Texte und Zeichen

Benjamin Taylor: Proust ‑ The Search

B

Metamorphosen eines Tunichtguts

Benjamin Taylor stellt eine konzise und entschlackte Proust-Biografie vor

Von Jörg Auberg

Nach­dem James Joy­ce 1920 nach Paris, in die »Haupt­stadt der Kul­tur«, migriert war, stieß er auf den Namen Mar­cel Proust. Obgleich er nur weni­ge Sei­ten von ihm gele­sen hat­te, bekann­te er in einem Brief: »Ich kann kein beson­de­res Talent erken­nen, aber ich bin ein schlech­ter Kri­ti­ker.« Spä­ter tra­fen sich Proust und Joy­ce auf einer Abend­ge­sell­schaft, wobei sie zwar vor­ga­ben, das Werk des ande­ren igno­riert zu haben, doch ent­deck­ten sie eine gemein­sa­me Vor­lie­be für Trüf­fel. Unge­ach­tet des­sen brei­te­ten sich zwi­schen den bei­den Autoren wei­te Klas­sen­un­ter­schie­de aus. Wäh­rend Proust (vor­geb­lich) mit Vor­lie­be über Her­zo­gin­nen sprach, inter­es­sier­te sich Joy­ce eher für ihre Kam­mer­zo­fen.1

Samuel Beckett - Proust
Samu­el Beckett: Proust (Arche)

Auch Joy­ces spä­te­rer Assis­tent Samu­el Beckett fand in sei­nem kur­zen Proust-Essay wenig schmei­cheln­de Wor­te. »Die­ses Buch«, schrieb Beckett in sei­nem Vor­wort, »han­delt weder von dem legen­dä­ren Leben und Ster­ben Mar­cel Prousts noch von dem geschwät­zi­gen alten Weib der Brie­fe noch vom Ver­fas­ser der Essays noch von der Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen Sel­ters­was­ser und Car­lyl­es ›schö­ner Fla­sche Soda­was­ser‹. […] Ich bezie­he mich auf die scheuß­li­che Aus­ga­be der Nou­vel­le Revue Fran­çai­se in sech­zehn Bän­den.«2

 

Vom »legen­dä­ren Leben und Ster­ben Mar­cel Prousts« han­delt dage­gen Ben­ja­min Tay­lor kon­zi­se Bio­gra­fie Proust: The Search, die im Rah­men der Rei­he »Jewish Lives« bei Yale Uni­ver­si­ty Press erschien und auf knapp zwei­hun­dert Sei­ten den Spu­ren Prousts vom Beginn der Drit­ten Fran­zö­si­schen Repu­blik bis zu sei­nem frü­hen Tod im Jah­re 1922 folgt. Anders als die gro­ßen Proust-Bio­gra­fien von Jean-Yves Tadié (Mar­cel Proust: Bio­gra­phie, 1996) und Wil­liam Car­ter (Mar­cel Proust: A Life, 2000), die jeweils tau­send Sei­ten und mehr umfas­sen, geht Tay­lors Buch nicht in die Tie­fe oder begibt sich auf die Suche nach den Details im Leben und Schrei­ben Mar­cel Prousts. Tay­lors Inter­es­se fokus­siert sich auf die Ver­wand­lung eines ver­wöhn­ten »Tunicht­gut« der fran­zö­si­schen Bour­geoi­sie, der in sei­nen frü­hen Jah­ren weder durch intel­lek­tu­el­le Bril­lanz noch durch künst­le­ri­sche Hin­ga­be auf­fiel und eher eine farb­lo­se Exis­tenz eines groß­bür­ger­li­chen Spröss­lings führ­te, zu einem der bedeu­tends­ten Autoren der euro­päi­schen Moderne.

 

Marcel Proust um1900
Mar­cel Proust um 1900 [Quel­le: Otto Wege­ner (1849–1924)]

Tay­lor liest das Leben Prousts par­al­lel zum Roman­zy­klus À la recher­che du temps per­du, ohne den anony­men Ich-Erzäh­ler mit dem Autor gleich­zu­set­zen. Tay­lors Bestre­ben ist es, Ereig­nis­se, Erleb­nis­se und Zusam­men­tref­fen in Prousts Leben her­aus­zu­fil­tern und ihre Umge­stal­tung im gran­dio­sen Roman­werk vor­zu­füh­ren. »Prousts Leben ist wie sein Buch eine Rei­he von Selbst­trans­for­ma­tio­nen […] «3, dia­gnos­ti­ziert Tay­lor in sei­nem Vor­wort. Doch letzt­lich ver­mag Tay­lor im Ver­lau­fe sei­nes Buches kein Ereig­nis zu benen­nen, das Prousts Ver­wand­lung in einen »Groß­schrift­stel­ler« aus­lös­te. Selbst der Tod sei­ner Mut­ter Jean­ne Weil, mit deren Hil­fe er John Rus­kins Werk The Bible of Ami­ens über­setz­te und die ihm ein klei­nes Ver­mö­gen hin­ter­ließ, das ihm eine Unab­hän­gig­keit von öko­no­mi­schen Zwän­gen ermög­lich­te, war ver­mut­lich nicht der Grund, sei­nem durch Krank­hei­ten beschä­dig­ten Leben ein sol­ches Mam­mut­werk abzu­trot­zen, dem er schließ­lich all sei­ne ver­blei­ben­de Zeit opferte.

 

Die Stär­ken des Buches lie­gen in der Kon­tras­tie­rung des Proust’schen Erle­bens mit den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen. Ein zen­tra­ler Punkt ist die Drey­fus-Affä­re, wel­che die fran­zö­si­sche Gesell­schaft über zehn Jah­re beschäf­tig­te und die Geburts­stun­de des moder­nen Intel­lek­tu­el­len mar­kier­te. Dar­über hin­aus stellt Tay­lor an ver­schie­de­nen his­to­ri­schen Punk­ten, die sich spä­ter als Schnitt­stel­len des Unsag­ba­ren erwei­sen, die teil­wei­se töd­li­che Kom­ple­xi­tät zwi­schen der fran­zö­si­schen und der deut­schen Lebens­art her­aus. Die Riva­li­tät wühl­te sich nicht allein durch die schlam­mi­gen und blu­ti­gen Grä­ben von Ver­dun, son­dern war seit je prä­sent. Als Reprä­sen­tant der Außen­sei­ter (als jüdi­scher Homo­se­xu­el­ler) wäre Proust ein poten­ti­el­les Opfer der deut­schen Aus­mer­zungs­ideo­lo­gie in den 1940er Jah­ren gewor­den. Schon in der End­pha­se des Ers­ten Welt­krie­ges begann mit den deut­schen Geschwa­dern von Zep­pe­li­nen und Gotha-Bom­bern die Ära des »tota­len Krie­ges«, in der die Exter­mi­na­ti­on sich in den Jah­ren des nazis­ti­schen Ter­rors in alle Land­schaf­ten eingrub.

 

Benjamin Taylor - Proust: The Search
Ben­ja­min Tay­lor — Proust: The Search (Yale Uni­ver­si­ty Press)

Letzt­lich aber bleibt Tay­lors Buch ein unbe­frie­di­gen­der Ver­such über Proust, da es sich nie zwi­schen Bio­gra­fie und essay­is­ti­scher Unter­su­chung ent­schei­den kann. Anders als Wal­ter van Ros­sum, der in sei­nem Sart­re-Buch Sich ver­schrei­ben die »Autoren­wer­dung« Jean-Paul Sar­tres in all ihren Wider­sprü­chen nach­voll­zieht4, bleibt Tay­lors Bio­gra­fie unbe­frie­di­gend, weil sie zu kei­nem Zeit­punkt Ant­wor­ten auf die selbst gestell­te Fra­ge der Trans­for­ma­ti­on zu geben ver­mag. Tay­lor bleibt Proust – nicht zuletzt mit Hil­fe von Tadié und Car­ter sowie der nach­ge­las­se­nen Kor­re­spon­denz – auf der Spur, folgt ihm sowohl ins Hotel Ritz als auch in diver­se Bor­del­le, doch das Rät­sel Proust bleibt am Ende ver­schlos­sen. Schließ­lich kana­li­siert Tay­lor den »Nil der Spra­che« (wie Wal­ter Ben­ja­min Prousts »Syn­tax ufer­lo­ser Sät­ze« cha­rak­te­ri­sier­te) in schma­le Bäche, in denen »die Brei­ten der Wahr­hei­ten« ver­schwin­den.5 

Wie alle Reduk­tio­nen fügt auch Tay­lors zusam­men­ge­dräng­te Bio­gra­fie dem Künst­ler Gewalt zu, indem sie kom­ple­xe Ent­wick­lun­gen auf kur­ze Momen­te zusam­men­presst oder »ver­dich­tet«. Auch wenn Tay­lors Bio­gra­fie einen Anreiz für poten­zi­el­le Leser dar­stel­len könn­te, das Zurück­schre­cken vor der Lek­tü­re des monu­men­ta­len Wer­kes zu über­win­den, haf­tet dem Unter­fan­gen doch ein bit­te­rer Geschmack an. Schon vor Jah­ren gab es Proust-Bücher mit Titeln wie Proust für Eili­ge6, wel­che die Leser an das gro­ße Werk her­an­füh­ren soll­ten. Letzt­lich spie­len sol­che Wer­ke einer sozia­li­sier­ten Halb­bil­dung in die Hän­de, in der es in ers­ter Linie dar­um geht, sich im appro­bier­ten Kul­tur­vor­rat aus­zu­ken­nen, um mit­re­den zu kön­nen und dazu zu gehö­ren.7 Tay­lors Buch, dem die Empha­se für sein Sub­jekt fehlt, durch­zieht ein Strom des Ennui, in dem Wrack­tei­le von Zita­ten schwim­men, ohne dass dar­aus ein Text kri­ti­scher Erkennt­nis zu schaf­fen wäre. So umgibt die­se Bio­gra­fie ein Hauch des Mediokren.

 

Bibliografische Angaben:

Ben­ja­min Tay­lor. Proust: The Search. New Haven und Lon­don: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2015. 224 Sei­ten, 8 Abbil­dun­gen, $ 25.

 

© Text: Jörg Auberg (2016) 

 

Nachweise

  1. Richard Ell­mann, James Joy­ce (1959; rpt. Oxford: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 1983), S. 488, 508–509
  2. Samu­el Beckett, Proust, übers. Mar­lis und Paul Pört­ner sowie Wer­ner Mor­lang (1960; rpt. Zürich: Arche, 2001), S. 7
  3. Ben­ja­min Tay­lor, Proust: The Search (New Haven und Lon­don: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2015), S. xiii
  4. Wal­ter van Ros­sum, Sich ver­schrei­ben: Jean-Paul Sart­re 1939–1953 (Frankfurt/Main: Fischer, 1990)
  5. Wal­ter Ben­ja­min, »Zum Bil­de Prousts«, in: Ben­ja­min, Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. II:1, hg. Rolf Tie­de­mann und Her­mann Schwep­pen­häu­ser (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1991), S. 310
  6. Marei Ger­ken, Proust für Eili­ge (Ber­lin: Auf­bau, 2003)
  7. cf. Theo­dor W. Ador­no, »Theo­rie der Halb­bil­dung«, in: Ador­no, Sozio­lo­gi­sche Schrif­ten I, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1979), S. 115

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