Endstation Wahnsinn
Ulrich Alexander Boschwitz’ Roman über die hoffnungslose Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland
von Jörg Auberg
»›Du Jude!‹ zählt zu den gängigsten Beleidigungen auf deutschen Schulhöfen«1, konstatierte die Amadeu Antonio Stiftung in einer Pressemitteilung zu ihren »Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus rund um den 9. November« im Jahre 2019. In dem vor einigen Jahren wiederentdeckten Roman Der Reisende von Ulrich Alexander Boschwitz, der die odysseehafte Flucht des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann kurz nach den Ereignissen der »Reichspogromnacht« im November 1938 beklemmend beschreibt, bezeichnet sich der Erzähler selbst als »Schimpfwort auf zwei Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es ein Schimpfwort ist«.2 Silbermann, ein Veteran des Ersten Weltkrieges, ist äußerlich als »Jude« nicht erkennbar und lebt, »als wäre ich kein Jude«, wie er von sich selbst sagt. Auch in den Augen seines Geschäftspartners Gustav Becker, eines nationalsozialistischen Parteimitglieds, ist er kein »richtiger Jude«, sondern ein »vertauschter Arier«.3
Anschaulich beschreibt Boschwitz in vielen Situationen die »Klassifikation« von Menschen im nationalsozialistischen Staatsapparat als »Juden«, um sie nach erfolgreicher Assimilation zu isolieren und für die Verfolgung zu markieren. »Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt gewissermaßen erst erfinden«4, heißt es in der Dialektik der Aufklärung. In der Pogromnacht stürmen SA-Truppen Silbermanns Wohnung mit dem Ruf »Aufmachen, Jude« und verprügeln einen arischen »Geschäftspartner« Silbermanns, den sie für »den Juden« halten. Auf seiner Irrfahrt mit der Deutschen Reichsbahn durch Deutschland – Berlin, Hamburg, Aachen, Küsterin und Dresden sind seine Stationen – trifft er immer wieder auf Leidensgenossen, die äußerlich dem rassistischen Klischee zu entsprechen scheinen und ihn selbst in Gefahr bringen könnten. Fritz Stein, ein alter jüdischer Geschäftsfreund, den Silbermann auf seiner Flucht zufällig trifft, bezeichnet sich selbst als »Pestkranken«, der von anderen aus Furcht gemieden wird, weil er sie mit seiner »jüdischen Nase« anstecken könnte.5 Silbermann agiert als Einzelgänger: »Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich«, resümiert er, »[…] jetzt bin ich allein – im Feindesland.« 6
Mit einem Restgeld von 44.500 Reichsmark, das er seinem »arischen« Geschäftspartner Becker »abluchst«, begibt er sich auf eine Flucht, die ihn am Ende ins Irrenhaus führt. Mit seinem von Verfolgung und Egoismus zerrissenen, keineswegs durchgängig sympathischen Protagonisten antizipiert Boschwitz den »non-heroic hero« des frühen film noir, wie ihn Robert Porforio ihn später in seinem wegweisenden Essay »No Way Out«7 beschrieb. Silbermann ist existenzialistisch gezeichnet durch Entfremdung und Einsamkeit, ein Mensch unter Todesstrafe, der in einer Welt des Chaos, der Gewalt und der Paranoia sein Leben und seine Würde zu retten versucht, wobei jeder Schritt in jede Richtung ihn mehr in den Abgrund und schließlich ans Ende führt. Ähnlich wie der Flüchtende in Edgar G. Ulmers Film Detour (1945) in einem »Strudel von Hoffnungslosigkeit«8 versinkt, verliert sich Silbermanns Hoffnung auf Entkommen in endlosen Bahnfahrten.
Während sein Leben auf dem Spiel steht, ärgert er sich darüber, beim Aussteigen einen zuvor am Bahnhofskiosk gekauften Kriminalroman im Abteil vergessen zu haben, obgleich er sich wenig später nicht einmal an den Romantitel erinnert. Dennoch: »Der Verlust regte ihn auf.«9 auch der Versuch eines Grenzübertritts nach Luxemburg wird zum Desaster. »Das Schattendasein ist zu Ende, dachte er. Jetzt werde ich wieder ein Mensch!«10 doch scheitert der Grenzübertritt kläglich: Von den Grenzbeamten wird er zurückgeschickt, und weiter geht die Reise durch das deutsche Gefängnis mit der Deutschen Reichsbahn. »Oh ich werde noch blödsinnig, fürchtete er. So marterte ihn das monotone Singen der Räder.«11 Als im Zug seine Aktentasche mit dem Geld verschwindet, die für den Flüchtigen eine Lebensversicherung darzustellen scheint, bricht Silbermanns Lebensfassade zusammen. »Die Vernunft will von mir Selbstmord. Ich aber will leben! Ich will trotz allem leben! Dazu braucht man all seinen Verstand, doch der reicht nicht aus, er richtet sich gegen mich selbst.«12 Silbermann wird ins Irrenhaus verfrachtet, wo ihm die Insassen permanent ins Gesicht schreien: »Juden raus«.13. Doch für Silbermann, der lebte, als wäre er kein Jude, gibt es kein Entrinnen: Mit den Verrückten muss er seine letzte Lebenszeit verbringen.
Auf seiner Odyssee durch das faschistische Deutschland versucht sich Silbermann mit dem Hinweis zu beruhigen, dass nicht alles so schlimm sei: Der Nationalsozialist Findler, der ihm seine Wohnung für einen Spottpreis abhandelt, sei »ein anständiger Kerl, trotz allem«14. Am Ende sind die »Freunde« (wie Silbermann sie bezeichnet) in erster Linie Profiteure. Hämisch rechnen sie den Opfern vor: »Nun habt ihr Pech, und nun verdienen wir.«15 Bereits in den Jahren 1932–33 waren Juden der Hauptgegner der »braunen Pest«, wie Daniel Guérin in seinem zeitgenössischen Bericht La peste brune schrieb.16 Silbermann versteht in seiner bürgerlichen Verblendung nicht die Zeichen der Zeit und spielt noch im Zug mit uniformierten, »zivilisiert« auftretenden Repräsentanten der nazistischen Gewaltherrschaft Schach: »Das war unbedingt ein Mensch, trotz seines Parteiabzeichens.«17 Für Klaus Mann war diese Haltung die Verhöhnung der eigenen Existenz: »Niemand versteht die apokalyptischen Zeichen«, schrieb er in seinem »Lebensbericht« Der Wendepunkt; »der Kontinent amüsiert sich über die eigen Tragödie, man lacht sich buchstäblich zu Tode.«18
Im Gegensatz zu seinem Protagonisten Silbermann hatte Boschwitz beizeiten das nationalsozialistische Reich verlassen, war 1935 nach Norwegen und später nach Luxemburg emigriert, wo er in nur wenigen Wochen das Manuskript des Reisenden nach dem November 1938 verfasste, ehe er nach England übersiedelte. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der deutsche Flüchtling als »enemy alien« zeitweilig interniert und schließlich nach Australien verschifft. 1942 wurde ihm die Rückkehr nach England erlaubt. Bei der Rückfahrt wurde der Passagierdampfer M. V. Abasso von einem deutschen U‑Boot torpediert, und Boschwitz starb mit allen übrigen Passagieren.
Mehr als acht Jahrzehnte später, nachdem der Literaturwissenschaftler Peter Graf das Originaltyposkript im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main entdeckt hatte, wurde dieses außerordentliche Buch in England zu einem Bestseller.19 An manchen Stellen scheitert die englische Übertragung an der Übersetzbarkeit des Deutschen. »Die Krafträuschker enden noch immer in der Mehrzahl der Fälle in der Kaltwasserheilanstalt, die Hochstapler im Zuchthaus und die anständigen oder vernünftigen Menschen …«20, sagt Silbermann etwas verklausuliert zu einer Mitreisenden im Zug. In der englischen Fassung liest sich die Passage wie folgt: »Addicts usually end up in the sanatorium, swindlers in jail, while respectable or reasonable people …«21 Dies mag daran liegen, dass der Begriff »Krafträuschker« weder im Grimm’schen Wörterbuch noch im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache enthalten ist. Allerdings besticht die englische Ausgabe durch ein erhellendes biografisches Vorwort von André Aciman und vor allem durch eine herausragende Cover-Gestaltung des vielfach prämierten spanischen Künstlers Riki Blanco. In jedem Fall ist Boschwitz’ Roman »ein wichtiges literarisches Testament aus einem dunklen Kapitel in der menschlichen Geschichte«22, wie der Herausgeber Peter Graf schreibt. In Zeiten immerwährender »Flüchtlingsströme« umgibt ihn die beeindruckende tragische Aura einer perpetuierten Aktualität und Zeitlosigkeit.
© Jörg Auberg 2021
Bibliografische Angaben:
Ulrich Alexander Boschwitz.
The Passenger.
Übersetzt von Philip Boehm.
Vorwort von André Aciman.
Nachwort von Peter Graf.
London: Pushkin Press, 2021.
256 Seiten, £ 14,99.
ISBN: 9781782275381.
Ulrich Alexander Boschwitz.
Der Reisende.
Herausgegeben von Peter Graf.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2020 (8. Auflage).
303 Seiten, 9,95 Euro.
ISBN: 978–3‑608–98154‑4.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Der Reisende |
© Klett-Cotta |
Cover The Passenger |
© Pushkin Press/Riki Blanco |
Nachweise
- Amadeu Antonio Stiftung, Pressemitteilung »Du Jude« darf keine Beleidigung sein: Bundesweite Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus rund um den 9. November, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/pressemitteilungen/du-jude-darf-keine-beleidigung-sein-bundesweite-bildungs-und-aktionswochen-gegen-antisemitismus-rund-um-den-9-november/ ↩
- Ulrich Alexander Boschwitz, Der Reisende, hg. Peter Graf (Stuttgart: Klett-Cotta, 2018), S. 14 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 14, 11 ↩
- Max Horkheimer und Theodor Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 237 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 47 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 35 ↩
- Robert Porforio, »No Way Out: Existential Motifs in the Film Noir« (1976), rpt. in: Film Noir: A Reader, hg. Alain Silver und James Ursini (New York: Limelight, 1996), S. 77–93 ↩
- Film Noir, hg. Paul Duncan und Jürgen Müller (Köln: Taschen, 2017), S. 332 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 112 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 193 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 200 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 289 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 291, 292 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 33 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 84 ↩
- Daniel Guérin, Sur le fascisme (Paris: La Découverte, 2001), S. 88–91; Guérin, The Brown Plague: Travels in Late Weimar and Early Nazi Germany, hg. und übers. Robert Schwartzwald (Durham, NC: Duke University Press, 1994), S. 109–113 ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 65 ↩
- Klaus Mann, Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht (Reinbek: Rowohlt, 2006), S. 382 ↩
- BBC News, »The Passenger: Lost German novel makes UK bestseller list 83 years on«, https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-57141856, 17. Mai 2021; Jonathan Freedland, »The Passenger by Ulrich Alexander Boschwitz review – on the run in Nazi Germany«, The Guardian, 7. April 2021, https://www.theguardian.com/books/2021/apr/07/the-passenger-by-ulrich-alexander-boschwitz-review-on-the-run-in-nazi-germany ↩
- Boschwitz, Der Reisende, S. 224 ↩
- Ulrich Alexander Boschwitz, The Passenger, übers. Philip Boehm (London: Pushkin Press, 2021), S. 193 ↩
- Peter Graf, »Nachwort«, in: Boschwitz, The Passenger, S. 266 ↩