Kafka Revisited
Costas Despiniadis und Peter Kuper entdecken die Kafka-Welt aufs neue
Von Jörg Auberg
»Ich verstehe nichts von Politik«, sagte Karl.
»Das ist ein Fehler«, sagte der Student.
Franz Kafka, Der Verschollene1
In seinen »Aufzeichnungen zu Kafka« (die in den Jahren zwischen 1942 und 1953 entstanden) bemerkte Theodor W. Adorno, dass Kafkas Werk »den Ton des Ultralinken« besitze: »wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch.«2 Als Adorno seine Aufzeichnungen schrieb, fand ein Prozess der »Amerikanisierung« Kafkas statt, den vor allem die ehemals als Sprachrohr des »literarischen Kommunismus« gegründete Zeitschrift Partisan Review vorantrieb. In den späten 1930er Jahren verstand sie sich als Avantgarde-Organ der Spätmoderne und publizierte in den Jahren zwischen 1938 und 1946 Übersetzungen von Kafkas Erzählungen und Tagebüchern. Auf diese Weise bereitete sie das publizistische und literarische Terrain für Kafka in den USA, der schließlich von dem politischen »Wendehals« Leslie Fiedler, der sich über Stationen im kommunistischen und sozialistischen Milieu der 1930er Jahre zum Lautsprecher antikommunistischer Agenturen wie des »Kongresses für kulturelle Freiheit« wandelte, von den Propagandisten des »neuen Amerikanismus« eingemeindet wurde: Kafka gehöre, behauptete er 1948, »zu uns«.3
Im »Zeitalter der Angst« wurde Kafka als Sprachrohr der Furcht und der Hoffnungslosigkeit, als Inbegriff der existenziellen Obdachlosigkeit vereinnahmt. Für Nachwuchsautoren wie Saul Bellow und Isaac Rosenfeld, die von der Partisan Review protegiert wurden, waren neben Dostojewskis »Untergrundmensch« vor allem Kafkas Protagonisten der Unsicherheit und der prekären Verhältnisse nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht Modelle in der Zeit nach den Gewissheiten der »roten Dekade« (wie die 1930er Jahre im Zuge der um sich greifenden antikommunistischen Hysterie genannt wurden). Bellow und Rosenfeld waren in ihrer Jugend in trotzkistischen Zirkeln aktiv und bewegten sich in den 1940er Jahren – wie Alan Wald diese Transition beschrieb – auf dem Pfad der »Deradikalisierung« und »Institutionalisierung«. Die aufkommende »Kafka-Manie« wurde dabei als Vehikel im Fortkommen im kulturindustriellen Betrieb genutzt. Kein anderer moderne Autor artikuliere besser die moderne Erfahrung als Kafka und bewahre die menschliche Freiheit im Kampf des Individuums gegen scheinbar übermächtige Organisationen, erklärte Rosenfeld 1947.4
In der bipolaren Konfrontation des »Kalten Krieges« wurde Kafka in den Frontstellungen zerrieben: Für die »Stalinisten« (um Rosenfelds Terminologie zu benutzen) war der Kleinbürger Kafka unfähig, sich den Organisationen der Arbeiterklasse anzuschließen, und verbarrikadierte sich wie ein Maulwurf gegen die Außenwelt, ohne dem heraufziehenden Faschismus Widerstand entgegenzusetzen.5 Auf der anderen Seite wurde Kafka als Warner vor der totalitären Welt einer übermächtigen Bürokratie vereinnahmt, in der das Individuum mit seinen Bürger- und Menschenrechten vor den Truppen eines gefräßigen Sowjet-Imperialismus bewahrt werden sollte, während in Mississippi und anderen Orten des »freien Westens« die Rechte nicht-weißer Individuen mit Füßen getreten oder mit Waffengewalt niedergehalten wurde. Die »menschliche Freiheit«, die Rosenfeld mit Kafka zu verteidigen meinte, bezog sich nicht auf Menschen anderer Hautfarbe. Bereits in den 1940er Jahren zeichnete sich – wie Harvey Teres hervorhob – der neokonservative und neoliberale Rückzug der Formation der New Yorker Intellektuellen aus der »Rassenfrage« ab, der schließlich zur Vergiftung der Rassenbeziehungen in den 1980er Jahren beitrug.6
In der »Kafka-Manie« der späten 1940er Jahre setzte sich die Logik des Kulturbetriebs durch. Während Kafka (ähnlich wie Herman Melville) an den Produktionsverhältnissen des Betriebes scheiterte, wussten seine geschäftsmäßigen Nachahmer nur umso besser, wie man sich der Dienste von Agenten und Kultursachwaltern versicherte, um die eigene Karriere voranzubringen. Während sie sich auf dem Markt als Renitente und Renegaten (oder als Chimäre aus beiden Wesen) verkauften, ging es ihnen doch in erster Linie darum, ihr vorgeblich rebellisches Gehabe in den Redaktionen und Verlagen (wie einst Lucien de Rubempré) profitabel umzusetzen. »Noch Kafka wird zum Inventarstück des untergemieteten Ateliers«7, beschrieb Adorno das kulturelle Milieu der Kafka-Adepten. Noch heftiger fiel die Kritik Edmund Wilsons aus, des Doyens der US-amerikanischen Literaturkritik. Für ihn war Kafka nicht nur ein modisch überdimensioniertes Gespenst im Literaturbetrieb; auch Vergleiche mit Joyce, Proust oder Dante erschienen ihm »offensichtlich vollkommen absurd«. In seinen Augen war Kafka eine willensschwache und psychologisch verkrüppelte Figur, die nichts hinterlassen habe, was ihn als einen großen Künstler oder einen moralischen Ratgeber prädestiniere.8 Als Gegenstimme reihte Elias Canetti Kafka neben Proust und Joyce in das Triumvirat der bedeutendsten und einflussreichsten Schriftsteller des 20 Jahrhunderts ein. »Wenn ich an den Tod denke«, notierte Canetti, »stört mich die Vorstellung, dass ich mich von Kafka trennen soll.«9
In der Kafka-Idolatrie der vergangenen Jahrzehnte ist die politische Komponente sowohl in der historischen Figur Kafka als auch in seinem Werk verloren gegangen. Darauf verwies bereits Klaus Wagenbach in seiner frühen Kafka-Biografie: »Insgesamt […] verwundert mich doch manchmal die Tendenz einiger Forscher«, schrieb er rückblickend, »gerade in politicis Kafka in ein von allen Verschmutzungen der Realität bereinigtes Konstrukt zu verwandeln, also in eine Person, die doch ein unvorstellbares dickes Fell gehabt haben müßte, um die politischen und sozialen Verwerfungen gerade dieser Zeit [vor dem Ersten Weltkrieg] nicht zu bemerken […].«10 Neben Wagenbach waren es vor allem die Autoren Michael Löwy und Pascale Casanova, die den politischen Charakter des Werkes Kafkas hervorhoben, der sich in erster Linie in der Kritik der Autorität in ihren patriarchalen und bürokratischen Erscheinungsformen manifestierte.11
Auf diesen Spuren bewegt sich auch der 1978 geborene griechische Autor, Übersetzer und Verleger Costas Despiniadis, der in seinem Buch The Anatomist of Power Kafka vor allem als einen »mächtigen Kritiker der Autorität, der Bürokratie, des Kapitalismus, der Rechtsprechung, des Patriarchats und der Gefängnisse« sieht.12 In diesem Buch, das auf einer fast zwanzigjährigen Beschäftigung mit Kafka, seinem Werk und der Literatur über ihn beruht, versucht Despiniadis, die verschüttete »antiautoritäre Dimension des Werkes Franz Kafkas« freizulegen, wobei er neben den »klassischen« Interpreten wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Klaus Wagenbach, Gilles Deleuze und Félix Guattari vor allem Michael Löwy als Inspirator der jahrelangen Beschäftigung benennt.
Ausgehend von Kafkas Tagebucheintrag »Kropotkin nicht vergessen«13 vom 15. Oktober 1913, begibt sich Despiniadis auf die Spuren der antiautoritären Tendenzen in den Roman Das Schloss und Der Prozess, die sich in den Schilderungen der Bürokratie und des Autoritarismus sowie der Integration der Figuren in die jeweiligen Machtstrukturen. Dagegen ist das Romanfragment Der Verschollene (das von Kafkas Nachlassverwalter Max Brod als Amerika betitelt wurde) in den Augen Despiniadis’ am weitesten von anarchistischen Einflüssen gekennzeichnet, diente für Kafka doch der Reisebericht Amerika heute und morgen des anarchistischen Kosmopoliten Arthur Holitscher (1869–1941) aus dem Jahre 1912 als Inspiration für seine antikapitalistische Kritik des Taylorismus und Automatismus, wobei – wie Michael Löwy hervorhebt – der »Autoritarismus der amerikanischen Zivilisation« bei Holitscher weniger zum Ausdruck kommt als bei Kafka, der die Allgegenwart der Herrschaft in den sozialen Beziehungen unterstreicht.14
In seiner Diskussion des Kafka’schen Werkes unterscheidet Despiniadis zwischen zentralisierten, bürokratischen, unpersönlichen Agenturen der Macht, die von einem offenen Despotismus der Herrschenden und einer freiwilligen Unterordnung der subalternen Schichten profitieren (wie sie vor allem in den Romanen Kafkas zum Ausdruck kommen), und der patriarchalen Autokratie, die sich vor allem in Werken wie »Die Verwandlung« oder »Brief an den Vater« niederschlägt. In der Erzählung »Die Verwandlung«, an deren Beginn sich Gregor Samsa eines Morgens »zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt«15, äußert sich für Despiniadis eine radikale Kritik der bürgerlichen Familie, wie sie sich später in den Studien über Autorität und Familie des Instituts für Sozialforschung wissenschaftlich artikulierte. »Die Stärkung des Glaubens, daß es immer ein Oben und Unten geben muß und Gehorsam notwendig ist, gehört mit zu den Wichtigen Funktionen in der bisherigen Kultur«16, schrieb Max Horkheimer im Vorwort zu den Studien, als der Faschismus in Europa bereits wütete.
Schon in Kafkas Aversion gegenüber der eigenen Familie fand sich eine stumme Renitenz. »Die Eltern[,] die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern), sind«, notierte er in seinem Tagebuch, »wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.«17. In der Erzählung reagiert die Familie auf die unerklärliche Verwandlung des Sohnes mit der Extermination des »Ungeziefers«, wobei die Schwester das Kommando übernimmt und mit dem Brudermord und der Heirat den Ritualen der herrschenden Gesellschaft sich unterwirft. Welcher Art dieses »Ungeziefer« war, ließ Kafka im Ungewissen, insistiert Despiniadis und weist daraufhin, dass die Nationalsozialisten in ihrer Exterminationspolitik Juden immer wieder als »Ungeziefer« diffamierten. So sträubte sich Kafka vehement gegen die Vorstellung, dass auf dem Umschlag der Erstausgabe der Erzählung ein tatsächliches Insekt von der Erscheinung einer Küchenschabe abgebildet werden sollte. »Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden«, schrieb Kafka an seinen Verleger Kurt Wolff. »Es kann nicht einmal einmal von Ferne aus gezeigt werden.«18 In der modernen Adaption Peter Kupers (die gegen das »Verdikt« Kafkas verstößt, das Insekt sei »unabbildbar«) entfaltet die Transformation der »Verwandlung« zur »graphic narrative« eine neue Dimension der klaustrophobischen Verstörung, die Kafka unterschwellig intendiert hatte.19
Während die unerklärliche Verwandlung des Protagonisten Gregor Samsa die Dimensionen der bürgerlichen Existenz und damit ihre gesellschaftlichen ethischen Fundamente durcheinanderwirbelt, demonstriert die Erzählung »In der Strafkolonie« die Technik des Bestrafens in Person eines Offiziers in einer nicht näher bezeichneten Strafkolonie, in der einem Forschungsreisenden der »eigentümliche Apparat« in der »praktischen Anwendung« vorgeführt wird. In seinen Erläuterungen zu dieser Erzählung lokalisiert Klaus Wagenbach den vermutlichen Handlungsort in Neukaledonien oder auf der Teufelsinsel, wohin die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert ihre unerwünschten Personen abschoben und verrotten ließen.20 Doch hätte Kafka beim Schreiben auch die Bestrafungen der italienischen Anarchisten vor Augen haben können, die nach ihren häufig gescheiterten Attentaten von der italienischen Staatsmacht nicht nur in Gefängnissen auf kargen süditalienischen Inseln in den Wahnsinn getrieben, sondern auch durch Apparate wie die Garotte hingerichtet wurden, wobei man den Delinquenten an einen Holzpfahl fesselte und »der Apparat« die Luftröhre zusammenpresste, bis der Tod durch langsames Ersticken eintrat.
In seiner Interpretation dieser Erzählung weist Despiniadis stets auf den Einfluss Kropotkins hin, der für Kafkas Kritik der Autorität (wie sie sich in Bürokratien und Gefängnissen ausdrückte) ein ständiger Fixpunkt war.21 Die Drangsalierung der Gefangenen spielte sich hinter den Mauern ab: Sie wurden gequält, in den Wahnsinn oder den Selbstmord getrieben oder klammheimlich hingerichtet. Kafkas Erzählung nahm die geschichtliche barbarische Erfahrung des 19. Jahrhunderts in sich auf und antizipierte die technologische Vernichtung des Opfers, die einer kalten Apparatur überantwortet wird. Die Tötung vollzieht sich in einer »Amtssprache«, derer sich Kafka als Angestellter der »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt« befleißigen musste.22
In der Strafkolonie nahm Kafka den brutalen Akt der Auslöschung und Barbarei durch die Tätowierung vorweg: Der Schuldlose musste spüren, »wie sein Urteil ins Fleisch eingeschrieben wurde«23, wie Primo Levi die Erfahrung in der Barbarei der nazistischen »Konzentrationslager« beschrieb. Während jedoch bei Kafka der Forschungsreisende ungehinderten Zugang zu dieser Schreckenswelt hat und die Exekution einen öffentlichen Charakter aufweist, vollzog sich die Auslöschung der Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und politischen Gegner im Verborgenen. »Die von Kafka beschriebene Hinrichtung ist gleichzeitig eine sehr moderne – und verweist insofern auf Auschwitz – und eine sehr archaische, die an das Schauspiel der Guillotine gemahnt«, resümiert Enzo Traverso. »In diesem Sinne ist Kafkas Erzählung beinahe ein Lehrstück zur Genealogie des Schreckens des 20. Jahrhunderts.«24
In der Adaption Peter Kupers, die aus dem Vergleich verschiedener englischer Übersetzungen und eigenen Übertragungen entstand und sich am Expressionismus orientiert, erscheint der Kommandant zwar wie ein südamerikanischer Offizier, doch trägt das Personal der Strafkolonie preußische Pickelhauben. Auch die Kopfbedeckung des Kommandanten ähnelt einer Wehrmachtsoffiziersmütze, während die Gesichtszüge an Kupers Anti-Trump-Zeichnungen erinnern. »Kafkas Erzählungen regen zu einer individuellen Interpretation an, indem sie jedem Leser einen einzigartigen persönlichen Kontext geben«25, schreibt Kuper. Die außerordentliche grafische und intellektuelle Qualität der »kuperesken« Adaptionen wird noch einmal deutlich, wenn man als Vergleich die Comic-Variante Kafka: The Execution26 von Leo Duranona heranzieht, der es der Tiefe mangelt und die Kafkas Reisenden auf die eindimensionale Existenz einer Indiana-Jones-Variante niederdrückt.
Auch die Erzählung »Der Bau«, die Despiniadis im Kontext seiner Entstehung in den frühen 1920er Jahren mit dem Heraufziehen des Faschismus sieht, ist bei Kuper die Darstellung eines konservativen Kleinbürgers, der sich gegen die Außenwelt in seinen unterirdischen Gangsystem abschirmt, die mediatisierte Welt via Großbildfernseher an sich vorbeiziehen läßt, und wie ein ewiger Schützengrabenbewohner mit Konserven gegen die Gefahren einer unbewohnbaren Welt. Wie Despiniadis mit Recht herausstellt, ist der Begriff »Bau« mehrdeutig: Zum einen kann er ein Gefängnis beschreiben, zum anderen ein architektonisches Prunkstück darstellen. Vielleicht könnte es auch ein kleinbürgerliches Zuhause sein, das Kafka kurz vor seinem Tod sich möglicherweise erträumte.27
Bereits im Jahre 1903 schrieb Kafka an seinen Freund Oskar Pollack zum Thema »Einsiedelei«: »man ehre den Maulwurf und seine Art; aber man mache ihn nicht zu seinem Heiligen«28. Im Bau ist der moleskinoide Protagonist ein verängstigter unterirdischer Bewohner, den auch seine Verteidigungsmaßnahmen nicht beruhigen können: »Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille, freilich sie ist trügerisch […].«29 In Kupers Adaption ist Kafkas Ich-Erzähler ein verängstigtes Tier im unterirdischen Labyrinth, das keine Sicherheit finden kann. Das abschließende Satzfragment »aber alles blieb unverändert«30 überträgt Kuper in ein Bild psychotischer Angst, in der das maulwurfähnliche Wesen von Vorstellungen des Scheiterns der eigenen Verteidigungsmaßnahmen heimgesucht wird. Das permanente Gefühl des Scheiterns in der Bewältigung alltäglicher Routinen, etwa im Auffinden eines Ziels in einer Stadt, beschrieb Kafka in seinem kurzen Text »Ein Kommentar« aus dem Jahre 1922, der seine Aversion gegenüber den Repräsentanten der staatlichen Autorität verdeutlichte: Ein Reisender erfragt von einem »Schutzmann« den Weg zu seinem Ziel, doch dieser verhöhnt ihn nur mit den Worten »Gibs auf, gibs auf«.31 In Kupers grandioser Umsetzung dieses Textes ist der Protagonist von Zeitangst geprägt, als hinge seine Existenz davon ab, pünktlich sein Ziel in dieser Stadt zu erreichen, doch der voluminöse, dunkle Repräsentant des Staates, an dessen dicken Bauch bereits die Handschellen baumeln, schreit ihn heftig an: »Gibs auf, gibs auf«, um sich danach abzudrehen, und den Verlorenen seinem Schicksal zu überlassen.32
Über die Kafka-Exegese hinaus beleuchtet Despiniadis auch Kafkas Verbindungen mit der Prager Anarchistenszene. Bereits Max Brod hatte in seiner maßgeblichen Kafka-Biografie auf die lose Verbindung Kafka zu einem anarchistischen Zirkel namens »Klub Mladých« (»Klub der Jungen«) hingewiesen, bei dem Kafka als der »Schweigerich« in Erscheinung trat: An den hitzigen Debatten der Genossen beteiligte er sich nicht.33 Vor allem Klaus Wagenbach beschrieb in seiner Biographie des jungen Franz Kafka seine Involviertheit in die dissidente Prager Szene, wobei er jedoch zugab, dass die historischen Quellen für die Verbindung spärlich sind. In erster Linie gilt der tschechische Journalist Michal Mareš als Zeuge der anarchistischen Verbindungen Kafkas. Mutmaßlich soll Kafka an einer Demonstration anlässlich der Hinrichtung des spanischen Anarchisten Francisco Ferrer teilgenommen haben.34
Ähnlich wie der Münchener Anarchist Egon Günther (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Schrifsteller und Regisseur) in seinem Artikel »Franz Kafka und der Anarchismus« bezieht Despiniadis seine Information aus den gängigen Quellen Wagenbachs Kafka-Biografie oder Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka, ohne dass er auf neuere Erkenntnisse zurückgreifen könnte. In Janouchs Aufzeichnungen äußert »Doktor Kafka« ähnlich hellsichtige Einschätzungen des neuen revolutionären Regimes in Russland wie Emma Goldman und Alexander Berkman. Von der scheinbar unbändigen Kraft der Massen ließ er sich nicht blenden: »Am Schluß jeder wirklich revolutionären Entwicklung erscheint ein Napoleon Bonaparte«, versicherte er und fügte hinzu: »Die Revolution verdampft, und es bleibt nur ein Schlamm der Bürokratie. Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.«35 Die Authentizität der Aufzeichnungen Janouchs werden jedoch von vielen Kommentatoren in Zweifel gezogen36: Janouch erscheint vielen als »Kafka-Groupie«, der »Doktor Kafka« als Heiligen porträtiert (wie Paul Auster schrieb), während die Einträge in seinen Tagebüchern von nahezu pathologischen Selbstzweifeln geprägt, sodass eine politische Indienstnahme dieses »neurotischen Schattenmannes«37 für eine herrschaftsfreie Gesellschaft etwas fragwürdig erscheine, wie Edmund Wilson in seiner Anti-Kafka-Tirade unterstrich.
Selbst Michael Löwy als größter politischer Fürsprecher Kafkas insistiert, dass Kafka weit davon entfernt war, ein Anarchist zu sein, und in diesem Urteil folgen ihm sowohl Despiniadis als auch Günther: »Kafka lässt sich nicht vereinnahmen«, resümiert Günther, »er irritiert und hinterläßt einen Stachel unter der Haut des Lesers.«38 Auch Despiniadis will trotz des Bestrebens, »die wahre Dimension von Kafkas anarchistischen Interessen«39 zu porträtieren und seine Affinität für Autoren und Autorinnen wie Kropotkin, Emma Goldman, Erich Mühsam oder Alexander Herzen herauszustellen, Kafka nicht als Sprachrohr eines literarisches Anarchismus darstellen.
Im Gegensatz zur französischen Ausgabe des Buches, das den essayistischen Charakters des Werkes hervorhebt, versucht die kanadische Edition die Tatsache zu kaschieren, dass es sich bei Despiniadis’ Buch weniger um eine stringent argumentierende Abhandlung denn um eine Sammlung von Essays handelt, die Kafkas Themen umkreisen. Dies ist Despiniadis nicht vorzuwerfen, denn der Essay ist – wie Adorno schrieb – »von der Disziplin akademischer Unfreiheit« losgerissen.40 Doch hätte der Verlag mit einer sorgfältigeren Lektorierung dafür sorgen können, dass die Redundanzen in der Argumentation weniger augenfällig wären: An manchen Stellen wiederholen sich Formulierungen geradezu wortwörtlich. Nichtsdestotrotz bietet Despiniadis eine zeitgemäße, mit der kritischen »Kafka-Kritik« auf Augenhöhe argumentierende Auseinandersetzung, deren Lesbarkeit und Erkenntnisgewinn weitaus höher ist als die anarchistisch-akademische Vereinnahmung, wie sie jüngst in der Zeitschrift Anarchist Studies zum Ausdruck kam.41 In solchen Texten stirbt die »Kafkaologie« wie ein Hund, als sollte die Scham (die ihr der akademische Schund permanent antut) sie überleben.42 Gegen diese akademische Zurichtung ermöglichen Despiniadis und Kuper einen kritischen Blick auf die Kafka-Welt, der sich der erpressten Versöhnung durch Angestellte der akademischen Wissenindustrie widersetzt.
Bibliografische Angaben:
Costas Despiniadis.
The Anatomist of Power:
Franz Kafka and the Critique of Authority
Montreal: Black Rose Books, 2019.
165 Seiten, 21,99 Dollar (Paperback), 81,99 Dollar (Hardcover).
ISBN: 978–1‑55164–656‑5 (Paperback).
ISBN: 978–1‑55164–658‑9 (Hardcover).
Peter Kuper.
Kafkaesque:
Fourteen Stories
New York: W. W. Norton, 2018.
160 Seiten, 19,95 Dollar.
ISBN: 978–0‑393–63562‑1.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Partisan Review (Mai 1938) | © Partisan Review/Boston University |
Cover Franz Kafka: Biografie seiner Jugend | © Klaus Wagenbach Verlag |
Cover The Anatomist of Power | © Black Rose Books |
Cover Amerika heute und morgen | © S. Fischer Verlag |
Cover Franz Kafka: The Metamorphosis | © Three Rivers Press |
Cover Die Verwandlung | Wikimedia Commons |
Cover In der Strafkolonie | © Klaus Wagenbach Verlag |
Cover »Hochlöblicher Verwaltungsausschuß!«: Amtliche Schriften | © Sammlung Luchterhand |
Cover Franz Kafka: Subversive Dreamer | © University of Michigan Press |
Cover Kafka et les anarchistes | © Éditions Atelier de création libertaire |
Porträt von Franz Kafka | Wikimedia Commons |
© Jörg Auberg 2019
Anmerkungen:
Nachweise
- Franz Kafka, Der Verschollene, (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1994), S. 270 ↩
- Theodor W. Adorno, Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 270 ↩
- Hugh Wilford, The New York Intellectuals: From Vanguard to Institution (Manchester: Manchester University Press, 1995), S. 75, 81; Alan M. Wald, The New York Intellectuals: The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2017), S. 278–279; Leslie A. Fiedler, »The State of American Writing, A Symposium«, Partisan Review, 15:8 (August 1948):872 ↩
- Isaac Rosenfeld, »Kafka and His Critics«, in: Preserving the Hunger: An Isaac Rosenfeld Reader, hg. Mark Shechner (Detroit: Wayne State University Press, 1988), S. 171 ↩
- Rosenfeld, »Kafka and His Critics«, S. 167 ↩
- Harvey Teres, Renewing the Left: Politics, Imagination, and the New York Intellectuals (New York: Oxford University Press, 1996), S. 228 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 176 ↩
- Edmund Wilson, »A Dissenting Opinion on Kafka« (1947), in: Wilson, Literary Essays and Reviews of the 1930s & 40s (New York: Library of America, 2007), S. 776–783 ↩
- Elias Canetti, Prozesse: Über Franz Kafka (München: Hanser, 2019), S. 50 ↩
- Klaus Wagenbach, Franz Kafka: Eine Biographie seiner Jugend, 1883–1912, Neuausgabe (Berlin: Wagenbach, 2006), S. 241 ↩
- Michael Löwy, Franz Kafka: Subversive Dreamer (im französischen Original 2004 erschienen), übers. Inez Hedges (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2016); Löwy, Redemption and Utopia: Jewish Libertarian Thought in Central Europe, übers. Hope Heaney (London: Verso, 2017), S. 71–94; Pascale Casanova, Kafka en colère (Paris: Éditions du Seuil, 2011), S. 129–228 ↩
- Costas Despiniadis, The Anatomist of Power: Franz Kafka and the Critique of Authority, übers. Stelios Kapsomenos (Montréal: Black Rose Books, 2019), S. 15 ↩
- Franz Kafka, Tagebücher, Band 2: 1912–1914, hg. Hans-Gerd Koch (Frankfurt/Main: Fischer, 2008), S. 196 ↩
- Michael Löwy, »Libertarian Anarchism in Amerika«, in: Reading Kafka: Prague, Politics, and the Fin de Siècle, hg. Mark Anderson (New York: Schocken, 1989), S. 127 ↩
- Franz Kafka, Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. Roger Hermes (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1996), S. 96 ↩
- Max Horkheimer, Vorwort zu den Studien über Autorität und Familie (1936), in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 3, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Fischer, 1988), S. 330 ↩
- Franz Kafka, Tagebücher, Band 3: 1914–1923, hg. Hans-Gerd Koch (Frankfurt/Main: Fischer, 2008), S. 56 ↩
- Kafka, Brief an Kurt Wolff, 25.10.1915, in: Franz Kafka, Briefe (Frankfurt/Main: Zweitausendeins, 2005), S. 121 ↩
- Franz Kafka: The Metamorphosis, adaptiert von Peter Kuper (New York: Three Rivers Press, 2003) ↩
- Klaus Wagenbach, »Über Strafkolonien«, in: Franz Kafka, In der Strafkolonie (Berlin: Wagenbach, 2010), S. 69–76 ↩
- Kropotkin war in der anarchistischen Bewegung seiner Zeit, vor allem wegen seiner Position zum Ersten Weltkrieg, nicht unumstritten: Cf. Ruth Kinna, Kropotkin: Reviewing the Classical Anarchist Tradition (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2016); Peter Ryley: »The Manifesto of the Sixteen: Kropotkin’s Rejection of Anti-War Anarchism and his Critique of the Politics of Peace«, in: Anarchism, 1914–18: Internationalism, Anti-Militarism and War, hg. Matthew S. Adams und Ruth Kinna (Manchester: Manchester University Press, 2017), S. 49–68 ↩
- Cf. Franz Kafka, »Hochlöblicher Verwaltungsausschuß!«: Amtliche Schriften, hg. Klaus Hermsdorf (Frankfurt/Main: Luchterhand, 1991); Enzo Traverso, Auschwitz denken: Die Intellektuellen und die Shoah, übers. Helmut Dahmer (Hsmburg: Hamburger Edition, 2000), S. 74 ↩
- Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, übers. Moshe Kahn (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993), S. 123 ↩
- Traverso, Auschwitz denken, S. 75 ↩
- Peter Kuper, »Introduction: Kuperesque«, in: Peter Kuper, Kafkaesque (New York: W. W. Norton, 2018), S. 10 ↩
- Leo Duranona, Kafka: The Execution, https://raggedclaws.com/2011/02/07/look-here-read-kafkas-in-the-penal-colony-adapted-for-comics-by-leo-duranona/ ↩
- Despiniadis, The Anatomist of Power, S. 112 ↩
- Brief an Oskar Pollock, 6. September 1903, in: Kafka, Briefe, S. 16; zur »Maulwurf«-Diskussion: cf. Canetti, Prozesse, S. 350–351 ↩
- Kafka, »Im Bau«, in: Kafka, Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, S. 467 ↩
- Kafka, »Im Bau«, S. 507 ↩
- Kafka, »Ein Kommentar«, in: Kafka, Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, S. 462 ↩
- Peter Kuper, Kafkaesque, S. 61–64 ↩
- Max Brod, Franz Kafka: A Biography (New York: Schocken, 1963), S. 86 ↩
- Wagenbach, Franz Kafka: Eine Biographie seiner Jugend, 1883–1912, S. 162–163, 236–241; Paul Avrich, The Modern School Movement: Anarchism and Education in the United States (1980; rpt. Oakland, CA: AK Press, 2006), S. 146 ↩
- Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka: Aufzeichnungen und Erinnerungen (Frankfurt/Main: Fischer, 1968), S. 136–137; zur anarchistischen Kritik der russischen Revolution cf. Paul Avrich, The Russian Anarchists (Oakland, CA: AK Press, 2005), S. 171–254; und Avrich, Kronstadt 1921 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1991) ↩
- Klaus Hermsdorf, »Arbeit und Amt als Erfahrung und Gestaltung«, in: Kafka, »Hochlöblicher Verwaltungsausschuß!«, S. 21, Fn32 ↩
- Paul Auster, Talking to Strangers: Selected Essays, Prefaces, and Other Writings, 1967–2017 (New York: Picador, 2019), S. 94 ↩
- Egon Günther, »Franz Kafka und der Anarchismus«, Trafik, Nr. 35 (1992), S. 64; erweiterte Fassung als »Kafka und die tschechischen Anarchisten: Dichtung und Wahrheit«, in: Tsveyfl: Dissensorientierte Zeitschrift, Nr. 2 (2018), S. 119–131 ↩
- Despiniadis, The Anatomist of Power, S. 9 ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 13 ↩
- David Tulley, »›To Live Outside the Trial‹: Anarchist Implications in Foucauldian Readings of Franz Kafka’s ›In the Penal Colony‹ and ›The Trial‹«, Anarchist Studies, 26:2 (Herbst 2018), S. 12–31. Tulley spricht von »Kafkas Affinität für die Ideen von Anarchisten« und schwadroniert in akademischer Racket-Manier über die »Mittel der Foucault’schen Analyse«. ↩
- Franz Kafka, Der Proceß (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1994), S. 241 ↩