Das Verschwinden der Dialektik
Helmut Böttigers »Jahre der wahren Empfindung«
von Jörg Auberg
»Wer nur etwas von Literatur versteht, versteht auch davon nichts.«
Lothar Baier 1
Die Erinnerung an die literarischen 1970er Jahre in Deutschland verbindet sich zum einen mit »Großschriftstellern« wie Heinrich Böll, Günter Grass, Arno Schmidt oder Uwe Johnson und zum anderen mit einer aus der US-amerikanischen Underground-Kultur gespeisten Revolte gegen die »Hochkultur«, wie sie sich in Zeitschriften wie Gasolin 23 manifestierte. »Abstand gewinnen von den Taktiken der 60er Jahren …«, schrieb Carl Weissner in einem Text über William S. Burroughs’ Interview-Buch The Job, »New York-Tokio-Paris ist nicht Bolivien … Der Guerilla der 70er Jahre ist der MEDIEN-GUERILLA …«2
Für den Literaturkritiker Helmut Böttiger (der 1956 in Creglingen, einem provinziellen, im Mündungstrichter des Herrgottsbachs gelegenen Ort in Tauberfranken, geboren wurde) begannen die 1970er Jahre im vorgeblich verkündeten »Tod der Literatur« anno 1968 und endeten 1981 mit den postmodern gemodelten neokonservativen »Frühgeburten« eines Botho Strauß und dem Abschied der Dialektik. Seine Geschichte die Jahre der wahren Empfindung ist vor allem eine personalisierte Nacherzählung über Autoren und Bücher, ohne dass er wie Morris Dickstein oder George Hutchinson bei ähnlich ambitionierten historischen Dekaden-Erzählungen eine gesellschaftskritische Kulturgeschichte der Literatur aufzubieten vermag.3. Als literaturkritisches Arbeitsprogramm hatte Walter Boehlich – dem immer wieder vorgehalten wird, er habe 1968 in der berühmt-berüchtigten Ausgabe des Kursbuches den »Tod der Literatur« verkündet – 1964 in einem Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit geschrieben: »Wenn Kritik wirklich eine vermittelnde Funktion hat, muß sie zu erkennen geben, daß ihr nur wenig fremd ist.«4
Böttiger möchte im Feuilleton-Markt unter der Marke highbrow segeln, ist in den einschlägigen Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender wie Deutschlandfunk, DLF Kultur und SWR gut vernetzt, kennt sich im gesellschaftlich akzeptierten kulturellen Vorrat bestens aus und plaudert in einschlägigen Sendungen gern so manches Detail über Arno Schmidt, Ingeborg Bachmann, Peter Handke oder Gabriele Wohmann (die »Juliette Gréco der Schreibmaschine«) aus. In seinem Buch wartet er mit folgender Beobachtung auf: »Als Gabriele Wohmann 2007 in einem Fernsehfeature über die Gruppe 47 plötzlich wieder auftauchte, rieben sich die Kritiker in den Medien verwundert die Augen: ›Sie war ja noch da!‹«5 Stets nur bleibt Böttiger der Autor, der die Medienapparate bedient und beliefert, die feuilletonistischen Klangmelodien in den Anstaltsgängen der Redaktionsbüros vor sich hin pfeift, ohne »seine Stellung im Produktionsprozesse sich zu überlegen«6.
Im gefälligen Jargon beschreibt er das »politisch und literarisch stark aufgehitzte Westberlin«7, stellt am Beispiel Martin Walsers die »linke Radikalisierung« dar, »die natürlich zum Teil der allgemeinen Zeitstimmung geschuldet war«8, charakterisiert Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands als das »herausgemeißelte Jahrhundertwerk« – »sperrig wie ein Klassiker«9 oder verdeckt grundlegende Positionen der literarischen Produktion in personalisierten Porträts – etwa von F. C. Delius und anderen Opportunisten und Karrieristen, die das linke Verlags- und Publikationsmilieu für das eigene Fortkommen nutzten – und bricht politische Kämpfe (wie etwa die Auseinandersetzung um die Verlage Wagenbach und Rotbuch in den frühen 1970er Jahren) auf persönliche Animositäten zwischen den Akteuren (beispielsweise Klaus Wagenbach und F. C. Delius) herunter. Gesellschaftliche und politische Hintergründe interessieren Böttiger in seinem Feuilleton-Raunen wenig: Die berüchtigte Auseinandersetzung zwischen Rolf Dieter Brinkmann und Marcel Reich-Ranicki in der Westberliner Akademie der Künste 1968, in der Brinkmann dem Kritiker den Satz ins Gesicht schleuderte: »Wenn ich ein Maschinengewehr hätte, würde ich Sie jetzt niederschießen«10, versucht Böttiger mit einem Verweis auf André Bretons Wunsch, mit Hilfe eines Revolvers »mit dem derzeit bestehenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen«11 zu erklären, ohne Brinkmanns Eruption in den historischen und gesellschaftlichen Kontext destruktiver Gewalt von 1968 zu stellen, in der sich – mit den Worten Theodor W. Adornos – die »Rancune gegen den Intellektuellen«12 austobte. An anderer Stelle, in der Böttiger Reich-Ranickis Redaktionspolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Revue passieren lässt, heißt es: »Reich-Ranicki wandte sich direkt an jenes [vom Vorgänger Karl-Heinz Bohrer verschmähte] Publikum und trat ganz vorn an die Rampe [sic!].«13 Dies ist eine überaus fragwürdige Formulierung über einen Kritiker, der die deutsche Vernichtungsmaschinerie nur mit viel Glück überlebte.
Am Schluss des Buches widmet sich Böttiger noch den »B‑Ebenen der Subkultur« und beschreibt eine Lesung Jörg Fausers in einem Club in Weikersheim im Main-Tauber-Kreis: Fauser trat (wohl zur Enttäuschung der Clubbesucher) nicht als ausgeflippter Junkie auf, sondern »wirkte wie ein x‑beliebiger Sparkassenangestellter oder Versicherungsvertreter«.14 zur Charakterisierung der Fauser-Literatur bemüht Böttiger sogleich seine tiefergehenden Kenntnisse der Underground-Literatur: »assoziative Sprünge, keine lineare Story, kein klassischer Satzbau – Burroughs pur.«15 Ob es »Burroughs pur« oder »Terpentin on the Rocks« war, ist letztlich egal: Schließlich kam alles aus dem »einschlägigen Maro Verlag in Gersthofen«16 Erleichtert endet das Buch mit dem Verschwinden der Dialektik, gewissermaßen als Auftakt für das neue Jahrzehnt der »geistig-moralischen Wende«. Böttigers Resümee lautet: »Die Siebziger waren ein wildwucherndes Jahrzehnt gewesen, unberechenbar und schwer zu überblicken.«17 Diese Charakterisierung trifft jedoch nicht allein auf die 1970er Jahre zu: Welches Jahrzehnt ist in seinem Verlauf berechenbar und von Überraschungen frei? So enden die »Jahre der wahren Empfindung« in den Plattitüden der neuen Unübersichtlichkeit.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Helmut Böttiger.
Die Jahre der wahren Empfindung:
Die 70er — eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur.
Göttingen: Wallstein Verlag, 2021.
473 Seiten, 37 Abbildungen, 32 Euro.
ISBN: 978–3‑8353–3939‑2.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Die Jahre der Empfindung |
© Wallstein Verlag |
Cover Literaturmagazin 4 |
© Rowohlt Verlag |
Cover Terpentin on the Rocks |
© Maro Verlag |
Nachweise
- Lothar Baier, Was wird Literatur? (München: Kunstmann, 2001), S. 25 ↩
- Carl Weissner, Aufzeichnungen über Außenseiter: Essays und Reportagen, hg. Matthias Penzel (Meine: Verlag Andreas Reiffer, 2020), S. 44 ↩
- Cf. Morris Dickstein, Dancing in the Dark: A Cultural History of the Great Depression (New York: W. W. Norton, 2009); George Hutchinson, Facing the Abyss: American Literature and Culture in the 1940s (New York: Columbia University Press, 2018); Morris Dickstein, Gates of Eden: American Culture in the Sixties (1977; rpt. New York: Liveright, 2015) ↩
- Walter Boehlich, Die Antwort ist das Unglück der Frage: Ausgewählte Schriften, hg. Helmut Peitsch und Helen Thein (Frankfurt/Main: Fischer, 2011), S. 51; Lothar Baier, Was wird Literatur?, S. 24 ↩
- Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung: Die 70er — eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur (Göttingen: Wallstein Verlag, 2021), S. 56 ↩
- Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 699 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 131 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 332 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 270 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 138 ↩
- André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, übers. Ruth Henry (Reinbek: Rowohlt, 1968), S. 56 ↩
- Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 788 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 321 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 431 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 437 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 436 ↩
- Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung, S. 439 ↩