Aus Ruinen auferstanden
Die wiederbelebte Zeitschrift »Tribune« möchte den Weg für einen neuen demokratischen Sozialismus weisen
Von Jörg Auberg
In jedem von uns lauert ein Abonnent.1
Fritz Kortner
Wenn Intellektuelle nichts anderes tun können, starten sie eine Zeitschrift«2, schrieb Irving Howe, als er auf die Gründung seiner Zeitschrift Dissent zurück blickte. Im Gründungsjahr 1954 – auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und des Antikommunismus – blieb die Hoffnung auf einen »demokratischen Sozialismus« auf eine verschwindende Minorität beschränkt. Zudem fehlte dem Projekt »demokratischer Sozialismus« die radikale, utopische Komponente: Anfangs als »dritter Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus sowjetischer Prägung konzipiert, endeten die meisten Akteure dieses Projekts als »kritische Unterstützer« der US-amerikanischen Außenpolitik, die blanke Machtinteressen verfolgte und kaum das Ziel internationaler Demokratie im Auge hatte. So fragte der Dissent-Autor C. Wright Mills mit Berechtigung, worin der Dissens von Dissent bestehe. Für Mills waren Howe und seine (vornehmlich) männlichen Mitstreiter vor allem »NATO-Intellektuelle«, die den Status quo »kritisch« unterstützten und sich in einer wohligen Apathie einrichteten anstatt für eine historische Veränderung zu kämpfen.3
Aufbruch und Scheitern
Als 1989 nach der Implosion der Sowjetunion das »sozialistische Projekt« in Verruf geriet, rief Robin Blackburn aus den Generalstäben der New Left Review zu einer »vollkommenen Erneuerung und Reorientierung« der Linken auf, um eine »wahrhaft demokratische Kultur und politische Ordnung« zu schaffen und ein »neues und lebensfähiges sozialistisches Ökonomiemodell« als überzeugende Alternative zum scheinbar triumphierenden Kapitalismus (der nunmehr als »Neoliberalismus« kategorisiert wird) zu entwickeln.4 Bis zum heutigen Tag konnte jedoch keine nachhaltige linke politische Alternative zu den aktuellen Herrschaftsverhältnissen etabliert werden.
In diese Zeit der gescheiterten Aufbrüche fiel auch der schleichende Niedergang der nun wiederbelebten Zeitschrift Tribune in Großbritannien. 1937 von Mitgliedern des linken Flügels der Labour-Partei gegründet, sollte sie ein journalistisches Forum für den Kampf gegen den Faschismus und die herrschenden Appeasement-Politik Neville Chamberlains sein. Zu ihren prominentesten Mitarbeitern gehörte der spätere Labour-Vorsitzende Michael Foot, der von 1948 bis 1952 und von 1955 bis 1960 als Herausgeber fungierte, und George Orwell, der von 1943 bis 1945 die Literaturredaktion leitete und danach bis 1947 als Autor der Zeitschrift verpflichtet blieb. In den 1950er Jahren unterstützte die Tribune die Kampagne zur atomaren Abrüstung und orientierte sich im politischen Spektrum an der »sanften Linken«, die im Sinne des sozialdemokratischen Politikverständnisses schrittweise Verbesserungen für ihr Klientel im Rahmen der gegebenen Verhältnisse anstrebte. In seinem für Labour typischen etatistischen Staatsverständnis bezeichnete der Labour-Politiker und Tribune-Herausgeber Nye Bevan den Staat als »Schwert, auf das Herz des Privateigentums gerichtet«5 Das Projekt des »demokratischen Sozialismus« zielte — wie Hilary Wainwright analysiert – auf die Eroberung des Staatsapparats ausschließlich durch demokratische Wahlen. Erst Tony Benn als Repräsentant des linken Flügels der Labour-Partei, verfolgte eine Doppelstrategie: zugleich im Staat zu sein, als auch gegen ihn zu opponieren. Wie die bundesdeutschen Grünen in den 1980er Jahren betrachteten sich Benn und seine Mitstreiterinnen als parlamentarischer Arm außerparlamentarischer sozialer Bewegungen. Dieser Doppelstrategie folgen auch Jeremy Corbyn und seine Anhängerinnen, als deren Sprachrohr die wiederbelebte Tribune sich begreift.
Ausgeträumt träumen
Zuletzt blieben von der Tribune nur Ruinen übrig. Ihre Auflage stagnierte bei 5000 Exemplaren und gehörte dem als Vergewaltiger verurteilten dubiosen Millionär Owen Oyston, der auch für den FC Blackpool als Wegweiser ins Verderben agierte. 2016 wurde die Zeitschrift von Bhaskar Sunkara, dem Herausgeber des US-amerikanischen Magazins Jacobin, gekauft, der sein US-amerikanisches Erfolgsmodell eines wiederbelebten Sozialismus in journalistischer Form nach Europa transportieren wollte.6
Am Ende des Jahres 2018 erschien schließlich die erste Ausgabe der exhumierten Tribune unter der Ägide von Ronan Burtenshaw. Auf dem Cover prangt der Slogan »Britain’s oldest democratic socialist publication«, und die Zeitschrift präsentiert sich der interessierten Öffentlichkeit in einem in Rot gehaltenen grafischen Stil, der eine »melancholische Retronormativität«7 beschwört, wie der Soziologe Oliver Nachtwey die nostalgische Sehnsucht nach den vorgeblich besseren Verhältnissen der Vergangenheit bezeichnet. In seinem Editorial unterstreicht Burtenshaw, dass der Relaunch der Tribune »der Linken« helfen soll, aus dem Irrgarten der Desorientierung heraus zu finden und die »historische Gelegenheit für den Sozialismus« zu ergreifen«.8 Eine kritische Reflexion der eigenen Geschichte und Tradition findet nicht statt. Stattdessen reiten die alten Krieger auf dem alten Pferd weiter über die Steppe der alten Themen. Offenbar reiht sich die Redaktion geschlossen hinter ihrem »Führer« Corbyn ein, den Chris McLaughlin als Opfer einer »feindseligen Pressekampagne« ansieht. Gleichfalls betrachtet McLaughlin die antisemitischen Vorfälle in der Labour-Partei oder ihren Mangel an politischer Klarheit in der Brexit-Frage als Bagatellen, die keiner Diskussion würdig seien.9
Autoritäre Subtexte
Im Gegensatz zum behaupteten demokratischen Engagement zieht sich durch die Texte der Tribune ein autoritärer Subtext. Immer wieder wird eine überaus fragwürdige »Führer-Charismatik« beschworen, in der Corbyn als sozialistischer Heilsbringer auftritt, der in der Geschichte der britischen Außenpolitik erstmals eine »internationalistische«, »pazifistische« und »antiimperialistische« Politik verträte. Unterschlagen wird in diesen Texten, dass in der Vergangenheit Repräsentanten der Tribune-Linie ihre einstigen Prinzipien verrieten, sobald sie in Regierungsverantwortung waren.10
Zu einer Introspektion scheinen die Tribune-Produzenten kaum in der Lage zu sein. Stattdessen west in vielen Texten der Zeitschrift ein verhängnisvoller Hang zum autoritären Narzissmus vor. »Die am heftigsten protestieren«, schrieb Theodor W. Adorno 1969, »gleichen den autoritätsgebunden Charakteren in der Abwehr von Introspektion; wo sie sich mit sich beschäftigen, geschieht es kritiklos, richtet sich ungebrochen, aggreessiv nach außen.«11 Symptomatisch hierfür ist der ehemalige Tribune-Herausgeber Mark Seddon, der in einem linken Voodoo-Stil die Wichtigkeit der Zeitschrift beschwört, ohne eine inhaltliche Nachhaltigkeit zu begründen. Stattdessen wirft er der »liberalen Linken« und ihren Organen Guardian, Observer und New Statesman vor, nicht mehr für »die Linke« oder ihre sozialen Bewegungen zu sprechen, ohne dass er seine Vorwürfe inhaltlich begründet.12 Diese Linie setzt sich in der zweiten Nummer fort, in der dem linkspopulistischen Tribun Jean-Luc Mélenchon gehuldigt wird, ohne dass dessen rückwärtsgewandte, nationalistischen Strategien auch nur ansatzweise hinterfragt werden.
Politisch ist die Tribune in den toten Regionen der »Monotonieforschung« steckengeblieben, deren »Muffigkeit« Siegfried Kracauer bereits 1929 in der Angestelltenkultur konstatiert hatte.13 Von Ökologie und Klimaveränderung ist keine Rede. Stattdessen beharren ihre Autoren auf der »Klassenpolitik«, die seit mehr als 80 Jahren die Seiten der Tribune gefüllt habe. Darin drückt sich eine intellektuelle Armseligkeit aus. »Für den Verfall der Arbeiterbewegung spricht der offizielle Optimismus ihrer Anhänger«, schrieb Adorno in den 1940er Jahren. »Er scheint mit der eisernen Konsolidierung der kapitalistischen Welt anzuwachsen.«14 Die besten Momente hat der politische Teil der Tribune in den Interviews mit David Harvey, der die marxistischen Theorien von Gebrauchs- und Mehrwert an den realen Situationen des Wohnungsbaus und des öffentlichen Dienstes misst. Hierbei überwältigt die Zeitschrift die eigene Nostalgie einer vergangenen Epoche und beschäftigt sich mit den gegenwärtigen sozialen Erscheinungsformen.
Ansätze einer alternativen kritischen Kultur
Im Gegensatz zu den anderen Sektionen der Zeitschrift sticht der von Owen Hatherly verantwortete Kulturteil durch ein Engagement mit »gegenkulturellen« Arten des Denkens und Handelns. Hatherly hat mit seinem Buch The Chaplin Machine selbst die kulturelle Produktion im Austausch zwischen Avantgarde und kapitalistischer Technik unter der Herrschaft postfordistischer Arbeitsprozesse analysiert. In seinem Kulturteil der Tribune will er nicht eine Kopie der London Review of Books oder des Times Literary Supplement von der linken Seite schaffen. In eher kurzen Beiträgen über den »Tiers-Mondisme«, Ernst Toller, eine mögliche sozialistische Variante von »Spotify«, die Open University, das letzte Filmschaffen von Agnes Varda oder das Verhältnis der Arbeiterklasse zum Lesen zeigt er Möglichkeiten einer alternativen kritischen Kultur auf, ohne ideologische Prämissen vorzugeben.
Während die Tribune als Projekt der einer »melancholische Retronormativität« verhaftet bleibt und über die einfachen Erklärungsmodelle eines George Orwell nicht hinaus kommt (für den der Antisemitismus lediglich eine Spielart des Nationalismus war15, orientiert sich Hatherly mit seinen Autoren und Autorinnen an den realen Situationen des gegenwärtigen Lebens. Dies lässt für die Zukunftsfähigkeit der Tribune hoffen.
Bibliografische Angaben:
Tribune.
No. 1 (November-Dezember 2018)
Grafische Gestaltung: Christoph Kleinstück.
98 Seiten, £ 6.95.
ISSN: 0041–2821.
No. 2. (Winter 2019)
90 Seiten, £ 9.95.
Grafische Gestaltung: Maus Bullhorst.
ISSN: 2624–0912.
Webadresse: http://www.tribunemag.co.uk/
Abonnements:
Print-Ausgabe Europa: £ 34.95
Digital-Ausgabe: £ 19.95
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]
[otw_shortcode_content_box title=“Bildquellen” title_style=“otw-regular-title” content_pattern=“otw-pattern‑2” icon_type=“general foundicon-globe”]
Illustration Die Eissphinx — Wikimedia
Cover Jacobin — © Jacobin
Cover Tribune — © Tribune
Cover The Chaplin Machine — © Pluto Press
[/otw_shortcode_content_box]
[sh_margin margin=“30” ][/sh_margin]
© Jörg Auberg 2019
Nachweise
- Zitiert in Curt Bois, So schlecht war mir noch nie: Aus meinem Tagebuch (Königstein: Athenäum, 2001); Jean-Claude Kuner, Curt Bois: Auf unbestimmte Zeit ver(g)reist, Produktion: SFB/DRS 1990, 79 Minuten ↩
- Irving Howe, Einleitung zu: Twenty-Five Years of Dissent: An American Tradition, hg. Irving Howe (New York: Methuen, 1979), S. xv ↩
- Irving Howe und C. Wright Mills, »Intellectuals and Russia«, Dissent, 6:3 (Sommer 1959):295–301; C. Wright Mills, »The New Left« (1960), in: Power, Politics and People: The Collected Essays of C. Wright Mills, hg. Irving Louis Horowitz (New York: Oxford University Press, 1963), S. 249 ↩
- Robin Blackburn, »Fin de Siècle: Socialism After the Crash«, New Left Review, Nr. 185 (Januar-Februar 1991):5–66 ↩
- Nye Bevan, zitiert in: Hilary Wainwright, »Critical Tradition: Tribune Then and Now«, Red Pepper, 23. Dezember 2018, https://www.redpepper.org.uk/critical-tradition-tribune-then-and-now/ ↩
- »US journalist to revive Labour left magazine Tribune«, The Guardian, 31. August 2018, https://www.theguardian.com/politics/2018/aug/31/labour-left-magazine-tribune-to-be-revived-by-29-year-old-reporter; cf. Jacobin: Die Anthologie, hg. Loren Balhorn und Bhaskar Sunkara, übers. Stephan Gebauer (Berlin: Suhrkamp, 2018) ↩
- Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Berlin: Suhrkamp, 2016), S. 37 ↩
- Ronan Burtenshaw, »The Old and the New«, Tribune, Nr. 1 (November-Dezember 2018):6 ↩
- Chris Mclaughlin, »As I Please«, Tribune, Nr. 1 (November-Dezember 2018):22–23 ↩
- Hilary Wainwright, »Critical Tradition: Tribune Then and Now«. Der Weg von der Sozialdemokratie zum Faschismus oder zu anderen autoritären Formen der Repräsentation ist nicht ein untypisches Phänomen im 20. Jahrhundert: cf. Robert Michels, Masse, Führer, Intellektuelle (Frankfurt/Main: Campus, 1987) ↩
- Theodor W. Adorno, »Marginalien zu Theorie und Praxis«, in: Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 774 ↩
- Mark Seddon, »Welcome Back Tribune«, Tribune, Nr. 1, S. 96 ↩
- Siegfried Kracauer, Die Angestellten (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1971), S. 33 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 146 ↩
- George Orwell, »Antisemitism in Britain«, in: George Orwell, Essays (London: Penguin, 2000), S. 287 ↩