Als die Frankfurter Schule in den Krieg zog
Frühe Analysen des Nationalsozialismus aus den 1940er Jahren
Von Jörg Auberg
Als Herbert Marcuse im Juni 1969 in einem römischen Theater einen Vortrag hielt, wurde er mehrfach von Daniel Cohn-Bendit unterbrochen, der ein Jahr zuvor im Pariser Mai als eloquenter, patzig auftrumpfender Revoltedarsteller des Spektakels in Erscheinung getreten war und nun die intellektuelle Ikone der Neuen Linken inquisitorisch aufforderte, er, Marcuse, solle seine skandalöse Vergangenheit als CIA eingestehen.1 Damit griff »Dany le Rouge« ein Gerücht auf, das von einer maoistischen Abspaltung der amerikanischen kommunistischen Partei, Progressive Labor, in der Endphase der Studentenbewegung verbreitet wurde, ohne dass dafür historische Belege existierten.
Tatsächlich hatte Marcuse – zusammen mit Franz Neumann und Otto Kirchheimer, die wie Marcuse mit dem exilierten Frankfurter Institut für Sozialforschung assoziiert waren – ab 1943 für das Office of Strategic Services (OSS) gearbeitet. Dieser Nachrichtendienst war direkt dem US-amerikanischen Kriegsministerium unterstellt und hatte die Aufgabe, Informationen zu beschaffen, Desinformation, Spionageabwehr und Sabotage zu betreiben sowie Partisanen zu unterstützen. Zu seinen aktiven Mitarbeitern gehörten auch kommunistische Linke wie der Schriftsteller und spätere Filmregisseur Abraham Polonsky, der in Frankreich nach der Landung der Alliierten für Radiopropaganda gegen die nationalsozialistische Herrschaft zuständig war.2 In Washington waren Marcuse, Neumann, Kirchheimer und eine Phalanx weiterer Sozialwissenschaftler, die nach 1945 zu Ruhm kommen sollten, damit beschäftigt, Geheimdienstinformationen, Befragungen von Kriegsgefangenen, Presseberichte und Telefonmitschnitte auszuwerten und Berichte für die Mitteleuropa-Sektion des OSS zu erstellen.3
Einzelne Berichte erschienen auf deutsch in dem Band Feindanalysen (1998) im Rahmen der von Peter-Erwin Jansen edierten nachgelassenen Schriften Marcuses sowie in der von Alfons Söllner herausgegebenen zweibändigen Anthologie Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland (1982/86). Der von Raffaele Laudani edierte Band und nun auf deutsch vorliegende Band Im Kampf gegen Nazideutschland versammelt 31 Berichte, die zwischen 1943 und 1949 vorwiegend in der Forschungs- und Analyse-Abteilung des OSS entstanden und den Autoren Neumann, Marcuse und Kirchheimer zuzuordnen waren. Als erster des Trios war Neumann zum Nachrichtendienst gestoßen, denn mit seinem 1942 erschienenen Werk Behemoth, in dem er – wie es im Untertitel heißt – die Struktur und Praxis des Nationalsozialismus analysiert hatte, konnte er sich als Experte für die Bekämpfung des Nazismus empfehlen. Im Vorwort seines Buches hatte Neumann die Notwendigkeit der militärischen Niederlage Deutschlands betont, denn einzig sie werde den Nationalsozialismus auslöschen. Der Nazismus glich Neumann zufolge Behemoth, einem Ungeheuer des Chaos aus der jüdischen Eschatologie: Er sei ein »Unstaat«, argumentierte Neumann, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit, »welche die Rechte wie die Würde des Menschen ›verschlungen‹ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln«.4 Die Vernichtung der europäischen Juden nahm in Neumanns Analyse einen vergleichsweise kleinen Raum ein: Für ihn war der Antisemitismus die »Speerspitze des Terrors«, der sich auch gegen andere Gruppen wie Sozialisten, Kommunisten, Pazifisten oder Christen richtete. »Die Juden werden wie Versuchstiere benutzt, um die Methoden der Repression zu testen«5, schrieb er in Behemoth, und die gleiche Formulierung findet sich in Neumanns Analyse des Antisemitismus aus dem Mai 1943, die als erster Bericht den Band eröffnet.
In seiner prägnanten und kenntnisreichen Einleitung beschreibt Laudani das schwierige Verhältnis zwischen US-Militärs und europäischen Sozialwissenschaftlern: Beim OSS trafen Neumann und seine Kollegen nicht nur auf Vorbehalte gegenüber den jüdischen Emigranten, sondern auch auf bürokratische Strukturen mit unmissverständlichen, restriktiven Richtlinien, die wissenschaftliche Objektivität und Neutralität während des Krieges einforderten. Zudem wurde den Sozialwissenschaftlern von Beginn an unmissverständlich klar gemacht, dass für »Proust, Joyce oder Gertrude Stein« kein Platz in der Forschungs- und Analyse-Abteilung sei.6 Auch wenn der emigrierte Jurist John Herz meinte, der linke Hegelsche Weltgeist habe zeitweilig Unterschlupf beim OSS gefunden, waren die wissenschaftlichen Mitarbeiter dieses Geheimdienstes rasch frustriert, denn die US-amerikanischen Behörden entschieden sich häufig gegen ihre Vorschläge und Empfehlungen, und die Wissenschaftler-Gruppe um Neumann betrachtete ihren Beitrag zum demokratischen Wiederaufbau Deutschlands als Fehlschlag.
Ohnehin befanden sich Neumann und seine Kollegen mit ihren Auffassungen häufig im Gegensatz zur offiziellen Linie der westlichen Alliierten. Winston Churchill etwa hatte betont, dass die Nazi-Tyrannei und der preußische Militarismus die Hauptelemente im deutschen Leben seien, die vollständig zu zerstören seien. Marcuse widersprach dieser Ansicht energisch: In seinen Augen verdeckte die Gleichsetzung von Nazi-Tyrannei und preußischem Militarismus das aggressive Wirken jener Kräfte, die den Nationalsozialismus gefördert hatten und an der Macht hielten. Dies waren nicht rückständige preußische Junker, sondern die industrielle Bourgeoisie und die Hochfinanz. Die Transformation des Deutschen Reiches in einen zentralisierten totalitären Staat unter einer einheitlichen terroristischen Kontrolle führte zur Auflösung Preußens als politische Einheit. Gleichfalls stellte Neumann die Effektivität der alliierten Luftangriffe infrage: Nach seiner Auffassung spielten sie dem Nazi-Regime in die Hände und stärkten den Zusammenhalt der Heimatfront. Anstatt die politische Apathie der Bevölkerung im Prozess des deutschen Zusammenbruchs zu potenzieren, wäre es nach Meinung Neumanns notwendig gewesen, die demokratischen oppositionellen Kräfte in Deutschland zu einer Befreiung vom Nationalsozialismus von innen her zu befähigen.
Während die US-Behörden eher christlich-konservative Strömungen unterstützten, die sich in der Weimarer Republik als Steigbügelhalter des Nazismus betätigt hatten, favorisierten Neumann und seine Kollegen eher linke Gruppierungen als kleineres Übel. In zwei längeren Analysen über die SPD und die KPD kritisierte Marcuse beide Parteien für ihr Verhalten in der Weimarer Republik. Der SPD warf er ihren »Legalismus« vor, der sie von einem militanten Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtübernahme abgehalten habe. Sie operierte nur innerhalb des institutionellen Rahmens des demokratisch-kapitalistischen Systems. Die KPD dagegen hatte keine Skrupel, sich in den 1920er Jahren opportunistisch des Nationalismus zu bedienen, um sich größere Machtanteile zu sichern. Zwar waren in den 1940er Jahren in der Partei keine nationalbolschewistischen Tendenzen virulent, doch könnten Situationen im Zerfallsprozess des Nazi-Regimes entstehen, mutmaßte Neumann, die eine Wiederbelebung dieser Strömung im Nachkriegsdeutschland stimulieren könnten.
Für die Zeit nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft formulierten Neumann, Marcuse und Kirchheimer dezidierte Vorschläge zur Auflösung der NSDAP und ihrer angegliederten Organisationen, zur Aufhebung der NS-Gesetze und Entnazifizierung des Justizapparats, zur Zerschlagung der Kartelle, die den Aufstieg der Nazis begünstigt hatten und nicht als Tarnung für nationalsozialistische Polit-Organisationen dienen sollten. Zudem befürworteten sie ein Verbot aller Parteien, die Nazi-Ideologie verbreiteten und Nazi-Propaganda betrieben, und eine Wiederbelebung des politischen und konstitutionellen Lebens auf Länder- und Gemeindeebene. In der Frage von Schuld und Verantwortung argumentierte Kirchheimer, dass in der totalitären Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft das Führerprinzip alle Sphären der Gesellschaft durchdrungen habe, sodass alle Führer und Unterführer bis in die tiefste Ebene zur Verantwortung gezogen werden müssten. Statt von einer Kollektivschuld auszugehen, müsse die konkrete individuelle Schuld des Einzelnen verhandelt werden.
In einer Analyse des nationalsozialistischen Gesamtkonzepts zur Herrschaft über Europa aus dem August 1945 beschäftigte sich Marcuse mit den NS-Vorstellungen von »Lebensraum« und »Großraumordnung«. So unterstrich der NS-Ideologe Werner Best (der sich bis zu seinem Tod 1989 der Sühne seiner Verbrechen entziehen konnte), dass Deutschland als »führende Nation«, das Recht, gar die »Mission« habe, alle Rohstoffe und menschlichen Ressourcen innerhalb ihres Großraumbereiches für die Erhaltung ihrer eigenen Herrschaftsposition zu nutzen. Diese totalitäre Tendenz begegnete Marcuse später beim Studium der fortgeschrittenen Industriegesellschaft erneut. Totalitär sei »nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft«, schrieb er in seiner Studie Der eindimensionale Mensch (1964), »sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht.«7 Die Erfahrungen seiner Arbeit für das OSS, in der er die Ausdehnung politischer Kontrolle in alle Lebensbereiche beobachtete, hatten somit auch Einfluss auf seine spätere kritische Wahrnehmung der modernen Industrie- und Massengesellschaft.
Im Kampf gegen Nazideutschland bietet eine interessante Einsicht in die Indienstnahme sozialwissenschaftlicher Methoden und intellektueller »Ressourcen« durch staatliche Agenturen, wobei der Band sowohl nostalgisch-romantisierende Rückblicke einzelner beteiligter Personen als auch ideologisch durchtränkte Gerüchte über den angeblichen Ausverkauf der kritischen Theorie korrigiert. Darüber hinaus versammelt er bislang öffentlich unzugängliche Analysen prominenter Vertreter des Instituts für Sozialforschung. Die Behauptung, diese Berichte stellten einen Beitrag der »Frankfurter Schule« zu den Kriegsanstrengungen zwischen 1943 und 1945 dar (wie sie der Untertitel des Bandes aufstellt), geht jedoch an der Realität vorbei, denn Neumann, Marcuse und Kirchheimer bildeten lediglich eine Fraktion innerhalb »Frankfurter Schule« (Max Horkheimer und Friedrich Pollock vertraten in ihrer Analyse des Nationalsozialismus einen gänzlich anderen Ansatz als Neumann8) und arbeiteten als individuelle Angestellte der bürokratischen Organisation des OSS, nicht als »Agenten« der »Frankfurter Schule«. Nichtsdestotrotz ist der von Raffaele Laudani herausgegebene Band ein bemerkenswertes Buch, das die unmittelbare Analyse des Nationalsozialismus mit allen Hoffnungen, Fehleinschätzungen und Frustrationen jener Zeit eindrucksvoll dokumentiert.
In der »Rückübersetzung« aus dem deutsch durchwirkten Englischen der Emigranten (oder »gebrochenen Englischen«, wie es der Eugene N. Anderson, der Leiter der Mitteleuropa-Sektion des OSS nannte9) musste die Übersetzerin Christine Pries einige sprachliche Schwerfälligkeiten der aus ihrem Land und ihrer Sprache vertriebenen Wissenschaftler überbrücken. »Die stilistischen Unbeholfenheiten, die den begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten im Englischen geschuldet sind […] wurden – möglichst ohne die ursprüngliche Ungehobeltheit ganz zu verdecken – in der Übersetzung ebenfalls behutsam geglättet, zumal es sicherlich keine Lösung sein kann, das gebrochene Englisch deutscher Muttersprachler als gebrochenes Deutsch wiederzugeben«10 So ist bei der Lektüre der übersetzten Texte stets im Hinterkopf zu halten, dass es übersetzte Texte von Übersetzungen sind, wobei die Formulierungen der Gedanken bereits den Vorgaben der staatlichen Institution unterlagen. Theodor W. Adorno hatte im US-amerikanischen wissenschaftlichen Betrieb starke Vorbehalte gegenüber der »Verbesserung stilistischer Mängel«, die »dem Einwanderer unterlaufen« 11. Für ihn war vor allem die Sprache, die ihm eine geistige Heimat bot, ein Beweggrund, trotz allem nach Deutschland zurückzukehren. »Zumindest der geborene Deutsche wird fühlen, daß er das essentielle Moment der Darstellung oder des Ausdrucks, in der fremden Sprache nicht voll erwerben kann«, sagte er in einem Beitrag für den Deutschlandfunk im Jahre 1965. »Schreibt man in einer ernsthaft fremden Sprache, so gerät man, eingestanden oder nicht, unter den Bann, sich mitzuteilen, es so zu sagen, daß die anderen es auch verstehen.«12 Für die emigrierten Angestellten gab es keine Wahl: Sie mussten sich den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bedienen, um sich im staatlichen Apparat zu artikulieren. Marcuse, Neumann und Kirchheimer arrangierten sich mit ihren Unzulänglichkeiten in den Ausdrucksmöglichkeiten der englischen Sprache und leisteten trotz allem einen großen Beitrag zum Kampf gegen die nazistische Terrorherrschaft.
Bibliografische Nachweise:
Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer. Secret Reports on Nazi Germany: The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Hg. Raffaele Laudani. Mit einem Vorwort von Raymond Geuss. Princeton: Princeton University Press, 2013. 679 Seiten, 45,00 US-Dollar.
Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer. Im Kampf gegen Nazideutschland: Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949. Hg. Raffaele Laudani. Mit einem Vorwort von Axel Honneth. Aus dem Englischen übersetzt von Christine Pries. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2016. 812 Seiten, 39,95 Euro.
© Jörg Auberg (2016)
Nachweise
- Diego Giachetti, »Giugno 1969: I ›Caldi‹ Giorni Italiani di Herbert Marcuse«, http://www.marcuse.org/herbert/booksabout/00s/69ItalyLecturesDGiachetti04z.htm ↩
- Paul Buhle und David Wagner, A Very Dangerous Citizen: Abraham Lincoln Polonsky and the Hollywood Left (Berkeley: University of California Press, 2001), S. 75–77 ↩
- Zum Hintergrund siehe Barry M. Katz, »The Criticism of Arms: The Frankfurt School Goes to War«, Journal of Modern History, 59:3 (September 1987):439–478 ↩
- Franz Neumann, Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, 1933–1944, übers. Hedda Wagner und Gerd Schäfer, (Frankfurt/Main: Fischer, 1984), S. 16 ↩
- Neumann, Behemoth, S. 582 ↩
- Raffaele Laudani, »Einleitung«, in: Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, Im Kampf gegen Nazideutschland: Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949, hg. Raffaele Laudani. übers. Christine Pries. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2016), S. 45 ↩
- Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. Alfred Schmidt (Darmstadt: Luchterhand, 1982), S.23 ↩
- Zu den verschiedenen Ansätzen der Institutsmitglieder cf. Martin Jay, Permanent Exiles: Essays on the Intellectual Migration From Germany to America (New York: Columbia University Press, 1986), S. 54–59 ↩
- Laudani, »Zu den Texten«, in: Neumann et al., Im Kampf gegen Nazideutschland, S. 29 ↩
- Christine Pries, »Anmerkungen der Übersetzerin«, ibid., S. 22 ↩
- Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 698 ↩
- Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.700 ↩