Der Bann der Vergangenheit
Zwei Bücher von Zora Neale Hurston und Toni Morrison schärfen das Bewusstsein gegen den Rassismus
Von Jörg Auberg
The past is never dead. It’s not even past.1
William Faulkner, Requiem for a Nun
Nach ihrem Selbstverständnis sind die USA das »Land der Freien«. »Keine Idee ist für Amerikaner in ihrem Verständnis als Individuen und Nation grundsätzlicher als die Freiheit«2, schrieb der Historiker Eric Foner. Der amerikanischen Geschichte ist jedoch das Mal der Unfreiheit eingegraben, auch wenn sich die USA den demokratischen Idealen der Freiheit und Gleichheit verpflichtet fühlten, diese jedoch nie faktisch einlösten. Obwohl die meisten der Gründungsväter des US-amerikanischen Staates vollmundige Bekenntnisse zu Freiheit und Gleichheit abgaben, waren acht der ersten zwölf Präsidenten Sklavenhalter. Von Anbeginn war Amerika, insistiert Peter Kolchin, von Zwangsarbeit abhängig, und das System der Sklaverei war für den Bestand des Landes von unmittelbarer Notwendigkeit. So verbot die Verfassung von 1787 dem Kongress für zwanzig Jahre, den Sklavenhandel zu ächten. Auch als nach 1830 Abolitionisten für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, betrachtete sie die Mehrheit der Amerikaner – im Süden wie im Norden – als Fanatiker, welche die Prosperität und Existenz der Republik aufs Spiel setzten.3
Diese Geschichte der Ausbeutung und Unterdrückung war keineswegs mit dem offiziellen Ende der Sklaverei nach dem amerikanischen Bürgerkrieg 1865 vorüber. Bis heute wirkt sie nach – selbst nach Jahrzehnten der Bürgerrechtsbewegung und einem afroamerikanischen Präsidenten – weiterhin fort. Die »starke Kraft der Geschichte«, schrieb James Baldwin 1965, »rührt aus der Tatsache, dass wir sie mit uns tragen, von ihr in vielerlei Hinsicht unbewusst kontrolliert werden und Geschichte buchstäblich in allem gegenwärtig ist, was wir tun«.4
Barracoon: Die Geschichte der letzten Sklavenlieferung
Die Gegenwärtigkeit dieser Geschichte findet in der Lebensgeschichte des aus Westafrika nach Alabama verschleppten Oluale Kossola (dessen Name als »Cudjo Lewis« amerikanisiert wurde) ihren authentischen Ausdruck, die nun unter dem Titel Barracoon veröffentlicht wurde. Um 1841 im westlichen Benin geboren, wurde Kossola 1860 von Sklavenhändlern gefangen und mit dem Schiff Clotilda über die »Mittelpassage« in den US-amerikanischen Süden transportiert, wo er auf einer Baumwollplantage versklavt wurde.
Kossola war einer jener 3.873.600 Afrikaner, die zwischen 1801 und 1866 gegen die Lieferung von Gold, Waffen und anderen Waren europäischer und amerikanischer Provenienz als Zwangsarbeiter von den afrikanischen Herrschern verkauft wurden.5 Zwar endete sein Sklavendasein offiziell mit der »Emancipation« am Ende des Bürgerkrieges zwischen den Nord- und den Südstaaten der USA, doch für Kossola (oder Cudjo Lewis) gab es keine wirkliche Freiheit im »neuen Land«, und eine Rückkehr nach Afrika war ebenfalls ausgeschlossen. Für den Rest seines Lebens blieb er ein Entwurzelter.
Im Jahre 1927 reiste die Schriftstellerin und Anthropologin Zora Neale Hurston (1891–1960) nach Plateau- Magazine Point in Alabama, um mit dem damals 86-jährigen Kossola zu sprechen und »die Geschichte der letzten Ladung von Sklaven, die in die Vereinigten Staaten gebracht wurden«, aufzuzeichnen.6 Hurston verstand sich als »Aufnahmeinstrument«: Sie schrieb Kossolas Worte auf, wie sie sie wahrnahm, wobei sie das dialektale Idiom des Erzählers, das seine afrikanische Herkunft in sich barg, nicht glättete. Obgleich sie Kossolas erzählerische Sensibilität respektierte und sein gelegentliches Abdriften in Digressionen tolerierte, war Hurston – wie die Herausgeberin Deborah G. Plant unterstreicht – nicht lediglich eine »Stenotypistin«, sondern wirkte aktiv am Prozess des Erzählens mit, um Kossola zu helfen, seine Geschichte zu erzählen.
Zu dieser Geschichte gehört nicht in erster Linie die physische Brutalität des Sklavenhandels, sondern die Erniedrigung des Individuums und seine Zurichtung zum Abbild des Sklaven. Auf ihrem Transport von Afrika nach Nordamerika wurde die menschliche Ware, die der König von Dahome auf dem internationalen Markt verkaufte, ihrer Kleider beraubt. Die Sklaven erreichten den amerikanischen Boden nackt. Von den Weißen wurde sie als »nackte Wilde« verachtet, zu denen sie von den weißen Sklavenhändlern erst gemacht wurden. Gleichermaßen trifft sie die Verachtung der »amerikanisierten« Schwarzen, die über die »primitiven« Neuankömmlinge aus Afrika die Nase rümpften. »De American colored folks, you unnerstand me«, gab Kossola zu Protokoll, »dey sey we savage and den dey laugh at us and doan come say nothin’ to us.«7
Auch nach der »Befreiung« blieb der verschleppte Kossola ein Fremder in einem fremden Land. Die ehemaligen Sklaven bildeten in Alabama ihre Erinnerung an Afrika nach. »We call our village Affican Town«, erzählte er Hurston. »We say dat ‘cause we want to go back in de Affica soil and we see we cain go. Derefo’ we make de Affica where dey fetch us.« 8
Der Vorhang des »Kolorismus«
Von Freiheit konnte keine Rede sein. Im Jahre 1956 sprach James Baldwin von »zweihundert Jahren in Sklaverei« und »neunzig Jahren von Quasi-Freiheit«.9 Kein Vorhang unter dem Himmel sei, schrieb er neun Jahre später, schwerer als jener aus Schuld und Lügen, hinter dem sich weiße Amerikaner und Amerikanerinnen verbargen – nicht einmal der »Eiserne Vorhang« des Kalten Krieges. »Der amerikanische Vorhang ist Farbe«, konstatierte Baldwin. Mittels dieses Begriffs oder dieser Vorstellung hätten Weiße unsagbare Verbrechen gerechtfertigt – nicht allein in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.10
Diese Kritik des »Kolorismus« greift Toni Morrison, die Herausgeberin von Baldwins gesammelten Essays, in ihren Harvard-Vorlesungen aus dem Jahre 2016 auf, die nun unter dem Titel Die Herkunft der anderen auch auf deutsch vorliegen. Wie tief das Konzept des »Kolorismus« in der US-amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist, macht Morrison bereits zu Anfang mit einer privaten Erinnerung an eine Begegnung mit ihrer »dunkelhäutigen« Großmutter deutlich: Beim Anblick ihrer »hellhäutigen« Enkelinnen rief sie entsetzt aus: »Diese Kinder sind verpfuscht worden.«11
Ähnlich wie bei den herrschenden Weißen wurde bei den unterdrückten Schwarzen die Farbe zum Fetisch, zum Merkmal der Wertigkeit. »Die Definition, was es bedeutet, ›amerikanisch‹ zu sein, bemerkt Morrison, »bleibt für viele, tragischerweise eine Frage der Farbe.«12 Für die einen ist eine tiefe Farbe ein Merkmal der Aussätzigkeit, während für die anderen der Mangel an Farbe ein Charakteristikum der Minderwertigkeit ist.
In ihren Vorlesungen verknüpft Morrison private Erfahrungen mit historischen und literarischen Analysen der Realität des Rassismus. Dabei geht es ihr um die Frage der Genese: Wodurch wird Rassismus über die Jahrhunderte perpetuiert? Wodurch wird jemand Rassist? Antworten bietet Morrison nicht, doch gerade ihr in die Tiefe dringendes, ambivalentes Erforschen der sozialen Realität macht ihren schmalen Band zu einer intellektuellen Stimulation, die eigenen Vorstellungen von Rasse, Farbe und Geschlecht – wie sie in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur permanent reproduziert werden – kritisch zu hinterfragen.
Unter dem Deckmantel einer scheinbar wertfreien Wissenschaft etablierte sich die Konstruktion des schwarzen »Untermenschen«, die bis heute in den weißen Gesellschaften präsent ist. »Das schwarze Blut, das dem Gehirn zugeführt wird«, zitiert Morrison Dr. Samuel Cartwright, einen englischen Eugenik-Theoretiker und Sklavenhalter aus den Südstaaten, kette den Geist der »Neger« an »Unwissenheit, Aberglauben und Barbarei, verriegelt das Tor zu höherer Entwicklung, moralischem Empfinden und religiöser Wahrheit.« 13 In diesem Wahn weißer Überlegenheit, der bis heute – nicht allein – die US-amerikanische Gesellschaft prägt, kann sich die Gewalt – legitimiert durch einen wissenschaftlich verbrämten Rassismus – gegen Individuen, die in der pathischen Projektion aller Individualität entkleidet sind, mit aller Brutalität wenden.
Als Beispiel führt Morrison den jungen Engländer Thomas Thistlewood an, der 1750 in die »Neue Welt« aufbrach, um als Sklavenaufseher und später als Sklavenbesitzer auf Jamaika sein Glück auf Kosten anderer zu machen. In seinem Tagebuch hielt er »Ereignisse und Begegnungen, das Wetter, Verhandlungen, Gewinne und Verluste« ebenso fest wie die Vergewaltigungen seiner Sklavinnen, die er als Recht des Besitzers für sich reklamierte. »Für Thistlewood ist Vergewaltigung die Romantik des Besitzens, des droit du seigneur«, analysiert sie. Diese Romantik sieht Morrison in Harriet Beecher-Stowes populären Roman Onkel Toms Hütte nachwirken: »Bei Stowe wird die Sklaverei sexuell und romantisch reingewaschen und parfümiert«, urteilt Morrison. 14
In einer kritischen Diskussion US-amerikanischer Autoren und Autorinnen wie William Faulkner, Ernest Hemingway oder Flannery O’Connor thematisiert Morrison in unterschiedlichen Variationen die pathische Projektion des »Fremden« schwarzer Hautfarbe, der als »Nigger« klassifiziert wird. Farbe wird fetischisiert: In Faulkners Romanwelt beispielsweise ist »Rassenmischung« ein »abscheulicheres Übel« als Inzest oder selbst in Ernest Hemingways »Abenteuernovelle« To Have and Have Not verliert der Mensch mit schwarzer Hautfarbe seine Individualität, indem er als »Nigger« klassifiziert wird: »He was a nigger that never thought much of any of us.«15 Die Umkehrung der Wahrnehmung findet sich in Flannery O’Connors Erzählung »The Artificial Nigger«, in der sich zwei Weiße in einem Schwarzenviertel verirren und ihre Fremdheit in diesem Milieu als unmittelbare Erfahrung am eigenen Körper spüren. Am Ende möchten sie nichts anderes, als möglichst schnell das Gefühl des Verlorenseins in einer fremden Welt hinter sich zu lassen.
Die Verlogenheit der Hölle
Überall im Land lauert das »Gift der Fremdheit« oder der »Fluch des Fremdseins«.16 Anders als in John Dos Passos’ USA-Trilogie, in der die historische Erfahrung der Afro-Amerikaner ausgespart wird, sind die USA keine »Sprache des Volkes«.17 Vielmehr ist das Land, wie Hurston und Morrison verdeutlichen, zerrissen, von jahrhundertelangen Kämpfen von Herrschaft und Unterdrückung gezeichnet. In seinen Artikeln zum amerikanischen Bürgerkrieg insistierte Karl Marx, dass die Freiheit der Schwarzen eine Vorbedingung für eine unabhängige Politik der amerikanischen Arbeiterklasse sei.18 Aktuell aber dominiert – wie Morrison in Paraphrase eines berühmten Zitats Jean-Paul Sartres insistiert – die »Verlogenheit der Hölle«19. Trotz allem ist dieser Höllenkreis keine Naturgegebenheit. Die Katastrophe ist menschengemacht. Daher bestünde die Möglichkeit, diesen Zirkel zu verlassen. Ob die Verhältnisse dies tatsächlich zulassen, ist eine andere Frage.
Bibliografische Angaben:
Zora Neale Hurston.
Barracoon: The Story of the Last »Black Cargo«.
Herausgegeben von Deborah G. Plant.
Vorwort von Alice Walker.
New York: HarperCollins, 2018.
208 Seiten, 24,99 US-Dollar.
ISBN: 978–0‑062–74820‑1.
Toni Morrison.
Die Herkunft der anderen: Über Rasse, Rassismus und Literatur.
(The Origin of Others, Harvard University Press, 2017).
Vorwort von Ta-Nehisi Coates.
Übersetzt von Thomas Piltz.
Reinbek: Rowohlt, 2018.
112 Seiten, 16 Euro.
ISBN: 978–3‑498–04543‑2.
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Cover Barracoon — © HarperCollins USA
Foto von Zora Neale Hurston — Wikimedia
Cover Die Herkunft der anderen — © Rowohlt Verlag
Cover Uncle Tom’s Cabin — Wikimedia
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© Jörg Auberg 2018
Nachweise
- William Faulkner, Requiem for a Nun (London: Vintage, 2015), S. 85 ↩
- Eric Foner, The Story of American Freedom (New York: W. W. Norton, 1998), S. xiii ↩
- Peter Kolchin, American Slavery, 1619–1877 (London: Penguin, 1995), S. 3, 79 ↩
- James Baldwin, »The White Man’s Guilt« (1965), in: Baldwin, Collected Essays, hg. Toni Morrison (New York: Library of America, 1998), S. 723 ↩
- Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion, 1415–2015 (München: C. H. Beck, 2016), S. 453–484 ↩
- Zora Neale Hurston, Einleitung, Barracoon: The Story of the Last Slave (London: HQ/HarperCollins, 2018), S. 6 ↩
- Hurston, Barracoon, S. 62 ↩
- Hurston, Barracoon, S. 68 ↩
- Baldwin, »Faulkner and Desegregation«, in: Baldwin, Collected Essays, S. 209 ↩
- Baldwin, »The White Man’s Guilt«, S. 725 ↩
- Toni Morrison, Die Herkunft der anderen: Über Rasse, Rassismus und Literatur, übers. Thomas Piltz (Reinbek: Rowohlt, 2018), S. 19 ↩
- Morrison, Die Herkunft der anderen, S. 31 ↩
- Morrison, Die Herkunft der anderen, S. 21 ↩
- Morrison, Die Herkunft der anderen, S. 23–24, 28 ↩
- Ernest Hemingway, To Have and Have Not (New York: Scribner, 2010), S. 19 ↩
- Morrison, Die Herkunft der Anderen, S. 95 ↩
- John Dos Passos, U.S.A., hg. Daniel Aaron und Townsend Luddington (New York: Library of America, 1996), S.3 ↩
- Mike Davis, Old Gods, New Enigmas: Marx’s Lost Theory (London: Verso, 2018), S. 144–145 ↩
- Morrison, Die Herkunft der anderen, S. 45 ↩