Ein Dichter am Rande des Nervenzusammenbruchs
Über Paul Austers Roman Unsichtbar
Von Jörg Auberg
Auf dem Cover des Picador-Bandes mit dem Titel Collected Prose, der autobiographische Schriften, Essays und kürzere Texte Paul Austers versammelt, prangt das schwarzweiße Portrait des Autors als 21-jähriger Student der New Yorker Columbia-Universität aus dem Jahre 1968. Es zeigt das Gesicht des jungen Mannes mit einem durchdringenden Blick, das in seiner expressionistischen Stilisierung entfernt an das Erscheinen Conrad Veidts im Film Das Cabinet des Dr. Caligari erinnert. Aus der grobkörnigen Oberfläche tritt ein von einer Aura des Rätselhaften umgebener Jüngling aus dem Dunkel hervor, der sich offenbar selbst bedeutungsschwanger als kommender Dichter vor dem Auge der Kamera inszeniert. Vierzig Jahre nach dieser Aufnahme beschrieb sich Auster im Rückblick auf diese Zeit in einem kurzen Essay für die New York Times sich selbst als ruhigen, buchverliebten jungen Mann, der danach strebte, ein Schriftsteller zu werden.
Zwar war er in die Studentenaktivitäten jener Zeit involviert und nahm an der Besetzung der Columbia-Universität im April 1968 teil, doch war er eher Mitläufer denn Aktivist, und die studentische Revolte fand keinen unmittelbaren Niederschlag in seiner literarischen Produktion, die schon damals begann, auch wenn es lange dauern sollte, ehe er sich als feste Größe im internationalen Literaturbetrieb etablieren konnte. »Ich wollte unbedingt ein Schriftsteller werden«, sagte er in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit im Sommer 2007, »und ich wollte … die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge verstehen. Ich hätte mich im sozialistischen Realismus versuchen können, aber die literarischen Produkte dieser Richtung waren furchtbar. Meine Helden waren damals die Surrealisten, André Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault, Paul Eluard. Die waren hochpolitisch, aber ihre Kunst war es nicht. Sie wollten das Bewusstsein ihrer Zeit verändern und damit die Gesellschaft.« Seine Bücher betrachtet er als politisch, auch wenn häufig der direkte politische Bezug fehlt. In seinem Roman Mond über Manhattan (1989), der im Jahre 1968 spielt, wird der Columbia-Campus zwar als »Schlachtfeld« bezeichnet, doch die politischen Ereignisse spielen für den Protagonisten keine Rolle. »Jeder ist mit der Geschichte jener Zeit vertraut«, lässt der Erzähler verlauten, »und es wäre sinnlos, sie noch einmal durchzugehen.«
Auch in seinem Roman Unsichtbar, der im geschichtsträchtigen Jahr 1967 spielt, fehlen die direkten politischen Implikationen. Zwar ist der Protagonist von den Auswirkungen des Vietnamkrieges indirekt betroffen, doch da er vom Kriegsdienst freigestellt wird, besteht für ihn kein direkter Anlass, sich gegen die Zeitläufte zu erheben. Stattdessen entwirft Auster eine private Geschichte der Verwirrungen vor dem Zeitkolorit des »Summer of Love«. Im Zentrum der Ereignisse steht Adam Walker, »ein ahnungsloser junger Student mit Lust auf Bücher«, der sich zum Dichter berufen fühlt. Auf einer Party lernt er den französischen Gastprofessor Rudolf Born und seine Freundin Margot kennen, die zunächst ihn in seinen Bann und später ins Verhängnis ziehen. In einem Internet-Interview mit der englischen Literaturzeitschrift Granta beschrieb Auster diesen Martini-trinkenden Westentaschen-Mephisto als »Destillat dekadenter Typen«, die zu jener Zeit seinen Weg kreuzten. Born lockt den unbedarften Studenten in sein Spiel, indem er ihm in Aussicht stellt, eine von ihm finanzierte Literaturzeitschrift redigieren zu können, und wenig später offeriert er Adam seine Freundin, deren Blicke Adam als »vage erotisch« registriert. Ohnehin werden die Figuren vor allem als Bilder wahrgenommen: In den Augen Borns ist Adam ein »Lord Byron am Rand des Nervenzusammenbruchs«, während Born für Walker ein Allerweltsgesicht ist, »das in der Menge unsichtbar bliebe«.
In der Folgezeit entspannt sich eine kurze, aber heftige sexuelle Affäre, die Adams »Lust auf Bücher« in eine unbändige Lust auf Sex verwandelt. »Sex ist der Herr und Heiland«, konstatiert Walker für sich, »die einzige Erlösung auf Erden.« Als jedoch Walker hilflos mitansehen muss, wie Born bei einem Straßenüberfall den schwarzen Angreifer eiskalt mit einem Springmesser tötet und nach Frankreich flüchtet, endet seine Selbstgewissheit. Weder Born noch sich selbst kann der »schuldlos Schuldige« verzeihen, und der kurze, jäh über ihn hereingebrochene Moment wird zum Trauma seines Lebens. Als er bei einem Aufenthalt in Paris als Teilnehmer eines Austauschprogramms Born wiedertrifft, versucht er Rache zu nehmen, indem er gegen die Heiratspläne Borns mit der Wahrheit der New Yorker Ereignisse zu intrigieren versucht, doch wird er selbst erneut das Opfer Borns, der offenbar seine geheimdienstlichen Verbindungen spielen lässt, um Walker ein Drogenpaket unterzuschieben und ihn des Landes verweisen zu lassen. Von der Begegnung mit Born ist Walker für das Leben gezeichnet, und nach einer kurzen Karriere als erfolgloser Dichter entscheidet er sich, seiner Existenz eine gänzlich neue Richtung zu geben und engagiert sich nach einem Jurastudium als Anwalt »für die Verachteten und die Unsichtbaren« der amerikanischen Gesellschaft.
Im Gegensatz zu Mond über Manhattan erzählt Auster die Ereignisse in Unsichtbar nicht in einer geradlinigen, eindimensionalen Form, sondern nutzt eine mehrschichtige Textarchitektur, in der er sein dominantes Thema – die Repräsentation von Erinnerung, Trauma, Einsamkeit und Kreativität – neu durchspielt. Der einleitende Text Adam Walkers erweist sich als erster Teil eines Erinnerungsprojekts, das Walker im Endstadium seiner Leukämie in Angriff genommen hat und der ablaufenden Zeit abringen will. Als ihn jedoch eine Schreibblockade am Weiterschreiben hindert, wendet er sich im Sommer 2007 an seinen ehemaligen Kommilitonen James Freeman, der mittlerweile ein renommierter Romancier ist, und bittet ihn um professionelle Hilfe. Um das Unsagbare aufschreiben zu können, nimmt er Freemans Rat an und schreibt den mit »Sommer« betitelten zweiten Teil in der distanzierten zweiten Person Singular, in dem er von der inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester Gwyn und ihrem gemeinsamen Trauma ihrer Kindheit – dem Ertrinkungstod ihres jüngeren Bruders Andy in einem See – berichtet.
Während Walker zum Unsichtbaren wird, bleibt nur sein Text als Summe seiner Existenz. »Was Adam da schreibt, ist reine Erfindung«, behauptet Gwyn und bestreitet die inzestuöse Beziehung. »Das sind die Phantasien eines Sterbenden, ein Traum; er hat sich gewünscht, dass es so war, aber so war es nicht.« Trotz allem will sie den Text nicht unterdrücken und stiftet Freeman an, »etwas Publizierbares daraus zu machen«, indem die Namen der Personen und Orte umbenannt werden. Der Nachlassverwalter wird zum Fälscher, der um den Preis der Veröffentlichung den Originaltext zur Unkenntlichkeit umarbeitet und manipuliert, Leerstellen, die der sterbende Autor beim Anschreiben gegen die tödliche Krankheit nicht mehr füllen konnte, mit seinen Worten bestückt. Mit dieser Praxis beschreibt Auster die eigene Arbeitsmethode als Autor, der einerseits später Erbe einer sperrigen Moderne ist und ein Faible für die sprachkritische Avantgarde des vorigen Jahrhunderts hat, andererseits die Sperrigkeit von Erinnerung, Trauma, Einsamkeit und Kreativität mit seiner Fähigkeit als eloquenter Geschichtenerzähler übertüncht. Unterliegen die brüchigen Sprachgebilde eines Samuel Beckett einer konsequenten Logik des Zerfalls, füllt der Beckett-Herausgeber Auster die entstehenden Lücken und Leerstellen mit Worten, um die Realität nicht in einem weißen Rechteck verschwinden zu lassen, wobei ihm der Vorwurf der Gefälligkeit nicht zu ersparen ist.
Zugleich ist bei Auster stets das Bewusstsein des Scheiterns präsent, das jedoch letztlich den Erfolg des »eau d’Auster« ausmacht: Es schmeckt zuweilen bitter, verursacht aber dennoch nach dem Genuss einen wohligen Geschmack. Der literarische Nachlassverwalter Freeman – wie in früheren Romanen ein Doppelgänger des gescheiterten Autors – kann das »Rätsel« Walker nicht lösen – zu vieles bleibt zweifelhaft, und die objektive Wahrheit bleibt verborgen. Doch fatalistisch nimmt Freeman das Scheitern in Kauf. Der Wahrheit kann er sich nach seinem Verständnis nur annähern, sie aber niemals absolut verstehen. Am Ende erscheint die Realität als eine mit steinähnlichen Worten übersäte Landschaft, die zur Interpretation einlädt, sich einer Deutung aber gleichzeitig verschließt. Das Resultat ist ein »aufpolierter« Text, dem nicht zu trauen ist. Trotz allem ist er das noch das Beste, was aus dem Scheitern, das jedem Schreibprozess innewohnt, zu retten ist, auch wenn ihm der Ruch des Betruges anhaftet.
Darüber hinaus begnügt sich Auster seit 2004 nicht allein mit der Rolle des Autors, sondern fühlt sich in einer Strategie des Crossmedia-Publishings auch dazu berufen, seine Romane im Audio-Format vorzulegen, wobei sich jedoch herausstellt, dass ein Autor selten auch ein guter Interpret seiner Werke ist. Zwar verfügt Austers Stimme über ein angenehmes Timbre, doch wirkt nicht nur das leichte Lispeln störend, sondern auch die mangelnde Fähigkeit des Autors, über das bloße Vorlesen des Buches hinauszugehen und dem Text eine zusätzliche Dimension über die Interpretation zu geben. Auf der anderen Seite liefern professionelle Vortragskünstler nicht immer bessere Leistungen ab. So ruinierte etwa der Schauspieler Jan Josef Liefers durch seine eindimensionale Vorstellung den Roman Nacht des Orakels, da er zur Nuancierung kaum fähig war: Er lieferte immer nur den immergleichen »Liefers-Sound«. Dagegen operiert Burghart Klaußner, der bereits 2007 mit der Interpretation von Harry Mulischs Roman Das Attentat glänzte, bei seiner Lesung des Romans Unsichtbar auf einem für diesen Schauspieler typischen hohen Niveau, auch wenn er bei der Intonation der Rolle des Rudolf Born zuweilen stimmlich ins Chargieren abgleitet. Zudem ist zu bemängeln, dass die missratene Orthographie des Abschiedssatzes des ertrinkenden Bruders Andy »Liebe Mom ich bin im Seh Grüse Andy« (im Original: »Deere Mom Ime in the lake Lov Andy«) im Hörbuch untergeht, was jedoch dem Vorleser Klaußner nicht anzulasten ist. Zum anderen wird in dem vom Rundfunk Berlin-Brandenburg produzierten Hörbuch der Text Austers unkenntlich verkürzt, etwa um die Passage, in der Walker die inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester in obszönen Termini des »Dirty Talk« beschreibt, was den öffentlich-rechtlich Verantwortlichen vielleicht zu drastisch erschien. Vor allem aber ist dieser Produktion anzukreiden, dass das Hörbuch in starre Tracks eingeteilt ist, die keinen Sprung zu bestimmten Kapiteln ermöglichen. Ohnehin ist die Ausstattung etwas ärmlich, da die Herausgeber auf die Zugabe eines Booklets gänzlich verzichteten.
Zuerst erschienen in satt.org, September 2010
© Jörg Auberg 2010/2020
Bibliografische Angaben:
Paul Auster.
Unsichtbar.
Übersetzt von Werner Schmitz.
Reinbek: Rowohlt, 2010.
320 Seiten, € 19,95.
ISBN: 978–3‑498–00081‑3
Paul Auster.
Unsichtbar.
Übersetzt von Werner Schmitz.
Gelesen von Burghart Klaußner.
Berlin: Der Audio-Verlag, 2010.
6 CDs, Laufzeit ca. 440 Minuten, € 24,99.
ISBN: 978–3‑89813–966‑3
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Collected Prose | © Picador |
Foto Conrad Veidt | © Archiv Jörg Auberg |
Cover Invisible | © Henry Holt |
Cover Unsichtbar (Roman) | © Rowohlt |
Cover Unsichtbar (Audiobook) | © RBB/DAV |
Fotos Paul-Auster-Bücher | © Archiv Jörg Auberg |