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Aus den Archiven: Walter Benjamin — A Critical Life

A

Tod in den Pyrenäen

In ihrer meis­ter­haf­ten Bio­gra­fie erzäh­len Howard Eiland und Micha­el W. Jen­nings das kom­ple­xe Leben Wal­ter Ben­ja­mins und wer­fen einen pano­ro­ma­ti­schen intel­lek­tu­el­len Blick auf das unter­ge­gan­ge­ne Euro­pa, das vom deut­schen Grö­ßen­wahn zer­stört wurde.

von Jörg Auberg

»Jeder Intel­lek­tu­el­le in der Emi­gra­ti­on, ohne alle Aus­nah­me, ist beschä­digt und tut gut dar­an, es sel­ber zu erken­nen, wenn er nicht hin­ter den dicht geschlos­se­nen Türen sei­ner Selbst­ach­tung grau­sam dar­über belehrt wer­den will.«

Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Moralia

Als Wal­ter Ben­ja­mins Flucht vor den Deut­schen, die mit sei­nem Selbst­mord in den Pyre­nä­en ende­te, im Jah­re 1965 erin­nert wur­de, beschrieb ihn sein lebens­lan­ger Freund Gers­hom Scholem als eine Figur aus der völ­li­gen Ver­ges­sen­heit. Sein Name gehör­te zu »den ver­schol­lens­ten in der geis­ti­gen Welt«. Jah­re spä­ter ent­brann­te bei der Her­aus­ga­be der gesam­mel­ten Schrif­ten Ben­ja­mins ein ideo­lo­gi­scher Gra­ben­kampf, bei dem Ben­ja­min als Kron­zeu­ge gegen die über­le­ben­den Reprä­sen­tan­ten der Kri­ti­schen Theo­rie wie Max Hork­hei­mer und Theo­dor W. Ador­no in in Beschlag genom­men wur­de. Der »Frank­fur­ter Schu­le« wur­den nicht allein Kon­ver­tie­rung zum Kon­ser­va­tis­mus, Aus­ver­kauf und Pra­xis­fer­ne vor­ge­wor­fen, son­dern auch die Drang­sa­lie­rung Ben­ja­mins zu des­sen Leb­zei­ten und Ver­stüm­me­lung sei­ner Tex­te in der von dem Ador­no-Schü­ler Rolf Tie­de­mann maß­geb­lich ver­ant­wor­te­ten ers­ten Edi­ti­on der Ben­ja­min-Schrif­ten. Im Zuge der Stu­den­ten­re­vol­te 1968 wur­de Ben­ja­min, dem eine aka­de­mi­sche Kar­rie­re in Deutsch­land ver­wehrt blieb, schließ­lich in einer bit­te­ren Iro­nie der Geschich­te zu einem aka­de­mi­schen Pop­star, des­sen Schrif­ten die Grund­la­ge für zahl­lo­se Kar­rie­ren von der Geschich­te aus­ge­mus­ter­ter Berufs­re­vo­lu­tio­nä­re in den Agen­tu­ren der Bil­dungs- und Wis­sens­in­dus­trie bil­de­te. Wäh­rend sie sich eine gesi­cher­te Exis­tenz in den Insti­tu­tio­nen erkauf­ten, ent­schlu­gen sie sich der Intel­lek­tua­li­tät, wie sie Leo Löwen­thal in einem Essay über Wal­ter Ben­ja­min beschrieb: als »Unab­hän­gig­keit im selbst­ge­wähl­ten Exil«. So blie­ben die selbst­er­nann­ten Ben­ja­min-Schü­ler der nach­wach­sen­den Gene­ra­tio­nen in ihrem Epi­go­nen­tum in den aka­de­mi­schen Hier­ar­chien ste­cken und wid­me­ten sich unab­läs­si­gen exege­ti­schen Exer­zi­ti­en, ohne selbst einen ori­gi­nä­ren Bei­trag zur Kri­tik der herr­schen­den Ver­hält­nis­se lie­fern zu kön­nen oder zu wollen.

 

Howard Eiland und Michael W. Jennings: Walter Benjamin - A Critical Life (Harvard University Press/Belknap Press, 2014)
Howard Eiland und Micha­el W. Jen­nings: Wal­ter Ben­ja­min — A Cri­ti­cal Life (Har­vard Uni­ver­si­ty Press/Belknap Press, 2014)

Mit ihrer volu­mi­nö­sen Bio­gra­fie Wal­ter Ben­ja­min: A Cri­ti­cal Life legen Howard Eiland und Micha­el W. Jen­nings eine kri­ti­sche Stu­die vor, die Ben­ja­min aus dem Bann der ideo­lo­gi­schen Über­hö­hung der Ver­gan­gen­heit und des aka­de­mi­schen Göt­zen­tums reißt und ihn in sei­ner bio­gra­fi­schen und intel­lek­tu­el­len Ent­wick­lung im Kon­text der his­to­ri­schen Ereig­nis­se beglei­tet. Eiland und Jen­nings sind aus­ge­wie­se­ne Ken­ner des Benjamin’schen Œuvres: Für den Ver­lag Har­vard Uni­ver­si­ty Press fun­gier­ten sie über Jah­re als Her­aus­ge­ber und Über­set­zer der Schrif­ten Ben­ja­mins und auch des Pas­sa­gen­werks (an dem Ben­ja­min seit Mit­te der 1920er Jah­re bis zu sei­nem Tod gear­bei­tet hat­te, ohne es voll­enden zu kön­nen). Ihnen gelingt mit ihrem Buch das sel­te­ne Meis­ter­stück, sowohl den Intel­lek­tu­el­len Ben­ja­min auf sei­nen Wan­de­run­gen durch die his­to­ri­schen Land­schaf­ten des unter­ge­hen­den Euro­pas mit sei­ner kom­ple­xen Tie­fe zu beleuch­ten als auch den Men­schen Ben­ja­min zu por­trä­tie­ren, der hin­ter den gän­gi­gen hagio­gra­fi­schen Por­träts des ein­sa­men Gelehr­ten in dunk­len Zei­ten ver­schwand. Eiland und Jen­nings erzäh­len ihre Geschich­te nicht in grob­kör­ni­gen Schwarz­weiß­bil­dern, son­dern ver­we­ben ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven und ent­wi­ckeln auf die­se Wei­se ein viel­schich­ti­ges Bild Ben­ja­mins, ohne je ihren Prot­ago­nis­ten zu desavouieren. 

Obwohl Ben­ja­min 1892 in eine jüdi­sche Groß­bürg­erfa­mi­lie in Ber­lin gebo­ren wur­de,  hat­te er kei­nes­wegs einen leich­ten Lebens­weg. Schon zu Beginn des Ers­ten Welt­krie­ges nah­men sich Freun­de das Leben, und seit­dem blieb für Ben­ja­min der Sui­zid stets ein Motiv in sei­ner Bio­gra­fie, auch wenn es in depres­si­ven Momen­ten sei­nes Lebens zunächst nur im Bereich der Fan­ta­sie blieb. Mit der finan­zi­el­len Unter­stüt­zung sei­ner Fami­lie konn­te er zunächst eine aka­de­mi­sche Kar­rie­re ver­fol­gen, doch schließ­lich konn­te er in kei­ner Uni­ver­si­tät Fuß fas­sen, da sei­ne Dis­ser­ta­ti­on »Der Begriff der Kunst­kri­tik in der deut­schen Roman­tik« als zu unver­ständ­lich begrif­fen wur­de. Statt­des­sen for­cier­te Ben­ja­min sei­ne Posi­ti­on als unab­hän­gi­ger Kri­ti­ker und Publi­zist, wobei er jedoch nie die pre­kä­re Exis­tenz des Intel­lek­tu­el­len abstrei­fen konnte. 

Zugleich war Ben­ja­min von den deutsch­na­tio­na­len und faschis­ti­schen Strö­mun­gen umge­ben, wel­che die Wei­ma­rer Repu­blik seit ihrer Grün­dung maß­geb­lich beein­fluss­ten. Wie Lion Feucht­wan­ger im ers­ten Teil sei­ner »War­te­saal-Tri­lo­gie« (die den iro­ni­schen Titel Erfolg trug) schrieb, pro­ji­zier­ten die »Wahr­haft Deut­schen« die Schuld für das eige­ne Unver­mö­gen auf »die Juden«. Bereits in den 1920er Jah­ren erwog Ben­ja­min, Euro­pa zu ver­las­sen und nach Paläs­ti­na aus­zu­wan­dern, doch sein Freund Scholem riet ihm davon ent­schie­den ab, denn Jeru­sa­lem bie­te sich als intel­lek­tu­el­ler Ort nur jenen an, die sich mit dem Land und dem Juden­tum vor­be­halt­los iden­ti­fi­zier­ten. Ange­sichts von Ben­ja­mins Wen­dung zum Mar­xis­mus und zur poli­ti­schen Lin­ken hielt ihn Scholem für eine Emi­gra­ti­on nach Paläs­ti­na für unge­eig­net. Nach dem Schei­tern sei­ner aka­de­mi­schen Ambi­tio­nen konn­te Ben­ja­min durch sei­ne Publi­ka­tio­nen und sei­ne publi­zis­ti­sche Tätig­keit für die Frank­fur­ter Zei­tung und die Lite­ra­ri­sche Welt zwar als maß­geb­li­cher Intel­lek­tu­el­ler der Wei­ma­rer Repu­blik reüs­sie­ren, doch lie­ßen sich vie­le Pro­jek­te wie etwa die Zeit­schrift Kri­sis und Kri­tik auf­grund der insta­bi­len poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Lage in Deutsch­land nicht realisieren.

Walter Benjamins Ausweis für die Bibliothèque nationale de France
Wal­ter Ben­ja­mins Aus­weis für die Biblio­t­hè­que natio­na­le de France

Nach der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me ver­lor Ben­ja­min nicht allein sei­ne umfang­rei­che Biblio­thek, son­dern sah sich im fran­zö­si­schen Exil auf eine pre­kä­re Exis­tenz zurück­ge­wor­fen. Bis zu sei­nem Lebens­en­de war er auf Zuwen­dun­gen ande­rer ange­wie­sen, wor­aus sich Abhän­gig­kei­ten erga­ben. Das von Max Hork­hei­mer gelei­te­te Frank­fur­ter Insti­tut für Sozi­al­for­schung, des­sen Haupt­sitz 1934 nach New York ver­legt wor­den war, gewähr­te Ben­ja­min eine Art Sti­pen­di­um, das in ers­ter Linie dazu dien­te, sei­ne For­schun­gen zum Pari­ser Pas­sa­gen­werk zu finan­zie­ren. Dar­aus ent­stan­de­ne Stu­di­en wie der Essay »Das Kunst­werk im Zeit­al­ter sei­ner tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit« oder »Charles Bau­de­lai­re: Ein Lyri­ker im Zeit­al­ter des Hoch­ka­pi­ta­lis­mus« wur­den jedoch – wie Eiland und Jen­nings in ihrer Erzäh­lung nach­drück­lich her­aus­stel­len – in ihrer ver­öf­fent­lich­ten Form ent­we­der ob ihres expli­zit poli­ti­schen Cha­rak­ters gekürzt (um nicht zu sagen: zen­siert) oder wur­den selbst von Ben­ja­mins Freund Ador­no scharf kri­ti­siert, da sie nicht die vom Insti­tut gewünsch­ten Ergeb­nis­se zei­tig­ten. Zudem miss­bil­lig­ten die »Frank­fur­ter« Ben­ja­mins Freund­schaft mit Ber­tolt Brecht, des­sen »plum­pes Den­ken« sie ver­ach­te­ten, oder Ben­ja­mins Hin­wen­dung zur popu­lä­ren Kul­tur (er hat­te – wie Eiland und Jen­nings bemer­ken – ein Fai­ble für die Kri­mi­nal­ro­ma­ne Geor­ges Sime­nons und die Schau­spie­le­rin Kathe­ri­ne Hepburn).

Zugleich aber war Ben­ja­min kei­nes­wegs frei von den Eifer­süch­te­lei­en unter Emi­gran­ten. Als Sieg­fried Kra­cau­er, mit dem ihm aus der Zeit gemein­sa­mer Arbeit für die Frank­fur­ter Zei­tung eine enge Freund­schaft ver­band, im Pari­ser Exil sei­ne Popu­lär­bio­gra­fie Jac­ques Offen­bach und das Paris sei­ner Zeit ver­öf­fent­lich­te, fie­len sowohl Ador­no als auch Ben­ja­min über ihn her, denn ihrer Mei­nung nach wil­der­te Kra­cau­er in ihren ange­stamm­ten Gebie­ten und bie­der­te sich dem Markt an. Kei­nes­wegs war das Leben im Exil vom Hero­is­mus gekenn­zeich­net, und selbst die schlim­men Ver­hält­nis­se, die Feucht­wan­ger in sei­nem gro­ßen Roman Exil beschrieb, waren in der Rea­li­tät noch grau­en­vol­ler (der ehe­ma­li­ge Groß­bür­ger Ben­ja­min ver­füg­te lan­ge Zeit nicht ein­mal über ein eige­nes Zim­mer im Exil). Das Milieu der deut­schen Exi­lan­ten war, notie­ren Eiland und Jen­nings, erfüllt von Span­nung und Riva­li­tät, vom Kampf um die weni­gen Mög­lich­kei­ten und Res­sour­cen, die ein Wei­ter­le­ben ermög­lich­ten. Unter den Bedin­gun­gen des Exils, das intel­lek­tu­el­le Hei­mat­lo­sig­keit, finan­zi­el­le Ver­zweif­lung und sozia­le Insta­bi­li­tät her­vor­rief, wur­de das Leben selbst defor­miert und jeg­li­che Freund­schaft in trost­lo­sen Ter­ri­to­ri­en zerstört.

Walter Benjamin - Fragments
Wal­ter Ben­ja­min — Fragments

Trotz allen Unbills der pre­kä­ren Exis­tenz ist es bemer­kens­wert, dass Ben­ja­min unab­läs­sig an sei­nem gro­ßen Pas­sa­gen­werk und ande­ren Pro­jek­ten schrieb. Selbst als er nach der deut­schen Okku­pa­ti­on zeit­wei­lig inter­niert war, ließ er vom Schrei­ben nicht ab. Einer sei­ner ein­fluss­reichs­ten Essays »Über den Begriff der Geschich­te« ent­stand noch kur­ze Zeit vor sei­nem tra­gi­schen Ende auf der Flucht über die Pyre­nä­en. Noch in den letz­ten Momen­ten trug er – hieß es – ein unver­öf­fent­lich­tes Manu­skript in einer Akten­ta­sche mit sich, ehe er sei­nem Leben in Port Bou ein Ende setzte.

Über mehr als sie­ben­hun­dert Sei­ten ver­ste­hen es Eiland und Jen­nings meis­ter­haft, das kom­ple­xe Leben Ben­ja­mins ein­zu­fan­gen und in all sei­nen Wider­sprü­chen – gera­de­zu span­nend bis zum letz­ten Atem­zug – zu erzäh­len, einer­seits die unter­ge­gan­ge­ne Welt des frü­hen zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts her­auf­zu­be­schwö­ren und zugleich den Aus­blick in eine mög­li­che Zukunft ins Auge zu fas­sen. So gelingt den bei­den Autoren ein außer­or­dent­li­ches wie gran­dio­ses Werk, das über die Figur eines her­aus­ra­gen­den Intel­lek­tu­el­len die Geschich­te der Ver­nich­tung und Aus­lö­schung auf euro­päi­schem Boden in Erin­ne­rung ruft. 

 

Anmer­kung des Autors (13. Mai 2017):

Im Jah­re 2017 erschien eine Bio­gra­fie Wal­ter Ben­ja­mins unter dem Titel Wal­ter Ben­ja­min: Das Leben eines Unvoll­ende­ten im Rowohlt Ver­lag. Der Autor die­ser Bio­gra­fie, der kon­ser­va­ti­ve FAZ-Feuil­le­to­nist Lorenz Jäger, hat­te sich bereits Jah­re frü­her an Ador­no ver­gan­gen. Nun voll­zieht er – mit den Wor­ten Micha Brum­liks – »eine pos­tu­me Aus­bür­ge­rung Ben­ja­mins als eines bol­sche­wis­tisch-jüdi­schen Teil­neh­mers am Welt­bür­ger­krieg« (taz, 11./12. März 2017). So bleibt die Bio­gra­fie von Eiland und Jen­nings noch immer ein uner­reich­ter Höhe­punkt der Benjamin-Forschung. 

Zuerst erschie­nen in:  satt.org  (April 2015)

Biblio­gra­fi­sche Angaben:

Howard Eiland und Micha­el W. Jennings.
Wal­ter Ben­ja­min – A Cri­ti­cal Life.
Cam­bridge (MA): The Bel­knap Press of Har­vard Uni­ver­si­ty Press, 2014.
755 Sei­ten, $ 39,99.

© Jörg Auberg 2017/2020

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Wal­ter Ben­ja­min: A Cri­ti­cal Life © Har­vard Uni­ver­si­ty Press
Biblio­theks­aus­weis von Wal­ter Benjamin  Wiki­me­dia Commons
Wal­ter Ben­ja­min — Fragments  Wiki­me­dia Commons

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