Leben oder erzählen
Fjodor Dostojewskis »Untergrundmensch« wird in einer neuen Übersetzung der Deformation durch den reaktionären Zeitgeist geopfert.
Von Jörg Auberg
Fjodor M. Dostojewskis Novelle Zapiski iz podpolʹja aus dem Jahre 1864 zählt zu den großen literarischen Texten des 19. Jahrhunderts, die auf die intellektuelle Entwicklung der Moderne eine immense Wirkung ausübten. Von Dostojewskis »Untergrundmenschen« (wie der namenlose Erzähler häufig genannt wurde) wurden Autoren wie Thomas Mann und Franz Kafka, Jean-Paul Sartre und Albert Camus, Saul Bellow und Isaac Rosenfeld, Richard Wright und Ralph Ellison beeinflusst. Im ersten Teil der Novelle wendet sich der »Untergrundmensch«, ein vierzigjähriger ehemaliger Beamter der Petersburger Bürokratie, an ein imaginäres Publikum, um über sich, seine Krankheiten und psychischen Defekte sowie die Welt im Allgemeinen zu räsonieren. Nachdem ihm eine kleine Erbschaft zugefallen war, ging der »bösartige Bürokrat« und »Grobian« in den Ruhestand und richtete sich in seinem Winkel abseits der Gesellschaft ein. In einer fiktiven Öffentlichkeit entblößt sich der »Untergrundmensch«, um über die Verderbtheit und Unmoral zu schwadronieren und gegen den westlichen intellektuellen Zeitgeist, gegen wissenschaftliche Rationalität und liberalen Fortschrittsglauben vom Leder zu ziehen. Nachdem er sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hat, sucht er – wenn auch mit einer großen Portion Skepsis – seine Errettung im Schreiben. »Das Schreiben ist […] doch tatsächlich so etwas wie Arbeit«, konzediert er. »Man sagt doch, dass der Mensch durch Arbeit gut und ehrlich wird. Das ist zumindest eine Chance.«1
Im zweiten Teil des Romans geht Dostojewskis Antiheld in die erzählerische Offensive. Zunächst schildert er einen Konflikt mit alten Klassenkameraden, die ein Abschiedsessen für den Offizier Swerkow geben. Ungeladen dringt er in die Zusammenkunft, um sich für die frühere Geringschätzung und Herabwürdigung zu revanchieren, doch scheitert er mit seinem Versuch der Revanche und wird vom Offizier nicht wie ein ebenbürtiger Gegner, sondern wie ein lästiges Insekt behandelt. Herablassend verweigert ihm der Offizier Satisfaktion in einem Duell. Nach dieser Erniedrigung findet er sich in einem Bordell mit der Prostituierten Lisa wieder, die er in einem langen Monolog mit herrischem Bewusstsein niederzuringen versucht, denen schließlich sei er – trotz aller Verderbtheit – »niemandes Knecht«2, während sie von Beginn an die Existenz einer Sklavin führe. Doch seine vorgebliche Freiheit nützt ihm nicht viel: In seinem radikalen Hass auf die Welt vergräbt er sich in seinem selbst gewählten Exil. »Soll die Welt untergehen oder soll ich nie wieder Tee trinken?«, fragt er rhetorisch. »Ich meine, die Welt mag untergehen, wenn ich bloß weiterhin meinen Tee zu trinken bekomme.«3 Am Ende verendet der »Untergrundmensch« als Kleinbürger, der sich im Behaglichen einrichtet und über den eigenen kleinen Winkel nicht hinaus schaut. Für einen späteren Nachfolger, den Außenseiter Antoine Roquentin in Jean-Paul Sartres Debütroman La Nausée (1938), bestand eine existenzielle Wahl: »Aber man muss wählen: leben oder erzählen.« Dostojewskis »Untergrundmensch« entscheidet sich für das Letztere: Auch nachdem ihn alle verlassen haben, hört er nicht auf: »Er konnte sich nicht zurückhalten und machte weiter.«4
In der Vergangenheit erschien Dostojewskis Kurzroman in verschiedenen Übersetzungen auf Deutsch. Elisabeth Kaerrick (1886–1966) übertrug ihn unter dem Pseudonym E. K. Rahsin für den Piper-Verlag unter dem Titel Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Swetlana Geier (1923–2010) wählte als Titel ihrer Übersetzung Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Die neue Übersetzung Felix Philipp Ingolds unter dem Titel Aufzeichnungen aus dem Abseits verfolgt ähnlich wie Kirsten Lodges englische Neuübersetzung5 aus dem Jahre 2014 eine genauere Abbildung von Dostojewkis Einsatz der Umgangssprache, indem sie anders als die früheren Übersetzungen alltagssprachliche und vulgäre Begriffe wie »Gutmensch«, »Geilheit«, »Schlampe« oder »Stinkefinger« verwendet. Andererseits versteigt sich Ingold auch in verschrobene Termini wie »retrograd« (in den früheren Übersetzungen hieß es klar »reaktionär« oder »rückschrittlich«) oder »Verschlaufungen« (um die Komplexität des »Untergrundmenschen« gewissermaßen »einzuschweizern«).6
Vor allem aber der Begriff »Abseits« im Titel bleibt fragwürdig. Den Terminus »Untergrund«, den selbst Lodge in ihrer Neuübersetzung beibehält, lehnt Ingold aufgrund einer vorgeblichen politischen Konnotation ab, während er andererseits stark ideologisch besetzte Begriffe wie »Gutmensch« oder »Stinkefinger« bedenkenlos in den Text einführt. »Wohl bezeichnet das Wort podpol‘e eine Örtlichkeit, die ›unter‹ (pod) dem ›Boden‹ gelegen ist, doch ist der Begriff im Russischen durchweg politisch konnotiert […]«7, behauptet der Übersetzer. Der Terminus »Untergrund« bezeichne laut Ingold stets einen politischen oder zumindest verschwörerischen Widerstand. So ist diese Neuübertragung nicht der Versuch einer besseren Übersetzung, sondern ein ideologisches Unterfangen. »Der Erzähler wird […] von falschen politischen Konnotationen befreit«, exklamiert der Übersetzer in autoritärem Gestus, »er ist kein regimefeindlicher Verschwörer oder Untergrundkämpfer, sondern ein ebenso konsequenter wie exzentrischer Einzelgänger […].«8
Damit wird der »Untergrundmensch« in einer feindlichen Übernahme der Volksgemeinschaft der »Wutbürger« einverleibt, in der keine gesellschaftliche Opposition mehr existiert. Gedanken an »moralische Untergrundlinge«9 (wie sie Isaac Rosenfeld formulierte) oder Ideen subkultureller Deviationen (wie sie Jack Kerouac in The Subterraneans beschrieb oder Bob Dylan in Subterranean Homesick Blues besang) werden ausgelöscht. So wird die letzte Zelle des Widerständigen im Unterirdischen, in dem sich ein Freiraum jenseits der totalen Vergesellschaftung erhält, von der Bildfläche getilgt. Unter dem Vorwand, einen alten Text von falschen Vorstellungen zu befreien, wird die alte Zeit des Grauens neu aufbereitet. Oder mit Max Horkheimer gesprochen: »Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat.«10
Bibliographische Angaben:
Fjodor Dostojewski.
Aufzeichnungen aus dem Abseits.
Aus dem Russischen neu übersetzt und herausgegeben von Felix Philipp Ingold.
Zürich: Dörlemann, 2016.
256 Seiten, 19,00 EUR.
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Eine kürzere Fassung erschien in literaturkritik.de, Nr. 12 (Dezember 2016)
© Jörg Auberg 2016
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Porträt Fjodor Dostojewski (1876) — WikiMedia Commons
Cover Aufzeichnungen aus dem Untergrund — Deutscher Taschenbuch Verlag 1985
Cover Aufzeichnungen aus dem Kellerloch — Fischer 2006
Cover Notes from the Underground — Broadview Press 2014
Cover Aufzeichnungen aus dem Abseits — Dörlemann 2016
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Nachweise
- Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, hg. und übers. Felix Philipp Ingold (Zürich: Dörlemann, 2016), S. 71 ↩
- Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, S. 156–157 ↩
- Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, S. 206 ↩
- Jean-Paul Sartre, Der Ekel, übers. Uli Aumüller (Reinbek: Rowohlt, 1982), S. 50 ↩
- Fyodor Dostoevsky, Notes from the Underground, übers. Kirsten Lodge (Peterborough, ON: Broadview Press, 2014 ↩
- Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, S. 37, 132, 189, 49, 46, 243 ↩
- Ingold, Nachwort zu: Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, S. 252 ↩
- Ingold, Nachwort zu: Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Abseits, S. 254 ↩
- Isaac Rosenfeld, »Journal of a Generation« (1943), rpt. in: Isaac Rosenfeld, An Age of Enormity: Life and Writing in the Forties and Fifties, hg. Theodore Solotaroff (Cleveland: World Publishing Company, 1962), S. 47 ↩
- Max Horkheimer, »Autoritärer Staat« (1940/1942), in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, hg. Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 313 ↩