Der Grosse Zampano
Marcel Reich-Ranickis Rollen in kritischen Zeiten
von Jörg Auberg
In der Literaturgeschichte der Bundesrepublik nimmt Marcel Reich-Ranicki die Rolle des »mächtigen Literaturkritikers« ein, wie Helmut Böttiger in seiner persönlich gehaltenen Literaturgeschichte der 1970er Jahre unterstrich1. In der Retrospektive war er in den Augen von Autoren nicht – wie beispielsweise Edmund Wilson oder Alfred Kazin – ein eloquenter »homme de lettres« oder ein kritischer Vermittler zwischen Literatur und Geschichte, sondern eher ein Scharfrichter oder Knecht der medialen Hin- und Zurichtung. Den Nachgeborenen ist er vor allem als der Große Zampano des »Literarischen Quartetts« oder als selbstherrlich agierender Chef des literarischen machtpolitischen Spektakels »Ingeborg-Bachmann-Preis« in Erinnerung (über die »Abmurksung« Jörg Fausers vor dem »Klagenfurter Volksgerichtshof« im Jahre 1984 echauffierte sich der Schriftsteller Michael Köhlmeier noch Jahrzehnte später2)
Die Titelbilder des Spiegel, die Reich-Ranicki als bücher- und autorenfressende Bestie zeigten, verstärkten Reich-Ranickis Reputation als »Medienintellektueller«, der weniger durch literaturkritische Werke (wie Wilson oder Kazin) hervorstach, sondern schon früh das Medium Fernsehen für sich und seine Art der Literaturvermittlung nutzte. Bereits 1964 präsentierte er die Rundfunk- und Fernsehsendung »Das literarische Kaffeehaus«, in dem er intellektuelle Gäste wie Theodor W. Adorno, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Wolfgang Koeppen, Martin Walser und andere Koryphäen des bundesrepublikanischen Kulturbetriebes begrüßte. »Die Sendung endete stets«, beobachtete der Historiker Axel Schildt, »mit dem Brecht-Zitat: ›Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.‹ Als 1988 die Sendung ›Literarisches Quartett startete, behielt Reich-Ranicki das Zitat bei.«3
In den ideologisch verfestigten 1970er Jahren war Reich-Ranicki oft Ziel einer sich radikal wähnenden Kritik, die den Literaturkritiker gern als Büttel seines Arbeitgebers darstellte. Symptomatisch ist eine Attacke Hermann L. Gremlizas, des Herausgebers der linken Zeitschrift konkret, aus dem Mai 1976. In einem Verriss eines Romans Martin Walsers hatte Reich-Ranicki den Autor als »geistigen Bajazzo der revolutionären Linken in der Bundesrepublik Deutschland« verhöhnt, was Gremliza (damals noch) auf die Palme brachte. »Mode, Jongleur, Showmaster, Bajazzo … wer über das politische Bekenntnis eines Schriftstellers so redet«, echauffierte sich HLG, »als sei es das irgendeines Feuilleton-Redakteurs der sich mit Grund ›Allgemein‹ nennenden ›Frankfurter‹, verliert seinen Anspruch auf bloß literarische Befassung. Fragen der Hygiene verlangen nach anderen Antworten. Im Wiederholungsfall werden sie gegeben werden.«4 Später arrangierte sich jedoch die radikale Hamburger Linke mit dem Großkritiker, goutierte – in Gestalt von Hermann Peter Piwitt – das »Liebenswerte an dem Frankfurter Reich-Ranicki« und erhob ihn zum »critique maudit«.5 Der Chef selbst bereute seine garstigen Worte aus den 1970er Jahren und ließ sich zu einer außerordentlichen Lobhudelei hinreißen: »Marcel Reich-Ranicki hat sich […] Wie kein zweiter um die bürgerliche Erziehung der deutschen Intelligenz und also um Deutschland verdient gemacht«, konstatierte Gremliza im Sommer 1994. »Das ist viel für einen, der einst etwas war, womit man sich um Deutschland nicht verdient machen kann: Pole, Kommunist und Jude.«6
Im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek ist momentan eine von Sylvia Asmus und Uwe Wittstock kuratierte Ausstellung zu sehen, welche die diversen Rollen in Marcel Reich-Ranickis Leben thematisiert. 1920 in Polen geboren, siedelte er nach der Insolvenz der Firma seines Vaters nach Berlin über, wo er 1938 noch sein Abitur machen konnte, doch blieb ihm der Zugang zu einer deutschen Universität versperrt. Wenig später wurde er nach Warschau deportiert, wo er ab 1940 als Leiter des Übersetzungs- und Korrespondentenbüros im »Judenrat« des Warschauer Gettos arbeitete, bis ihm 1943 vor der Vernichtung durch die Deutschen die Flucht aus dem Getto gelang. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges war er für den polnischen Auslandsnachrichtendienst tätig, unter anderem als Vizekonsul und Konsul 1948–49 in London, wo er zugleich unter dem Decknamen »Albin« für den polnischen Geheimdienst spionierte. In der Hochzeit des paranoiden Stalinismus wurde er 1950 aus polnischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen und 1953 mit einem Publikationsverbot belegt, das ein Jahr später wieder aufgehoben wurde. Fünf Jahre später zog er nach Hamburg um, wo sein Aufstieg als eloquenter und medienaffiner Literaturkritiker (zunächst bei der Wochenzeitung Die Zeit und später in Frankfurt als Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) im Zeitraffer erfolgte.
Der reich bebilderte, mit großformatigen Zitaten von Marcel Reich-Ranicki und anderen Autoren bestückten Begleitband zur Ausstellung dokumentiert in seinen »rollenbasierten« Kapiteln amtliche Schreiben, persönliche Briefe und private Fotografien die unterschiedlichen Rollen, die Reich-Ranicki im Laufe seines Lebens, etwa seine »Doppelrollen« als Vizekonsul und Agent in London, als Jude und Atheist, Medienstar und Paria. »Ich bin kein Deutscher«, unterstrich er, »meine Heimat ist die deutsche Literatur«.7 Während er den Nachgeborenen als leicht erregbarer älterer Herr des Medienzirkus in Erinnerung ist, zeigen ihn Fotos mit seinem temporären Freund Walter Jens auf Sylt im Jahre 1967, als beide noch nicht durch die Furchen des Alters gezeichnet waren.
Reich-Ranicki betrachtete – sowohl in seiner Rolle als Feuilletonchef der FAZ wie auch als berserkerhaft auftrumpfender Gastgeber des »Literarischen Quartetts« – »Kritik als pädagogische Aufgabe«. Kritiker wie Günter Grass warfen ihm vor, im gleißenden Scheinwerferlicht der Medieninszenierung Literaturkritik zu trivialisieren, während Reich-Ranicki für sich in Anspruch nahm, sie zu popularisieren.8 In seinem kritischen Gewerbe gab es nur »Verrisse« oder »Lobreden«, die häufig ideologisch oder von Unverständnis geprägt waren und sich in ihren tribunalartigen Schmähreden verstohlen aus dem Schimpf- und Lasterkatalog stalinistischer Prägung bedienten. In seiner Rolle als Kritiker gerierte sich Reich-Ranicki wie ein autoritärer Kulturkommissar, der bestimmte, wer die »literarische Fahrerlaubnis« erhielt und am kulturellen Kreisverkehr teilnehmen durfte.9 Gegen den deutsch-deutschen »Literaturstreit« nach der Implosion der DDR 1990, die aufgeheizten Debatten im »germanozentrischen Alptraum« plädierte Lothar Baier für eine »rettende Kritik« im Sinne Walter Benjamins10, die jedoch im überhitzten Spektakel analoger wie sozialer Medien kaum noch einen angemessenen – sozialkritischen – Raum findet.
© Jörg Auberg 2022
Bibliografische Angaben:
Sylvia Asmus und Uwe Wittstock.
Marcel Reich-Ranicki:
Ein Leben, viele Rollen.
Frankfurt/Main: Deutsches Exilarchiv 1933–1945/Deutsche Nationalbibliothek, 2022.
96 Seiten.
ISBN: 978–3‑941113–56‑5.
Bildquellen (Copyrights) |
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Front-Cover Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen |
© Deutsches Exilarchiv 1933–1945/Deutsche Nationalbibliothek |
Back-Cover Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen |
© Deutsches Exilarchiv 1933–1945/Deutsche Nationalbibliothek |
Cover Thomas Mann und die Seinen |
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Nachweise
- Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung: Die 70er — eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur (Göttingen: Wallstein Verlag, 2021), S. 331 ↩
- »Abmurksung in Klagenfurt«, Frankfurter Rundschau, 5. Juli 2013, https://www.fr.de/kultur/abmurksung-klagenfurt-11384740.html; siehe auch das Vorwort Katja Kullmanns zu: Jörg Fauser, Der Klub, in dem wir alle spielen: Über den Zustand der Literatur (Zürich: Diogenes, 2020), S. 9–10 ↩
- Axel Schildt, Medienintellektuelle in der Bundesrepublik, hg. Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried (Göttingen: Wallstein, 2020), S. 613–614 ↩
- Hermann L. Gremliza, »Jetzt reicht’s, Ranicki«, konkret, Nr. 5 (Mai 1976), S. 44 ↩
- »Hermann Peter Piwitts kleines Feuilleton«, konkret, Nr. 1 (Januar 1987), S. 64 ↩
- Hermann L. Gremliza, »Der Spion, der unter die Deutschen kam«, konkret, Nr. 8 (August 1994), S. 9 ↩
- Sylvia Asmus und Uwe Wittstock, Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen (Frankfurt/Main: Deutsches Exilarchiv 1933–1945/Deutsche Nationalbibliothek, 2022), S. 31 ↩
- Asmus und Wittstock, Marcel Reich-Ranicki: Ein Leben, viele Rollen, S. 50, 80 ↩
- Cf. Lothar Baier, »Literaturpfaffen: Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando«, Freibeuter, Nr. 57 (Oktober 1993), S. 68 ↩
- Lothar Baier, Die verleugnete Utopie: Zeitkritische Texte (Berlin: Aufbau, 1993), S. 9–10 ↩