfilm Münchhausens Abenteuer1 aus dem Jahre 1929 taucht Baron Münchhausen aus einem Buch auf, um augenzwinkernd zu erklären, dass er Lügner und Aufschneider nicht ertragen könne. Am Ende wird er ins Buch zurückgeschleudert, weil andere seine »Lügengeschichten« nicht länger ertragen können.
Auch in Sigismund Krzyżanowskis in den Jahren 1927 zwischen 1927 und 1928 entstandenen Roman Münchhausens Rückkehr entsteigt Baron Münchhausen einem Buch, in das er am Ende wieder abtaucht. Krzyżanowski lässt ihn im Berlin der frühen 1920er Jahre auferstehen, in dem Zeitungsjungen Schlagzeilen vom Aufstand der Matrosen in Kronstadt auf den Alexanderplatz hinausschreien. Dort residiert der Baron in einer mondänen Wohnung, in der ihn der Dichter Ernst Unding aufsucht, um den Erzählungen des Buchwesens, das als Zitat seiner selbst durch die Gegenwart geistert und die Grenzen zwischen Wahrheit und Lügen, Fakten und Fiktion unterläuft. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Charakterisierungen Münchhausens als prahlerischer Aufschneider und übermütiger Abenteurer ist Krzyżanowskis Protagonist ein in der Philosophie von Hegel, Kant, Diderot und Marx bewanderter Feingeist, der trotz aller Reflexion von einem narzisstischen Wesen geprägt ist. Auf seiner Visitenkarte bezeichnet er sich als »Lieferant für Phantasmen und Sensationen«, der »nicht den Weltmaßstab« scheue – und dies seit 1720. »Einen nützlicheren Menschen als mich werden Sie nicht finden«, lässt er Unding in seiner ihm eigenen Bescheidenheit wissen.2
Im diplomatischen Geheimauftrag der britischen Regierung bricht Münchhausen zu einer neuerlichen Reise nach Russland auf, doch reitet er diesmal nicht auf einer Kanonenkugel, sondern muss sich dem technischen Fortschritt unterordnen und eine Granate als Fortbewegungsmittel nehmen. »Eine moderne Granate lässt sich nicht«, weiß er zu berichten, »so einfach besteigen wie die schwerfälligen gusseisernen Bomben von früher.«3 Als er sich in einer weiten, sumpfigen Landschaft wiederfindet, setzt er seine dressierte Jagdstiefel in Gang, die gleich einem Hund den Weg zu einem Dorf suchen.
Die Sowjetunion ist für den Geheimdiplomaten keineswegs das aufregende Laboratorium einer neuen Gesellschaft und »wahrhaft menschlichen Kultur«, in der sich der »durchschnittliche Mensch bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx« eines Tages erheben werden (wie Leo Trotzki imaginierte4), sondern ein Land, das von Hunger, kriegerischen Auseinandersetzungen, Mangelwirtschaft, Inflation und staatlicher Gewalt gezeichnet war. Im Bürgerkrieg kamen viele Pferde ums Leben, sodass nicht genug Tiere in den Dörfern vorhanden waren, um die Fuhrwerke und Pflüge zu ziehen. Kurzerhand lässt Münchhausen die verbliebenen Pferde in zwei Hälften zersägen, »wodurch sich ihre Menge verdoppelte«. Die Vorderbeine werden vor die Fuhrwerke, die Hinterbeine vor die Pflüge gespannt, und schon ist das Problem behoben. Wenn die sowjetische Regierung »meinen Standpunkt [in der Volkswirtschaft] eingenommen, hätte sie die Jahre von Verfall und Verarmung vermeiden können«, gibt Münchhausen in einem Vortrag vor englischem Publikum zum Besten.5
Auf seiner beschwerlichen Reise kommt sein Zug immer wieder ins Stocken. Die Lokomotive wird mit Büchern gefüttert, doch der Maschinist ist ein Professor, der jedes Buch gelesen haben muss, ehe er es dem Feuer überantwortet. Wenn »er es von einer Schwelle bis zur anderen nicht durchgelesen hat«, bemerkt jemand, »wirft er es noch nicht in die Feuerung, nein, nein. So fahren wir von einem Holzscheit zum anderen, das heißt von einem Buch zum anderen […].«6 In der neuen Zeit, in der Lenin das Kino zur wichtigsten Kunst des 20. Jahrhunderts erklärte7, gelten Bücher als nutzlose Dinge. In erster Linie geht es darum, die Massen in den Städten und auf dem Land mittels kommunistischer Propaganda zu erziehen, und dies sollte mittels einer filmischen »Fabrik der Fakten« bewerkstelligt werden. Der Dokumentarfilmer Dziga Vertov träumte im Sinne der »leninistischen Film-Wahrheit« von »Orkanen von Fakten«, die über das Land fegten und im Sturm die neuen Menschen zum Leben erweckten.8 Diese Kino-Fabrik der Fakten lieferte jedoch weniger eine Reflexion der Wirklichkeit, sondern trug eher zu einer Mythologisierung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion bei und betrieb (mit den Worten der Filmkritikerin Annette Michelson) »eine kommunistische Dekodierung der Welt als sozialen Text«9.
Schließlich ist der »Lieferant von Phantasmen und Sensationen« selbst von den realen Verhältnissen überrollt, in denen Fakten sich in Phantasmen verwandelt hatten und »das ganze Spiel auf den Kopf« gestellt war, und aus Baron Münchhausen war »Genosse Münchhausen« geworden, der in einem »grenzenlosen Land der Phantasie« lebte. »All meine Phatansien sind verspielt«, resümiert er und verschwindet als Buchwesen in einer Weltflucht wieder im Buch.10 Dennoch sind die »Phantasmen« (bei Marx hießen sie »Spuk«11) in der »post-faktischen« Welt längst dominant. Der Geist lässt sich nicht ins Buch verbannen.
Münchhausens Rückkehr konnte wie das gesamte erzählerische Werk Krzyżanowskis zu Lebzeiten des Autors nicht erscheinen. Bereits in den Jahren zwischen 1924 und 1928 wurde – wie China Miéville in seiner Geschichte der Oktoberrevolution schreibt – die Atmosphäre in Russland zunehmend giftiger12, und in den Jahren danach blieben nonkonformistische Autoren vom Literaturbetrieb ausgeschlossen, wenn sie nicht gar den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Seine Stelle bei der Großen Sowjetischen Enzyklopädie kündigte Krzyżanowski mit dem ironischen Hinweis auf seine misslungene »Umwandlung aus einem Menschen in einen Beamten« und widmete sich auf engem Raum dem Schreiben und dem Alkohol.13 Den an Anspielungen reichen Roman hat Dorothea Trottenberg zeitgemäß ins Deutsche übertragen und mit erläuternden Anmerkungen versehen. »Mein ganzes schwieriges Leben lang war ich eine literarische Unperson, die redlich daraufhin arbeitete, existent zu sein«14, sagte Krzyżanowski. Allmählich tritt er aber auch im deutschsprachigen Raum aus dem Schatten der literarischen Nichtexistenz heraus.
Bibliografische Angaben:
Sigismund Krzyżanowski.
Münchhausens Rückkehr.
Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg.
Nachwort von Thomas Grob.
Zürich: Dörlemann Verlag, 2018.
240 Seiten, 22 Euro.
ISBN: 9783038200598.
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Szenenfotos aus Münchhausens Abenteuer — © Meschrabpom
Szenenfoto aus Genosse Münchhausen — © CineGraph/Bundesarchiv/absolut MEDIEN GmbH
Cover Münchhausens Rückkehr — © Dörlemann Verlag
Porträtfoto von Sigismund Krzyżanowski — © Dörlemann Verlag
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© Jörg Auberg 2019
Nachweise
- Pokhozhdeniya Myunkhgausena, UdSSR 1929, Laufzeit: 18 Minuten, Regie: Daniil Cherkes, Animation: Daniil Cherkes, Ivan Ivanov-Vano, Vladimir Suteyev, Vera Valerinanova ↩
- Sigismund Krzyżanowski, Münchhausens Rückkehr, übers. Dorothea Trottenberg (Zürich: Dörlemann, 2018), S. 20–21 ↩
- Krzyżanowski, Münchhausens Rückkehr, S. 78 ↩
- Leo Trotzki, »Literatur und Revolution« (1924), in: Trotzki, Denkzettel: Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, hg. Isaac Deutscher, George Novack und Helmut Dahmer, übers. Harry Maòr (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 365, 371 ↩
- Krzyżanowski, Münchhausens Rückkehr, S. 84 ↩
- Krzyżanowski, Münchhausens Rückkehr, S. 90 ↩
- V. I. Lenin, »Directives on the Film Business«, https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1922/jan/17.htm ↩
- Dziga Vertov, »The Factory of Facts« (1926), in: Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov, hg. Annette Michelson, übers. Kevin O’Brien (Berkeley: University of California Press, 1984), S. 56–58 ↩
- Annette Michelson, Einleitung zu Kino-Eye, S. xiv ↩
- Krzyżanowski, Münchhausens Rückkehr, S. 193, 195, 198, 199 ↩
- Karl Marx und Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie«, MEW, Bd. 3 (Berlin/DDR: Dietz, 1983), S. 38 ↩
- China Miéville, October: The History of the Russian Revolution (London: Verso, 2017), S. 314 ↩
- Wadim Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, in: Krzyżanowski, Lebenslauf eines Gedankens, hg. Wadim Perelmuter, übers. Irene Strobel (Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1991), S. 394 ↩
- Perelmuter, »Vom Nachteil, begabt zu sein«, S. 410 ↩