Zauber und Spuk
Über Michael Köhlmeiers Erzählung »Umblättern und Andere Obsessionen«
Von Jörg Auberg
»Kreß hatte sich unter dem Dach mit ein paar hundert Büchern eingenistet.«
Anna Seghers, Das siebte Kreuz1
Meine Mutter glaubte, Bücher könnten Menschen besser machen«2, schreibt Michael Köhlmeier in seinem Erzählband Umblättern und andere Obsessionen, der jüngst exklusiv in bibliophiler Aufmachung bei der Buchhandlungskooperative Edition 5Plus erschien (zu der die Buchhandlungen Klaus Bittner in Köln, Felix Jud in Hamburg, Dombrowsky in Regensburg, Lehmkuhl in München, Schleicher in Berlin, zum Wetzstein in Freiburg, Leporello in Wien und Librium in Baden/Schweiz gehören). In seiner Erzählung leuchtet Köhlmeier in verschiedenen (scheinbar autobiographischen und historischen) Episoden Aspekte der Bibliophilie und Bibliomanie aus. Der Autor selbst offenbart sich als »Slow Reader«, der sich die Buchstaben und somit die Bücher langsam ertastete und zu einem sinnlichen Erfahren der »Bücherwelt« gelangte, während seine Schwestern Bücher als bloße Objekte einer zielgerichteten Lektüre wahrnahmen, die sie schnell und gierig verschlangen, ehrfurchtlos mit Marmeladenfingern oder roher Gewalt beschädigten und vergaßen, sobald sie sie konsumiert hatten. Der Erzähler dagegen entwickelt schon frühzeitig ein fetischistisches Verhältnis zu Büchern, die ihm zum kultischen Objekt werden. Auf den Inhalt kommt es zunächst an nicht an, denn den Inhalt kann er aufgrund fehlender Lesefähigkeiten vorerst nicht entschlüsseln. Dennoch insistiert er darauf, die seltsamen und rätselhaften Objekt für sich in Beschlag zu nehmen. »Irgendwann bestand ich darauf, einen Band mit ins Bett zu nehmen, jede Nacht einen anderen.«3
Der illiterate Erzähler wird zum Bibliomanen, der Bücher besitzen, sie in sein Eigentum überführen will, wobei es auf den Inhalt nicht ankommt. Allein die äußere Erscheinung bestimmt den Wert des Objekts. Als Inbegriff des Bibliomanen erscheint der Pfarrer Johann Georg Tinius (1764–1846), dessen Geschichte der Vater des Erzählers beisteuert. Dieser Theologe soll zur Finanzierung seiner »Sammelsucht« nicht allein Kirchengelder unterschlagen, sondern auch zwei Morde begangen haben, die ihm zwölf Jahre Zuchthaus einbrachten, obgleich er Zeit seines Lebens seine Unschuld beteuerte. Aus seiner mehr als fünfzigtausend Bände umfassenden Bibliothek, die nach seiner Verurteilung zum Verkauf angeboten wurde, soll selbst Goethe einige Bände ersteigert haben.4 An dieser historischen Figur und der »Sucht nach Büchern« entwickelt der Erzähler – in Bezug auf E. T. A. Hoffmanns Novellensammlung Die Serapionsbrüder und die romantische »Sucht« – eine fragwürdige Theorie der Sucht. »Die Sucht verweist immer auf sich selbst«, resümiert der selbstgefällige Erzähler, »sie ist der Inbegriff der Immanenz.«5
Die bürgerliche Bibliomanie, wie sie der Erzähler und seine unmittelbare »Bezugsgruppe« ausleben, beschränkt sich dagegen auf die Kleinkriminalität des kulturseligen Kleinbürgers. Während eines Festes bei einem Bekannten drängt der Vater den Erzähler – der zu jener Zeit ein zehnjähriger Junge ist – in die Bibliothek des Gastgebers, um einen bibliophilen Band Mallarmés zu stehlen, griff aber schließlich in der Aufregung einen anderen Band heraus, der ein halbes Jahr später der Mutter als Geburtstagsgeschenk überreicht wird: »ein bibliophiles Meisterstück, mit der Hand auf eigens geschöpftes Zanders-Handbütten in einhundertfünfzig Exemplaren gedruckt und mit der Hand gebunden.6 Dass es sich bei diesem Geschenk um Friedrich Schlegels »Gespräch über die Poesie« handelt, ist von beiläufigem Interesse.
Auch später versucht sich der Erzähler als Gelegenheitsdieb, wobei die kriminellen Unternehmungen als Kavaliersdelikte eines kulturbeflissenen Bücherfreundes erscheinen. »Wir unternahmen Tagesausflüge in die umliegenden Städte, um Buchhandlungen aufzusuchen und Bücher zu stehlen.«7 Stets ist der Erzähler nur ein Mitläufer, ein Krimineller, der aus vorgeblicher Liebe zum Buch zunächst zum Dieb wird, aber auch später nicht gegen die Vernichtung des erbeuteten Buches einschreitet. Ohne dass der vorgebliche Bücherfreund den geringsten Widerstand leistet, kann sein Kompagnon, mit dem er die Bücherdiebeszüge veranstaltete, im Schnee »das schönste aller Bücher«8 verbrennen. Mit der Bücherverbrennung vollzieht sich – wie Leo Löwenthal mit Blick auf ein berühmtes Zitat Heinrich Heines schrieb – ein Akt der Auslöschung der Geschichte und der Liquidation des Subjekts: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«9
Die Problematik der Erzählung liegt nicht allein im weitgehend unreflektierten Ineinanderspiel von Bibliomanie und Bibliophilie, sondern auch in der fehlenden Stringenz der Konzeption. Anders als beispielsweise Carlos María Domínguez in seiner Erzählung »Das Papierhaus«, die die Pathologie des Büchersammelns beschreibt, die sich in Form einer »feindlichen Übernahme« vollzieht, vermag es Köhlmeier nicht, über die Fiktion die tatsächliche Obsession des Sammlers, die Zerstörung durch die Leidenschaft und die Rätselhaftigkeit des Buches (wie sie Domínguez in Form eines zementversetzten Exemplars von Joseph Conrads Schattenlinie und der detektivischen Suche nach den Hintergründen beschrieb) erfahrbar zu machen.
Während in Domínguez’ Erzählung auch die Geschichte immer präsent ist (in der argentinischen Diktatur haben Bücher das Leben ihrer Besitzer gefährdet und manchmal zerstört10), kommt die historische Vergangenheit außerhalb der Bibliophilie in Köhlmeiers Erzählung nicht vor. Nicht nur äußerlich – in Form einer bibliophilen Aufmachung, die scheinbar das herrschende Kontinuum der Warenform aufsprengt – sperrt sich Köhlmeiers Band gegen die Zeit ab. »Bücher, die sich weigern, nach den Regeln der Massenkommunikation mitzuspielen, trifft der Fluch des Kunstgewerbes«, merkte Theodor W. Adorno in seinem Essay »Bibliographische Grillen« an.11 Die bibliophile Erscheinung ist nicht Negation des Falschen oder Kritik der bestehenden Warenform, sondern lediglich vorgespielte Renitenz gegen den Betrieb. Gleich einem Manufaktum-Produkt prätendiert es, Einspruch gegen die nivellierende Massenkultur zu sein, während es doch nur eine sich elitär wähnende Klientel bedient und den »mystischen« oder »rätselhaften« Charakter der Ware nicht konterkariert, sondern den an der Ware klebenden Fetischismus (wie Karl Marx im legendären Fetischcharakter-Kapitel des Kapitals schrieb) noch potenziert.12 Am Ende ist das nostalgische Pastiche des Buches der Widerschein des Falschen oder (in einer Paraphrase eines berühmten Diktums Adornos) »Deckel über dem Unrat«13, der sich im zwanzigsten Jahrhundert und danach auftürmte.
Durch Köhlmeiers Erzählung wabert die Idolatrie des Buches in einem erstarrten Kraftfeld einer Kultur, der es misslang, das Barbarische außen vor zu lassen. Das fetischisierte »gute Buch« ist Teil der kulturindustriell verfestigten Halbbildung in der Klassengesellschaft, die zur Bildung eines kritischen und selbstkritischen Bewusstsein unfähig ist. »Die perennierende Statusgesellschaft saugt die Reste von Bildung auf und verwandelt sie in Embleme des Status«14, konstatierte Adorno in seiner »Theorie der Halbbildung«. Auch Köhlmeiers exklusives Buch trägt zur Entstellung des sinnlichen Lebens bei, indem es sich zum Statussymbol aufschwingt und selbst die kleinen Spuren der Kritik am Fetischcharakter des »guten Buches« nivelliert. Indem es den Warencharakter durch einen falschen äußeren Schein (»Zauber und Spuk«15 nennt es Marx) negiert, verstrickt er sich – mit Adorno gesprochen – »auf den Dschungelpfaden bürgerlicher Äquivalenz«16, wo der Gescheiterte sein Talent auf dem Markt verhökert.
Selbst in barbarischen Zeiten wird das Buch als Synekdoche einer besseren Welt begriffen. In Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz (1942) sind jene, welche dem entflohenen Häftling aus dem fiktiven Konzentrationslager »Westhofen« zur Flucht verhelfen, als »Buchmenschen« beschrieben, die sich »mit ein paar hundert Büchern« im Speicher eines Hauses »einnisten«, um die dunkle Zeit zu überstehen. In Jean-Luc Godards Film La Chinoise (1967) nimmt die von Juliet Berto verkörperte militante Studentin Zuflucht hinter einer Barrikade aus roten Mao-Bibeln, um einen Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft zu beginnen.17 Wie bereits in der Ära der Romantik scheint das Buch in einer bibliographischen Imagination (wie Andrew Piper in seinem Buch Dreaming in Books18 schrieb) die Utopie einer besseren Welt zu beschwören. Aber trotz aller Belesenheit, Lesezirkel und kollektiven Verbreitung von Büchern misslang – vor allem in Deutschland – die Kultivierung der intellektuellen Landschaft. Selbst Künstler wie Thomas Mann oder Franz Marc begeisterten sich für den Krieg oder sozialdemokratische Intellektuelle wie Robert Michels engagierten sich für den Faschismus.
Die Schuld für die eigene Verstrickung in die nazistische Barbarei wurde mit einer Verklärung des Buches kompensiert, das die autoritäre »Leerstelle« in der Gesellschaft einnahm. Stattdessen wurden in der postfaschistischen Bundesrepublik (wie es in dem exemplarischen Zeitgeistband Bücher – Schlüssel zum Leben, Tore zur Welt hieß) Bücher als »Mittel zur Menschwerdung« erklärt.19 Darin stellten sich Täter und Kollaborateure des nationalsozialistischen Regimes wie Emil Dovifat oder Hans Egon Holthusen als Kämpfer für das »gute Buch« auf, als hätte die Barbarei der Deutschen in der Welt nicht stattgefunden. Auch Friedrich Sieburg, der sich opportunistisch mit dem nationalsozialistischen Terrorregime arrangierte und die Vorlage für die Figur des Erich Wiesner in Lion Feuchtwangers Roman Exil (1940) bildete, schrieb in diesem Band über »Behagen mit Büchern«. »Dem Leser wird in diesen Tagen in Deutschland viel der Hof gemacht«, wusste er zu berichten. »Er verdient es. Denn für den Frieden ist das Lesen besser als das Schreiben.«20 In diesem autoritären Klima (weit vor der Prä-Amazon-Zeit) konnte sich auch der Buchhändler als Autorität positionieren. Helmut Bode wies die Leser an: »Schließ Freundschaft mit deinem Buchhändler«.21 Aus den Erfahrungen des terroristischen Regimes zog man in Deutschland kaum die notwendigen Schlüsse. Bereits 1936 hatte George Orwell nach einer kurzen Arbeitszeit in einer englischen Buchhandlung festgestellt, dass ihm der tägliche Umgang mit Bücherwaren und Kunden die Liebe zu Büchern austrieb. Ein Buchhändler sei gezwungen, Lügen über Bücher zu verbreiten, und entwickele dabei eine Abscheu zu ihnen.22
Mit der Deformation durch das Warengeschäft im Buchhandel sprach Orwell den Vollzug des Daseins unter der kapitalistischen Herrschaft an (bei Adorno ist es die »Barbarei«, der »furchtbare Schatten über unserer Existenz«23). In der falschen Welt des »guten Buches«, das seinen Warencharakter scheinheilig verleugnet, ist auch der Buchhändler nicht mehr als ein Agent der Zirkulation im »System universaler Abhängigkeiten und Kommunikationen«24. Während er sich als Antipode des »schlechten Kapitalismus« inszeniert, der sich in Form der globalen Krake »Amazon« materialisiert, will er doch nichts anderes, als den größtmöglichen Anteil am zirkulierenden Mehrwert zu ergattern. So ist auch der scheinbar ehrbare Buchhändler nicht Statthalter der Utopie, sondern Funktionär des Rackets, das über die partikularistische soziale Totalität wacht.25 Auch der Buchhändler gehört ausnahmslos zum umgreifenden System von Addition und Subtraktion, wobei es nur um die Verwandlung von Geld in Kapital geht. Alles andere erschöpft sich in Konversation.
© Text: Jörg Auberg 2016
© Fotos: Archiv des Autors
Bibliographische Angaben:
Michael Köhlmeier: Umblättern und andere Obsessionen. Köln u. a.: Edition 5Plus, 2015. 104 Seiten, 16,80 Euro.
- Anna Seghers, Das siebte Kreuz (Darmstadt: Luchterhand, 1973), S. 258 ↑
- Michael Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen (Köln u. a.: Edition 5Plus, 2015), S. 71 ↑
- Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen, S. 11 ↑
- Details zu Johann Georg Tinius: cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Georg_Tinius ↑
- Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen, S. 33 ↑
- Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen, S. 69 ↑
- Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen, S. 85 ↑
- Köhlmeier, Umblättern und andere Obsessionen, S. 87 ↑
- Leo Löwenthal, »Calibans Erbe«, in: Löwenthal, Schriften, Band 4, hg. Helmut Dubiel (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990) S. 136 ↑
- Carlos María Domínguez, Das Papierhaus, übers. Elisabeth Müller (Berlin: Insel, 2014), S. 68 ↑
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 348 ↑
- Karl Marx, Das Kapital: Erster Band, MEW, Bd. 23 (Berlin: Dietz, 2008), S. 85–87 ↑
- Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1975), S. 361 ↑
- Adorno, Soziologische Schriften I, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), S. 108 ↑
- Marx, Das Kapital: Erster Band, S. 90 ↑
- Adorno, Noten zur Literatur, S. 156 ↑
- James Monaco, Film verstehen, hg. Hans Michael Bock, übers. Brigitte Westermeier und Robert Wohlleben (Reinbek: Rowohlt, 1995), S 171–172 ↑
- Andrew Piper, Dreaming in Books: The Making of the Bibliographic Imagination in the Romantic Age (Chicago: University of Chicago Press, 2009) ↑
- Helmut Bode, »Bücher als Mittel zur Menschwerdung«, in: Bücher – Schlüssel zum Leben, Tore zur Welt – Stimmen der Gegenwart, hg. Helmut Bode und Kurt Debus (Frankfurt/Main: Verlag Das Bücherschiff, o. J. [1958]), S. 99 ↑
- Friedrich Sieburg, »Behagen mit Büchern«, in: Bücher – Schlüssel zum Leben, Tore zur Welt, S. 69 ↑
- Helmut Bode, »Schließ Freundschaft mit deinem Buchhändler«, in: Bücher – Schlüssel zum Leben, Tore zur Welt, S. 174 ↑
- George Orwell, »Bookshop Memories«, in: Orwell, Essays (London: Penguin, 1994), S. 28 ↑
- Adorno, »Tabus über den Lehrberuf«, in: Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 672 ↑
- Adorno, Noten zur Literatur, S. 144 ↑
- Max Horkheimer, »Zur Soziologie der Klassenverhältnisse«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften. Bd. 12, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 102–104 ↑