Der Heilige des Gewerbes
Peter Suhrkamp und die »innere Emigration« im »Dritten Reich«
Von Jörg Auberg
I. Für Walter Boehlich, den ehemaligen Cheflektor des Suhrkamp Verlages, war Peter Suhrkamp mit einem »Heiligenschein« ausgestattet. Er war, sagte Boehlich in einem Rundfunkessay anlässlich des hunderten Geburtstages des legendären Verlegers im Jahre 1991, »das Aushängeschild des ›besseren Deutschland‹, das Alibi für die Mitläufer und Mitmacher, die Schurken und Schufte«.1 Mittlerweile wird diese Wertschätzung jedoch vielfach nicht mehr geteilt. In einer Hauptinformationsquelle des digitalen Zeitalters, der Wikipedia, wird im Artikel zu Peter Suhrkamp unkritisch ein Artikel aus dem rechten Polit-Magazin Cicero als Quelle zitiert, in dem Suhrkamp als »Verräter« und »Erpresser« dargestellt wird, der mit dubiosen Methoden sich seinen Verlag »ergaunert« habe.2 Angesichts der Verfolgung Suhrkamps im »Dritten Reich« und seiner Inhaftierung im Berliner Gestapo-Gefängnis Lehrter Straße und in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück gehört diese Denunziation in einem »öffentlichen Informationsmedium«, dem Millionen unbedarfter Leser ungeprüft Glauben schenken, in die endlose Phalanx der digitalen Obszönitäten. »Die Rebarbarisierung ist einer der Aspekte unserer Zeit«3, merkte Boehlich wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Auch heute ist die Barbarei eine zuverlässige Größe des Zeitalters.
II. Die von Wolfgang Schopf herausgegebene Briefedition »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, in der Briefe von Peter Suhrkamp und seiner Frau Annemarie Seidel aus den Jahren von 1935 bis 1959 versammelt sind, bietet einen Einblick in die Existenz unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Suhrkamp war dem bäuerlichen Leben im Oldenburger Land entflohen, hatte zunächst als Lehrer und später als Dramaturg und Theaterkritiker in Hessen gearbeitet, ehe er 1933 Mitarbeiter im S. Fischer Verlag und schließlich der Leiter der Neuen Rundschau wurde. Als er 1935 die Schauspielerin Annemarie Seidel heiratete, war es für ihn bereits die vierte Ehe. Seidel, eine Schwester von Ina Seidel (die zu den wichtigsten Schriftstellern der »Gottbegnadeten-Liste« gehörte und »wegen Hitlerhuldigung« Glückwunschkind genannt wurde4), war zuvor mit dem niederländischen Musikwissenschaftler Anthony van Hoboken verheiratet, der ihr sein Haus am Watt von Kampen auf Sylt überließ, das in den 1930er Jahren zum insularen Rückzugsort von Suhrkamp und Seidel wurde. Seidel träumte davon, »wenn endlich diese Zeit vorbei« sei, »völlige Inselmenschen« zu werden, doch blieb die Insel Sylt stets nur ein temporärer Fluchtort, wo alles »ganz nah und gegenwärtig und zugleich in einer gläsernen Ferne« schien.5
Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.
– Thomas Mann6
Während Seidel in den 1930er Jahre immer wieder Zuflucht auf Sylt suchte, blieb Suhrkamp in Berlin zurück, wo er den S. Fischer Verlag mit Mitarbeitern wie Oskar Loerke und Ernst Penzoldt gegen die Angriffe des nationalsozialistischen Regimes zu verteidigen suchte, doch litt er »physisch und seelisch unter der NS-Diktaktur«7. Die Folgen waren ein permanentes Magenleiden und ein Magendurchbruch. »Die Latrinenparolen wachsen im Quadrat des sich häufenden Drecks«8, schrieb er 1938. Trotz aller Beharrlichkeit konnte Suhrkamp nicht verhindern, dass der Name Fischer aus dem Verlagsnamen 1942 getilgt wurde. [pullquote]Heute ist mir das Gehirn wie verstaucht und so, als sollte der Schädel zerspringen. – Peter Suhrkamp, KZ Ravensbrück, Mai 19449[/pullquote]Zwei Jahre später wurde Suhrkamp auf Grund einer Denunziation des Gestapo-Spitzels Paul Reckzeh verhaftet und vom April 1944 bis zum Februar 1945 in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. Nach seiner Haftentlassung war er, schrieb Boehlich, »nur noch ein Wrack«, gezeichnet von direkten Krankheiten, »die er seinen Folterern verdankte«10.
III. Der Bruch mit Gottfried Bermann Fischer zeichnete sich schon in den 1930er Jahren ab. Der Heirat seines Freundes Suhrkamp mit Annemarie Seidel stand er reserviert gegenüber, vor allem weil Seidel offenbar auch von der »antisemitischen Welle« erfasst wurde. »Den Juden ist es bisher in Deutschland so gut gegangen«, resümierte Bermann Fischer in seinen Memoiren ihre Position, »jetzt kann es ihnen ruhig auch mal schlecht gehen.«11 Konkret vollzog sich der Bruch der Freundschaft an den Modalitäten der Restitution des Verlages an seine emigrierten Inhaber und den unterschiedlichen Vorstellungen des Verlagsprogramms. In den Augen Bermann Fischers vertrat Suhrkamp das Programm eines »Elite-Verlages«, was ihn im Gegensatz zu den »Grundprinzipien S. Fischers« stellte. »Bücher gehören nicht in die Masse, nur in die Hände der Auserlesenen«, soll Suhrkamp seine Vorstellung beschrieben haben.12 Zudem war Bermann Fischer der »autokratische Zug«, »das Lehrerhafte und zugleich Undurchsichtige« in Suhrkamps Wesen suspekt.13
Tatsächlich trieb Suhrkamp eine kulturkonservative Vorstellung an: Im Gegensatz zu Bermann Fischer und Ernst Rowohlt verabscheute er die Massenware der Taschenbücher, und er wollte »keine Buchfabrik, keine Riesenprogramme«.14 Ihn schauderte vor der »Lesefertigkeit« als Technik im Zeitalter der Massenkultur, in dem sich der Geist verflüchtigte und der Flachheit der Filmleinwand anpasste. »Das ist die rechte Verfassung für die Wirkung der Propaganda«, schrieb er 1947 in dem programmatischen Essay »Über das Lesen«. »Deswegen wird in unserem Zeitalter der Propaganda auf das Viel-Lesen hingedrängt, auf Lesefertigkeit, und darum werden in modernen Staaten die Millionenziffern der Bücher gezählt.«15 Suhrkamp wollte sich auf das wenige Wichtige konzentrieren und nicht das gefräßige Heer der »Bücherfresser« mit immer neuem »Lesestoff« versorgen. Mit diesem »Programm« hätte sein Verlag vermutlich die Zeiten nach 1959, dem Jahr seines Todes, nicht überlebt.
Der Bruch zwischen Suhrkamp und Bermann Fischer beruhte auch, unterstreicht Rainer Stach in seiner Geschichte des S. Fischer Verlages, auf den unterschiedlichen Erfahrungen der »inneren« und »äußeren« Emigration. Beide Männer waren Verfolgte des Nazi-Regimes, doch während Suhrkamp »angesichts der Judenverfolgung, Anpasserei, Denunziation und Krieg die Meinung der ›Massen‹ geringschätzen lernte und nur noch an der eigenen ›inneren Person‹ Halt fand, gewöhnte sich Bermann Fischer an die weltoffene, liberale Atmosphäre New Yorks«.16
Zudem schlug Bermann Fischer das deutsche Ressentiment gegen die »Exilanten« entgegen, das selbst ein renommierter Autor wie Hermann Hesse bemühte, der von Fischer zum neuen Suhrkamp-Verlag überwechselte und dort zur »Cash-Cow« wurde. Der »treue Suhrkamp« habe, schrieb er in einem von Schwaden eines unterschwelligen Antisemitismus erfüllten Brief, mit »Gefängnis, KZ, Folterung und Verurteilung zum Strang gebüßt«, während die jüdischen Erben »im Luxusauto« zurückkehrten und den, »der für sie den Kopf hingehalten hatte«, auf die Straße setzten.17 Realiter wurde Suhrkamp von Bermann Fischer nicht in die Obdachlosigkeit gestoßen, sondern die Kontrahenten einigten sich auf einen Vergleich: Jene Autoren, die früher bei »Fischer/Suhrkamp« publiziert hatten, konnten sich entweder für den S. Fischer Verlag oder den neuen Suhrkamp Verlag zu entscheiden. Von den 48 Autoren optierten 33 für den neuen Verlag, der jedoch zunächst noch etwas altmodisch und konservativ daher kam und seine Werbebroschüre Dichten und Trachten nannte.18
Auf keinen Fall wollte er Taschenbücher machen, und wenn es schon billige Bücher geben musste, sollten sie so schön gemacht sein wie seine Bibliothek Suhrkamp.
– Walter Boehlich19
Auch wenn der Suhrkamp Verlag später mit Autoren wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Samuel Beckett und vielen anderen Generationen kritischer Leser und Leserinnen wie kaum ein anderer Verlag in der Bundesrepublik beeinflusste, war Peter Suhrkamp, der seine letzten Jahre als »möblierter Herr« im Taunus verbrachte, nie ein Verleger der Avantgarde, jedoch ein beharrlicher Liebhaber von Büchern, die noch wie Bücher aussahen. Für die Übersetzung von Marcel Prousts Opus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit opferte er selbst das Hoboken-Haus auf Sylt und verkaufte es an Axel Springer, den Verleger des blutrünstigen Boulevard-Blattes BILD.
IV. Nachdem Suhrkamp 1950 mit seinem Verlag von Berlin nach Frankfurt am Main gezogen war, eröffnete er der »lieben Mirl«, die er früher einmal die »geliebteste Mirl« genannt hatte, seinen Wunsch, »die äußere Form der Ehe« aufzugeben. »Ich sehe mit Schrecken«, schrieb er im Juli 1950, »was wir uns gegenseitig in unserem Eigensinn angetan haben. Es sind nicht nur die Verkrüppelungen und Vergiftungen im Innern, diese Verkorkstheiten zum Unmenschlichen, die noch ständig fortschreiten.«20 Die Scheidung erlebten beide jedoch nicht mehr: Sie starben kurz hintereinander im Jahre 1959.
Die Gründe für diese Entfremdung finden sich weder in den Briefen noch im Nachwort des Herausgebers Wolfgang Schopf. Zwar sind die meisten Briefe mit vielen aufschlussreichen Erläuterungen ergänzt, doch bleibt das Nachwort des Herausgebers für den Leser, dem sich nicht die historischen und persönlichen Kontexte erschließen, unbefriedigend. Zudem ist Schopfs Charakterisierung von Suhrkamps Tätigkeit im »Dritten Reich« als »Spagat zwischen Integrität und Verrat«21 überaus fragwürdig: Worin soll der Verrat Suhrkamps bestanden haben? Schopf präsentiert nicht einen einzigen Beleg und liefert keine Argumentation für seine Behauptung, sondern streut lediglich ein Gerücht. In der historischen Realität zeichnete Suhrkamp eine Widerborstigkeit und Widerständigkeit aus, die ihn davor bewahrten, andere ans Messer zu liefern. »Daß er gegen die Nationalsozialisten aushielt«, schrieb Theodor W. Adorno 1959 in einem Nekrolog, »war keine Sache von Moral, sondern eine von Charakter im genauesten Sinn: Idiosynkrasie, in seiner Natur eingegraben. Er hätte schlechterdings nicht mitmachen können. Das verurteilte ihn zum Konzentrationslager, zur Zerstörung seiner Lunge, zu dem langen, mit klaglosem Unwillen wie eine Belästigung getragenen Siechtum. Er starb als eines der letzten Opfer.«22 Dass der Herausgeber Schopf ihm »Verrat« andichtet, schädigt diese sonst verdienstvolle Briefedition.
Bibliografische Angaben:
Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel.
»Nun leb wohl! Und hab’s gut!«
Briefe 1935–1959.
Herausgegeben von Wolfgang Schopf.
Berlin: Suhrkamp, 2016.
847 Seiten, 48,00 EUR.
Bildquellen (Copyrights) |
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Foto Peter Suhrkamp 1955 | © Suhrkamp Verlag. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages |
Cover Suhrkamp | © Suhrkamp Verlag |
Cover Fischer | © Fischer Taschenbuch Verlag |
© Jörg Auberg 2017
Nachweise
- Walter Boehlich, »Ein alter Herr mit verschollenen Manieren«, Bayrischer Rundfunk, 24. März 1991, rpt. in: Boehlich, Die Antwort ist das Unglück der Frage: Ausgewählte Schriften, hg. Helmut Peitsch und Helen Thein (Frankfurt/Main: S. Fischer, 2011), S. 116 ↩
- https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Suhrkamp; Ingo Langner, »Wie Peter Suhrkamp sich seinen Verlag ergaunerte«, Cicero, 29. Mai 2013, http://cicero.de/salon/fischer-wie-peter-suhrkamp-sich-den-verlag-ergaunerte/54562 (Stand Januar 2017). Der Autor publiziert u. a. auch bei dem rechtsextremen Online-Portal eigentümlich frei, das unter »libertärer« Flagge segelt. ↩
- Boehlich, »Goethe und seine Zeit« (1948–50), in: Boehlich, Die Antwort ist das Unglück der Frage, S. 465 ↩
- Ernst Klee, Kulturlexikon zum Dritten Reich (Frankfurt/Main: Fischer, 2009), S. 507 ↩
- Peter Suhrkamp und Annemarie Seidl, »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, Briefe 1935–1959, hg. Wolfgang Schopf (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 44; Peter Suhrkamp, »Die nordfriesische Insel« (1943), in: Suhrkamp, Der Leser: Reden und Aufsätze (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986), S. 84. Der Aufsatz wurde in zahlreichen Sylt-Büchern nachgedruckt. ↩
- Thomas Mann, zitiert in: Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (München: C. H. Beck, 2011), S. 380 ↩
- Jan-Pieter Barbarian, Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger und Buchhändler im NS-Staat (Essen: Klartext Verlag, 2008), S. 265 ↩
- Peter Suhrkamp, Brief vom 12. August 1938, in: Suhrkamp und Seidl, »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, Briefe 1935–1959, S. 256 ↩
- Peter Suhrkamp, Brief vom 25. Mai 1944, KZ Ravensbrück, in: Suhrkamp und Seidl, »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, Briefe 1935–1959, S. 508 ↩
- Boehlich, »Ein alter Herr mit verschollenen Manieren«, S. 127 ↩
- Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt: Weg eines Verlegers (1967; rpt. Frankfurt/Main: Fischer, 1994), S. 133–134 ↩
- Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt: Weg eines Verlegers, S. 401–402 ↩
- Klaus Harprecht, Thomas Mann: Eine Biographie (Reinbek: Rowohlt, 1996), S. 1807 ↩
- Boehlich, »Ein alter Herr mit verschollenen Manieren«, S. 116, 118 ↩
- Peter Suhrkamp, »Über das Lesen«, in: Suhrkamp, Der Leser, S. 11 ↩
- Rainer Stach, 100 Jahre S. Fischer Verlag, 1886–1986: Kleine Verlagsgeschichte (1986; rpt. Frankfurt/Main: S. Fischer, ³2003), S. 160 ↩
- Harprecht, Thomas Mann, S. 1808 ↩
- Boehlich, »Ein alter Herr mit verschollenen Manieren«, S. 131 ↩
- Boehlich, »Ein alter Herr mit verschollenen Manieren«, S. 130 ↩
- Suhrkamp, Brief vom 11. Juli 1950, in: Suhrkamp und Seidl, »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, Briefe 1935–1959, S. 701 ↩
- Wolfgang Schopf, »›Aber eine Form müssen wir finden‹«, in: Suhrkamp und Seidl, »Nun leb wohl! Und hab’s gut!«, Briefe 1935–1959, S. 802 ↩
- Theodor W. Adorno, »Dank an Peter Suhrkamp« (1959), in: Adorno, Vermischte Schriften, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 487 ↩