Der Nebel des Grauens
Über Nanni Balestrini, Giangiacomo Feltrinelli und verbrannte Hoffnungen
Von Jörg Auberg
Plötzlich war er verschwunden. Der Text Nanni Balestrinis sollte etwas über die »Generation von 1977« berichten, die Brücke von vergangenen Kämpfen zu den Möglichkeiten der »Widerständigkeit« in der Gegenwart und darüber hinaus schlagen. Das Buch »Where Have All the Rebels Gone?« musste mit der Lücke auskommen, die Balestrini nach seinem Tod im Mai 2019 hinterließ. In dem von Christopher Wimmer herausgegebenen Buch heißt es »Er fehlt schmerzlich«1, doch ob die mit den Baukästen »linksradikaler« Textprogramme hantierenden Autor*innen den Verlust realiter zu begreifen imstande sind, bleibt fraglich. Als Aktivist*innen in »postautonomen Zusammenhängen« geht es ihnen eher um die ideologische Demaskierung ihrer Gegner durch plattitüdenhafte Sentenzen wie »Sozialrevolte und Gegenmacht«, »Widerstand heißt Leben« oder »Die Zeit der Monster« denn um eine kritische Reflexion der herrschenden Zustände.
Präliminarien
Vorgeblich wollen sie »Positionsbestimmungen im linken Nebel« vornehmen, kommen nie über die »Zombie-Politik« ihres eigenen Rackets im »Nebel des Grauens« hinaus, der die konformistischen Rebellen in ihren autoritären »Zusammenhängen« seit Jahrzehnten wie die Gespenster in endlosen Spukgeschichten umschließt.2 Die Lücke, die Balestrini mit seinem Tod hinterließ, beschreibt eine intellektuelle Leere, deren Bedeutung die Aktivist*innen in »postautonomen Zusammenhängen« nicht zu begreifen vermögen. L’enfer – c’est les autres.
Der Schriftsteller ist ein Mensch, der das Warum der Welt radikal aufgehen läßt in einem Wie schreiben«, postulierte Roland Barthes an der Grenze zwischen Literatur oder Geschichte, Kritik und Wahrheit3 Der »Schreiber« – ob aus ideologischen Gründen oder nicht – reduziert sich auf die Tätigkeit des Technikers, der zum Instrument eines einseitigen Kommunikationsstroms regrediert. Im ideologischen Rauschen werden Sätze wie »Nichtsdestoweniger haben gerade die postautonomen Zusammenhänge ihre Politikfelder in den letzten Jahren erweitert«4 produziert, wobei im sprachlichen Niemandsland der Zombie-Politik Schreiben als Mittel der Verdunkelung eingesetzt wird, um im lückenlosen System Geschäftsfelder ideologisch zu besetzen, anstatt kritische Aufklärung zu betreiben. Oder mit Theodor W. Adorno gesprochen: »Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen.«5
Balestrini ist seit den 1950er Jahren eine der bedeutendsten Figuren der italienischen Kultur- und Literaturszene: als Schriftsteller, Dichter und bildender Künstler im Rampenlicht wie auch als Verlagslektor und ‑berater, unermüdlicher Zeitschriftengründer und Organisator von Literaturfestivals hinter den Kulissen. So wie er in der Druchsetzung und bei der Verbreitung der italienischen Nachkriegsavantgarde (Gruppe 63, Verlagsarbeit bei Feltrinelli etc.) eine Schlüsselrolle spielte, gehört er selbst als Autor, Lyriker und Künstler zu deren wichtigsten Vertretern, der mit avanciertesten literarischen Techniken und Formen (Cut-up, Lettrismus etc.) experimentierte.6
Andreas Löhrer
Zum Spuk gehört, dass die einstigen Rebellen (ob sie »autonom« waren oder nicht) zu Geschäftsfelder-Scouts oder Claqueuren der Zombie-Politik mutierten. Die Punks aus der Vergangenheit sind die Spießer der Gegenwart. Daran leidet das Schreiben, das Schalheit und Muffigkeit produziert. In den Kellern, die früher einmal unentdeckte Schätze in schmucklosen Kisten bargen, breitet sich nunmehr Schimmel aus. »Am Ende ist es dem Schriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnen gestattet«7, resümierte der »Exilant« Adorno die intellektuelle Existenz in der Mülltonnenwelt nach Auschwitz und Hiroshima. Wimmers Anthologie wird von der PR-Abteilung seines Verlages in der westfälischen Provinz als »Texte der radikalen Linken – widerständig und unversöhnlich« angepriesen, wobei aus dem Produkt weder Widerständigkeit noch Unversöhnlichkeit herauszulesen sind. Vielmehr grassiert eine geistige Armseligkeit, die es zu keinem Zeitpunkt vermag, eine »Zelle der Wirklichkeit«8 gedanklich aufzuschließen, weil die Eingeschlossenen sich am liebsten in den ideologischen Blasen im Umfeld ihrer »postautonomen Zusammenhänge« bewegen, die den »offiziellen Optimismus« der Arbeiterbewegung für ihre Zwecke mumifiziert haben. »Jeder macht sich verdächtig, der mit der Kritik am Kapitalismus die am Proletariat verbindet, das mehr und mehr die kapitalistischen Entwicklungstendenzen selber bloß reflektiert«, heißt es in einer mit »Abweichung« überschriebenen Reflexion in den Minima Moralia. »Über die Klassengrenzen hinweg ist das negative Element des Gedankens verpönt.«9
Blackout
Balestrinis Texte sind von den negativen Elementen, die ihren Ursprung in der politischen Erfahrung der 1960er und 1970er Jahre haben, gezeichnet. »Das unerfreuliche 1968 wird nicht mehr enden«, heißt es mehrfach in dem Band Blackout aus dem Jahre 1979. Zugleich konstatiert Balestrini, dass sich die Beziehung in eine Machtbeziehung verwandelt habe und keine Errettung aus Kämpfen in den Fabriken zu erwarten sei.10 Blackout sei, schreibt Reinhard Sauer im Nachwort, »ein episches Klagelied über das Scheitern der politischen Hoffnungen und Leidenschaften von ’68 sowie der siebziger Jahre in Italien«, der gesellschaftlichen Revolte, die am Ende in Rückzug, Flucht und Exil mündete.11 Es ist jedoch nicht lediglich ein »Abgesang«, sondern auch eine Aufforderung zur »stetigen Arbeit«, die der Sozialist Irving Howe in Abgrenzung zu den »Radikalen« als Aufgabe des aufrichtigen Intellektuellen sah. Bei Balestrini heißt die Aufgabe: »verfolgt eure Verfolger mit der Kraft der Wahrheit«.12 »Sprachzweifel und die Auseinandersetzung mit der Sprache«, die Balestrini wie viele »Avantgardisten« der Nachkriegszeit experimentell betrieb, waren – wie Peter O. Chotjewitz schrieb – ein »Mittel des Erkennens« und zugleich eine Kritik der etablierten Literaturproduktion mit ihrer Akzentuierung des Realismus. Symptomatisch war Pier Paolo Pasolinis Verdammung der »stilistischen Reaktion« als »Neo-Dekadenz«.13
Der Verleger auf dem Seziertisch
Die erste Szene des neu aufgelegten Romans Der Verleger (der Teil der Trilogie Die große Revolte ist), welche die Szenerie in einem Leichenschauhaus beschreibt, besticht durch seine kafkaeske Strenge. Seine Radikalität hatte Giangiacomo Feltrinelli, den »Verleger der Revolte« und Initiator eines der erfolgreichsten Buchkonzerne in Europa, auf den Seziertisch katapultiert, nachdem er beim missglückten Versuch, einen Hochspannungsmasten in der Nähe von Mailand zu sprengen, ums Leben gekommen war. »Der Text, in einer geradezu schmerzhaft penetranten Bürokratensprache, ist penibel und von einer Detailbesessenheit, die dem Vorgang der Obduktion entspricht«, beobachtete Chotjewitz. In den folgenden Kapiteln verwendet Balestrini Schreibweisen der Presse, des Films oder des inneren Monologs, löst mögliche Wendungen in der Geschichte in einer differenzierten Polyphonie mit einer Überschneidung von Zeit, Raum und Personen auf: Vieles wäre möglich gewesen, doch am Ende steht das Scheitern. 14
In seinem Vorwort zur Neuauflage des Romans sieht Theo Bruns in Feltrinelli »die vielleicht einflussreichste und schillerndste Verlegerpersönlichkeit der europäischen Nachkriegsgeschichte«15, der mit seinem 1954 gegründeten Verlag Autoren wie Boris Pasternak, Giuseppe di Lampedusa, Henry Miller oder Ernesto »Che« Guevara verlegte und das legendäre »Che«-Porträt vermarktete. Dagegen hatte seine politische Guerilla-Tätigkeit allenfalls symbolischen Charakter: Was sollte die Sprengung eines Hochspannungsmastes außerhalb von Mailand bewirken? Vermutlich wäre die Publikation weiterer Bücher – selbst in Zeiten, als von radikalen Aktivisten der »Tod der Literatur« beschworen wurde – »effektiver« gewesen.
Die Neuauflage des Balestrini-Romans – der keineswegs im biografischen Sumpf versinkt, sondern die politische Entwicklung wie in einem brechtianischen Szenario oder in einem roman noir von Jean-Patrick Manchette vielschichtig durchleuchtet – erinnert an eine außergewöhnliche Verlegerpersönlichkeit, die nicht – mit einem Wort Axel Eggebrechts – auf halbem Weg stehen blieb, sondern das ganze Leben einsetzte. Wie Paul Austers freiflutender Selbstmordattentäter in Leviathan (1992), ein Vorläufer des »Mannes im Dunkel«, jagte er sich mit dem eigenen Sprengsatz in die Luft, weil jeder existierende Staat korrupt sei, wie Ralph Waldo Emerson der Nachwelt hinterließ. Daran änderte auch das beste Buch nichts.16 Für Theo Bruns ist Feltrinelli ein Verleger, »der seine Existenz in die Waagschale warf, im Versuch, die Welt zu verändern und die Ideen umzusetzen, an die er glaubte«.17
In den Augen des gleichaltrigen und ebenfalls kürzlich verstorbenen Underground-Autoren Jürgen Ploog war Balestrini ein »Mann der Widersprüche«: »Ein extrovertierter Autor, der alles auf- & angreift, was gerade am Zeithorizont aufblitzt. Feltrinelli & die Roten Brigaden … Jugendrevolte & Streik bei FIAT …«18 Bis zum Schluss vereinten seine Texte Experiment und Kritik, Poesie und Politik, Kunst und Dissens, und anders als viele »Autonome« und »Postautonome« versöhnte er sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen, die in einer ideologischen Verlogenheit als »Politik-« oder »Geschäftsfelder« sprachlich kaschiert werden. Wie Roberto Saviano mit Recht bemerkt, hat Nanni Balestrini »Literatur als Zivilcourage« betrieben.19 Dieser Mut (verbunden mit Aufrichtigkeit und Selbstbehauptung) ist bei vielen »akademischen Radikalen« oder »Aktivst*innen« in »postautonomen Zusammenhängen« nicht zu finden, die Macht nur mit Gegenmacht beantworten wollen, nicht aber mit Emanzipation. Vermutlich hätten an dieser Schnittstelle – im Dissens der kritischen Moderne gegen die »postkritische« Postmoderne – Nanni Balestrini und Irving Howe (der in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag hätte feiern können) zueinander gefunden: »the work is steady«.
© Jörg Auberg 2020
Bibliografische Angaben:
Nanni Balestrini.
Der Verleger.
Aus dem Italienischen von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer.
Neuausgabe mit einem Vorwort von Theo Bruns.
Berlin: Assoziation A, 2020.
152 Seiten, 18,00 €.
ISBN: 978–3‑86241–480‑2.
Christopher Wimmer (Hg.).
»Where have all the Rebels gone?«:
Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht.
Münster: Unrast-Verlag, 2020.
304 Seiten, 18,00 €.
ISBN: 978–3‑89771–277‑5.
Medienquellen (Copyrights) |
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Video Nanni Balestrini — Cut-Ups | © ZKM Karlsruhe (YouTube) |
Seite Nanni Balestrini »Die Generation von 1977« | © Unrast-Verlag |
Backcover Landschaften des Wortes | © Assoziation A |
Cover »Where have all the Rebels gone?« |
© Unrast-Verlag |
Cover Blackout |
© Klever-Verlag |
Video Vietnam-Kongress 1968 |
© ARD/YouTube |
Cover Der Verleger |
© Assoziation A |
Cover Die große Revolte |
© Assoziation A |
Nachweise
- »Where Have All the Rebels Gone?«: Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht, hg. Christopher Wimmer (Münster: Unrast-Verlag, 2020), S. 77 ↩
- Siehe Henry A. Giroux, Zombie Politics and Culture in the Age of Casino Capitalism (New York: Peter Lang, ²2014), und Katrin Henkelmann u. a. (Hgg.), Konformistische Rebellen: Zur Aktualität des autoritären Charakters (Berlin: Verbrecher Verlag, 2020) ↩
- Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, übers. Helmut Scheffel (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006), S. 102–103 ↩
- Christopher Wimmer, »Eine Bewegung mit vielen vermummten Gesichtern: Metamorphosen antifaschistischer Politik seit den 1980er-Jahren«, in: »Where Have All the Rebels Gone?«: Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht, hg. Christopher Wimmer, S. 109 ↩
- Theodor W. Adorno, »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« (1968), in: Adorno, Soziologische Schriften I, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979), S. 369 ↩
- Andreas Löhrer, Vorwort zu: Landschaften des Wortes, hg. Thomas Atzert u. a. (Berlin: Assoziation A, 2015), S.11 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 109 ↩
- Adorno, Minima Moralia, S. 108 ↩
- Adorno, Minima Moralia, S. 146 ↩
- Nanni Balestrini, Blackout, übers. Andreas Löhrer (Wien: Klever, 2015), S. 34 ↩
- Reinhard Sauer, »Gegen das organisierte Vergessen und große Verdrängen«, in: Blackout, S. 74 ↩
- Balestrini, Blackout, S. 39; Irving Howe, Steady Work: Essays in the Politics of Democratic Radicalism, 1953–1966 (New York: Harcourt Brace, 1966), vorangestelltes Motto ↩
- Peter O. Chotjewitz, »Nanni Balestrini und die ›Neo-Avantgarde‹ der 60er Jahre«, in: Landschaften des Wortes, hg. Thomas Atzert u. a. (Berlin: Assoziation A, 2015), S. 23; Pier Paolo Pasolini, Literatur und Leidenschaft: Über Bücher und Autoren, übers. Annette Kopetzki (München: Piper, 1994), S.81 ↩
- Chotjewitz, »Nanni Balestrini und die ›Neo-Avantgarde‹ der 60er Jahre«, S. 28–29 ↩
- Theo Bruns, »Verleger der Revolte«, in: Nanni Balestrini, Der Verleger (Berlin: Assoziation A, 2020), S. 7 ↩
- Jean-Patrick Manchette, Volles Leichenhaus, übers. Christina Mansfeld und Stefan Linster (Heilbronn: Distel Literaturverlag, 2008); Axel Eggebrecht, Der halbe Weg: Zwischenbilanz einer Epoche (Reinbek: Rowohlt, 1975); Paul Auster, Leviathan, übers. Werner Schmitz (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1995); Paul Auster, Man in the Dark (London: Faber & Faber, 2008) ↩
- Theo Bruns, »Verleger der Revolte«, S. 12 ↩
- Jürgen Ploog, »Balestrini on the Run«, in: Landschaften des Wortes, S. 179 ↩
- Roberto Saviano, »Literatur als Zivilcourage«, in: Nanni Balestrini, Sandokan: Eine Camorra-Geschichte, übers. Max Henninger (Berlin: Assoziation A, 2017), S. 8 ↩