Gustave oder Die Tiefe der Idioten
Literatur und Neurose bei Gustave Flaubert
von Jörg Auberg
Schon früh sah sich Gustave Flaubert als Genie, empfahl aber bei der Nennung dieses Begriffs, den Seufzer »Das Genie ist eine Neurose!« hinzuzufügen.1 Anfangs hatte der heranwachsende Großschriftsteller – der sich als »Abenteurer des Geistes«, »Konquistador der Kunst« oder schlicht als »ein Bürger, der auf dem Land lebt und sich mit der Literatur beschäftigt«, bezeichnete – Schwierigkeiten mit der ersten großen Probe – dem »Erlernen der Wörter« (wie Jean-Paul Sartre in seiner großen, unvollendet gebliebenen Studie Der Idiot der Familie schrieb).2 Flaubert mäanderte zwischen Genialität und Idiotie, Hochmut und Mittelmaß. »Dieser Mann wollte nur schreiben«3, scheiterte zunächst aber am Verwenden der Materialien (der Wörter), verlor sich wie ein Autist in der »Tiefe der Idioten«, die zum verzerrten Refugium »seiner erhabenen Geistesabwesenheiten« wurde.4 Flaubert bewegte sich stets am »Rande der Krankheit«, eine Krankheit, die trotz aller Schäden durch die Neurose die Freiheit zum Schreiben, die »Muße« zur Kreativität sicherte, »und niemand zweifelt daran«. 5 Später schrieb er an seine umschwärmte Jugendliebe Élisa Schlesinger (die das Vorbild für Madame Arnoux in L’Éducation sentimentale darstellte): »Ich werde also mein armes, so bedeutungsloses und stilles Leben wieder aufnehmen, wo die Sätze die Abenteuer sind und wo ich keine anderen Blumen pflücke als Metaphern.«6
Dieser Brief aus dem Januar 1857 ist in der von Cornelia Hasting zusammengestellten und übersetzten Auswahl der Flaubert-Korrespondenz (die in der Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade fünf Bände füllt) zwischen den Jahren 1832 und 1880 enthalten. In seinen Briefen präsentiert sich Flaubert als bürgerlicher Privatier, der sich über die verlorene Zeit an der Universität erregt, im Sozialismus den Tod jeder Kunst und Moral heraufziehen sieht, in der Einsamkeit in Rouen besser fühlt als in der pulsierenden Metropole Paris, sich vor dem Versinken in Dummheit und Schwachsinn graut. In erster Linie zeichnet er sich als im Abseits lebender »Büchermensch«, der am »sicheren Ort« vor dem Eindringen der Ignoranz gefeit ist. »Mein Ich zerstreut sich so sehr in den Büchern, dass ich den ganz Tage verbringe, ohne es zu spüren« 7, schrieb er 1872 an George Sand.
»Flaubert ist von dem Beiwerk auf Kosten der Hauptsache berauscht gewesen«8, konstatierte Paul Valéry. Dieses Urteil betrifft vor allem das unvollendete Projekt Bouvard et Pécuchet, das Flaubert in seinen Briefen als »ein Werk von großem Kaliber« oder als »Schmöker« ankündigt: »In was für einen Abgrund (Wespennest oder Latrine) habe ich mich da begeben!«, schrieb er 1877 an Iwan Turgenjew. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«9 Für Flaubert zählte nur: »an die Kunst selbst denken und an die individuelle Vervollkommunung« 10, und daraus bezog der ewige bürgerliche Soldat der künstlerischen Mobilmachung die Tageslosung: »Weiterschreiben«. Für die nicht-künstlerischen Eskapaden seines »Schülers« Guy de Maupassant hatte er daher kein Verständnis: »Er schrieb mir kürzlich, dass er es in 3 Tagen 19-mal getrieben hat!«, erboste er sich und befürchtete, dass Maupassant sich in Sperma auflösen werde. »Sie leben in einer Hölle von Scheiße […]«, schalt er ihn 1878. Doch vier Tage vor seinem Tod am 8. Mai 1880, als er an den Folgen eines Schlaganfalls im Alter von 58 Jahren starb, schrieb er trotz allem noch an Maupassant: »Derweilen umarmt dich DEIN ALTER.«11
Im Schreiben lebte der genialische Nerd12 seine Neurosen in sexuellen Ersatzbefriedigungen aus. »Das weibliche Wesen hat nie in mein Dasein gepasst«, schrieb er 1872 an George Sand. Andererseits bekannte er 1859 gegenüber Ernest Feydeau: »Das Tintenfass ist die wahre Vagina für Literaten«.13 Dass nie ein weibliches Wesen in sein Dasein gepasst hätte, widerlegt die zu seinen Lebzeiten unveröffentlichte Erzählung Memoiren eines Irren, die Flaubert im Alter von fünfzehn Jahren schrieb und nun in einer Neuübersetzung Elisabeth Edls in der Reihe Hanser Klassiker vorliegt. Sie beruht auf Ereignissen des Sommers 1836, als sich die Familie Flaubert in Trouvaille aufhielt, in dessen Verlauf sich der fünfzehnjährige Gustave in die sechsundzwanzigjährige Offiziersfrau Élisa Schésinger verliebte. In einer früheren Übersetzung wies Traugott König auf den Charakter des Jugendwerkes, die »romantische Schwülstigkeit«, die »stilistischen Unsicherheit«, den »Wortfetischismus« und die »Wortmagie« des Textes hin.14 für Sartre war er »ein intimer Roman, der in Autobiographie umschlägt«, in dem sich der junge Gustave Flaubert zum Märtyrer stilisiert: »er ist ein passives Opfer, ein Wesen von unten, das der fortschreitenden Zerstörung durch die Kräfte des Bösen ausgeliefert ist«.15
Edl und Wolfgang Matz (der ein ausführliches Nachwort beisteuert) wollen jedoch primär Flaubert als Klassiker im Marmor-Look für die Nachwelt musealisieren: So entstand eine aufgeblähte Ausgabe mit Briefen, Nachwort, Zeittafel und Anmerkungen, die als Addendum für Edls Interpretation von L’Éducation sentimentale dient, die unter dem Titel Lehrjahre der Männlichkeit erschien. Während Hasting, die selbst eine Übersetzung des Romans unter dem Titel Die Erziehung der Gefühle (erstmals 2000 bei Haffmanns erschienen) vorlegte, sich in ihren Annotationen auf das für das Verständnis Notwendige beschränkt, gerieren sich Edl & Matz wie zwei Flaubert-Nerds, die mit prätentiöser Gelehrsamkeit aufzutrumpfen versuchen. Nach einem früheren Urteil fand Julian Barnes L’Éducation sentimentale hundert Seiten zu lang, revidierte es aber inzwischen.16 Zumindest ist der aufgedunsene Annotationsapparat um viele Seiten zu lang. Vorzuziehen ist noch immer die alte Insel-Ausgabe mit dem Essay Erich Köhlers, in dem sich der schöne Satz findet: »Die Zeit ist die Komplizin der Entfremdung und beläßt als Trost nur die Erinnerung an die Illusionen der Jugend.«17
Der junge Gustave, dem das »Erlernen der Wörter« Probleme bereitete, verlor sich in der verzehrenden, zerrüttenden Passion, in der Idolatrie der Bücher. In der neurotischen Imagination machte ihn die Bibliothek zum König, der aber der »Tödlichkeit des Buchstabens« verfiel. Mit dem frühen Text Bibliomanie (auch unter dem Titel Bücherwahn18 bekannt) überschreitet Flaubert die Grenzen des Marktes und des liberalen Kapitalismus, trotz seines Bekenntnisses, ein »leidenschaftlicher Liberaler« zu sein. Zu keinem Zeitpunkt ist er gezwungen, sich den »Wettbewerbsantagonismen« auszusetzen, katapultiert sich aus der kapitalistischen Zirkulation und bleibt der Stasis des ewig Sesshaften oder des Insassen des bürgerlichen Gefängnisses verhaftet.19 Die Tinte (in Flauberts Diktion das Sperma des Literaten) wird zum Gifttrunk, der alles beendet. »Noch die sterbende Emma Bovary«, schreibt Barbara Vinken im Nachwort zur Neuausgabe von Bibliomanie, »erbricht die bittere Druckerschwärze der toten Buchstaben, die sie vergifetet haben.«20 Der Tod ist schwarz.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Gustave Flaubert.
»Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«:
Ausgewählte Briefe 1832–1880.
Zusammengestellt und übersetzt von Cornelia Hasting.
Mit einem Nachwort von Rainer Moritz.
Zürich: Dörlemann Verlag, 2021.
320 Seiten, 28 Euro.
ISBN: 978–3‑038–20095‑6.
Gustave Flaubert.
Memoiren eines Irren.
Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl.
Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz.
München: Hanser Verlag, 2021.
240 Seiten, 28 Euro.
ISBN: 978–3‑446–26845‑6.
Gustave Flaubert.
Lehrjahre der Männlichkeit: Geschichte einer Jugend.
Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl.
München: Hanser Verlag, 2020.
800 Seiten, 42 Euro.
ISBN: 978–3‑446–26769‑5.
Gustave Flaubert.
Bibliomanie.
Übersetzt von Erwin Rieger.
Illustriert von Burkhard Neie.
Mit einem Nachwort von Barbara Vinken.
Berlin: Insel Verlag, 2021.
68 Seiten, 8 Euro.
ISBN: 978–3‑458–20529‑6.
Bildquellen (Copyrights) |
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Zeichnung Gustave Flaubert als Kind (E.-H. Langlois) |
© Public domain, via Wikimedia Commons |
Cover Ausgewählte Briefe 1832–1880 |
© Dörlemann Verlag |
Cover Memoiren eines Irren |
© Hanser Verlag |
Cover Lehrjahre der Männlichkeit |
© Hanser Verlag |
Cover Bibliomanie |
© Insel Verlag |
Nachweise
- Gustave Flaubert, Wörterbuch der gemeinen Phrasen, hg. und übers. Hans-Horst Henschen (Göttingen: Wallstein, 2017), S. 38 ↩
- Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. I, herausgegeben und übersetzt von Traugott König (Reinbek: Rowohlt, 1986), S. 578, 11 ↩
- Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. IV, S. 15 ↩
- Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. II, S. 576 ↩
- Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. II, S. 577; Bd. IV, S. 21, 15 ↩
- Gustave Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«: Ausgewählte Briefe 1832–1880, hg. und übers. Cornelia Hasting (Zürich: Dörlemann Verlag, 2021), S. 90 ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 184 ↩
- Paul Valéry, Werke: Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Bd. 3, hg. Jürgen Schmidt-Radefeldt, übers. Hella Tiedemann (Berlin: Suhrkamp, 2021), S. 238 ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 185, 218 ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 241 ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 219, 223, 262 ↩
- Peter Brooks beschreibt Bouvard und Pécuchet treffend als Nerds im 19. Jahrhundert: cf. Peter Brooks, Henry James Goes to Paris (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2007), S. 102 ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 185; Flaubert, zitiert in: Julian Barnes, Something to Declare: Essays on France and French Culture (New York: Vintage, 2003), S. 191 ↩
- Traugott König, Nachwort zu: Gustave Flaubert, Memoiren eines Irren (Zürich: Diogenes, 1982, rpt. 2005), S. 291, 292 ↩
- Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. II, S. 591 ↩
- Julian Barnes, »Flaubert at Two Hundred«, London Review of Books 43, Nr. 24 (16. Dezember 2021) ↩
- Erich Köhler, Nachwort zu: Flaubert, Lehrjahre des Gefühls: Geschichte eines jungen Mannes, übers. Paul Wiegler (Frankfurt/Main: Insel, 1977), S. 509 ↩
- Cf. Nodier – Flaubert – Asselineau, Bücherwahn: Drei Erzählungen, hg. Hans Marquardt (Berlin/DDR: Buchverlag der Morgen, 1976) ↩
- Flaubert, »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«, S. 98; Sartre, Der Idiot der Familie, Bd. II, S.520 ↩
- Barbara Vinken, Nachwort zu: Gustave Flaubert, Bibliomanie (Berlin: Insel Verlag, 2021), S. 65 ↩