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Hans-Christian Riechers — Peter Szondi: Eine intellektuelle Biographie

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Das Szondi-Projekt

Über Hans-Christian Riechers »intellektuelle Biographie« Peter Szondis

von Jörg Auberg

Als ich zu Beginn der 1980er Jah­re mein Stu­di­um am Insti­tut für All­ge­mei­ne und Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in West-Ber­lin auf­nahm, schweb­te noch der Geist Peter Szon­dis durch die alte Insti­tuts­vil­la. Den Dozen­ten und Dozen­tin­nen kam sein Name nur in einem ehr­fürch­ti­gen Hau­chen über die Lip­pen. Dem früh ver­stor­be­nen insti­tu­tio­nel­len Begrün­der der Kom­pa­ra­tis­tik in der Bun­des­re­pu­blik, der sich einem trans­na­tio­na­len lite­ra­ri­schen Raum jen­seits der natio­nal kon­ta­mi­nier­ten Ger­ma­nis­tik ver­pflich­tet sah, haf­te­te ein legen­dä­rer Sta­tus an, mit dem selbst so illus­tre Insti­tuts­mit­glie­der wie Eber­hard Läm­mert oder Hel­la Tie­de­mann nicht kon­kur­rie­ren konn­ten. In der Insti­tuts­my­tho­lo­gie ver­band er alles Posi­ti­ve aus der Ver­gan­gen­heit mit dem Ver­spre­chen der Zukunft, setz­te fort, was Wal­ter Ben­ja­min begon­nen hat­te, und schuf den insti­tu­tio­nel­len Rah­men für eine neue intel­lek­tu­el­le Diskussionskultur. 

Peter Szondi (© Freie Universität Berlin)
Peter Szon­di (© Freie Uni­ver­si­tät Berlin)

Mitt­ler­wei­le trägt das Insti­tut den Namen sei­nes Grün­ders, ist aber aus der beschau­li­chen Vil­la am Hüt­ten­weg in den »uni­ver­si­tär-indus­tri­el­len Kom­plex« in der »Rost- und Sil­ber­lau­be« in der Habel­schwerd­ter Allee in Dah­lem gezo­gen. Der 2009 ver­stor­be­ne Szon­di-Nach­fol­ger Gert Mat­ten­klott beklag­te zwar vier Jah­re vor sei­nem Tod den erfolg­lo­sen Pro­test gegen den Ver­lust der alten Vil­la mit all ihren Vor­zü­gen (außer­halb der indus­tri­el­len Wis­sens­schafts­fa­brik traf man sich dort abends und am Wochen­en­de zu Semi­na­ren und schloss die Ver­an­stal­tung mit einem klei­nen Umtrunk in irgend­ei­ner Knei­pe ab), doch sind in den neu­en Räum­lich­kei­ten (die links und rechts der lan­gen Flu­re des Exzel­lenz-Fabrik­ge­bäu­des lie­gen) die aka­de­mi­schen Arbeits­ab­läu­fe zwei­fels­oh­ne straf­fer und effi­zi­en­ter zu orga­ni­sie­ren. In der neo­li­be­ra­len Aus­prä­gung des aka­de­mi­schen Betrie­bes, in der (mit einem Wort Theo­dor W. Ador­nos) »der impli­zi­te Kon­for­mis­mus der Geis­tes­wis­sen­schaft«1 domi­niert, kon­ter­ka­riert die der­zei­ti­ge insti­tu­tio­nel­le Imple­men­tie­rung der Kom­pa­ra­tis­tik die intel­lek­tu­el­le Prä­mis­se des »Szon­di-Pro­jekts«.

In Ansät­zen ist dies in der »intel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie« Szon­dis des Frei­bur­ger Ger­ma­nis­ten Hans-Chris­ti­an Rie­chers wie­der­zu­fin­den, die als Dis­ser­ta­ti­on an der Uni­ver­si­tät Bie­le­feld ent­stand. Rie­chers beschreibt Szon­di als beein­dru­cken­de äuße­re Erschei­nung mit einer dunk­len, sono­ren Stim­me, als eine wider­spruchs­vol­le und rät­sel­haf­te Gestalt, als streit­ba­ren öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len, als »jemand mit einem Namen, der ihm vor­aus­eilt«2 (was immer dies hei­ßen mag). Szon­di wur­de 1929 in Buda­pest als Sohn einer jüdi­schen Intel­lek­tu­el­len­fa­mi­lie gebo­ren, die 1944 im »Auf­ent­halts­la­ger« Ber­gen-Bel­sen in der Lüne­bur­ger Hei­de inhaf­tiert wur­de. Über einen Geld­han­del zwi­schen Reprä­sen­tan­ten der jüdi­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Waa­dah und Ver­tre­tern Hein­rich Himm­lers konn­ten die Szon­dis mit wei­te­ren 1683 »Aus­tausch­ju­den« in die Schweiz aus­rei­sen.3 Nach dem Ende des Krie­ges stu­dier­te Peter Szon­di in Zürich und Paris Phi­lo­so­phie, Ger­ma­nis­tik und Roma­nis­tik und pro­mo­vier­te 1954 mit sei­ner viel­be­ach­te­ten Theo­rie des moder­nen Dra­mas in Zürich, die an die Arbei­ten Georg Lukács‘ und Wal­ter Ben­ja­mins anknüpfte.

Peter Szondi (© dpa)
Peter Szon­di (© dpa)

In der Fol­ge­zeit hat­te Szon­di sowohl mit gesund­heit­li­chen Pro­ble­men als auch mit beruf­li­chen Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen. Da ihm das Kli­ma in Zürich kon­ti­nu­ier­lich Migrä­ne ver­ur­sach­te, sie­del­te er nach Ber­lin über, wo er sich mit dem Ver­such über das Tra­gi­sche an der Frei­en Uni­ver­si­tät habi­li­tier­te. In den 1960er Jah­ren eta­blier­te sich Szon­di als kri­ti­scher Intel­lek­tu­el­ler, der gegen das Fort­wir­ken ehe­ma­li­ger natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Funk­tio­nä­re im poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Leben der Bun­des­re­pu­blik oppo­nier­te. Die Kon­se­quenz die­ses öffent­li­chen Enga­ge­ments war, dass er nicht zum Pro­fes­sor an der Frank­fur­ter Goe­the-Uni­ver­si­tät beru­fen wur­de – trotz der Für­spra­che von Theo­dor W. Ador­no und Jür­gen Haber­mas. Aus­schlag­ge­bend waren vor allem alte »Phi­lo­lo­gen« mit NS-Ver­gan­gen­heit, die im Sin­ne des alt­deut­schen Regimes die natio­na­le Ger­ma­nis­tik fort­füh­ren woll­ten, in der Juden kei­nen Platz hatten.

1964 wur­de Szon­di auf den Lehr­stuhl für »Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft« beru­fen, wobei es ihm gelang, den insti­tu­tio­nel­len Rah­men für eine »welt­läu­fi­ge«, »anti­na­tio­na­le« Inter­pre­ta­ti­on der Lite­ra­tur zu schaf­fen. Sein »Semi­nar« (das noch kein Insti­tut war) betrach­te­te er (mit den Wor­ten Rie­chers‘) als »Pflanz­stät­te«, in der sich eine »beson­ders inter­es­sier­te und begab­te Grup­pe« aus einem »ande­ren Deutsch­land« ein­fän­de4. Es war ein abge­schie­de­ner Ort, in der gemein­sam dicht am Text gear­bei­tet und dis­ku­tiert wur­de, und Szon­di ver­kör­per­te eine Gegen­po­si­ti­on zum auto­ri­tä­ren Vor­le­sungs­stil, den bis in die 1980er Jah­re ande­re Insti­tuts­mit­glie­der trotz vor­geb­li­cher Libe­ra­li­tät ver­tra­ten und vor Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen gern den steiß­trom­meln­den Zam­pa­no gaben. Szon­di hat­te mit sei­ner Welt­läu­fig­keit eine insti­tu­tio­nel­le Are­na eröff­net, in der spä­ter die Akteu­ren ihre aka­de­mi­schen Dar­bie­tun­gen in Erstar­rung, ego­is­ti­sche Eitel­kei­ten, phi­lo­lo­gi­sche Ver­staubt­heit oder arro­gan­ter Exal­tiert­heit ver­en­den lie­ßen. Die von Szon­di ange­streb­te Wei­te ver­lor sich schließ­lich in der ver­zerr­ten Eng­stir­nig­keit klei­ner Eli­ten, wel­che die Lite­ra­tu­ren an den media­len Betrieb verrieten.

In den 1960er Jah­ren blieb Szon­di – trotz der zuneh­men­den Ideo­lo­gi­sie­rung der Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Stu­den­ten und den Insti­tu­tio­nen der Macht – auf Sei­ten der Eman­zi­pa­ti­on, ver­tei­dig­te den unbot­mä­ßi­gen Uni­ver­si­täts­as­sis­ten­ten Ekke­hart Krip­pen­dorff, dem wegen lin­ker Akti­vi­tä­ten das Anstel­lungs­ver­hält­nis gekün­digt wer­den soll­te, oder trat als Gut­ach­ter im Pro­zess gegen die Kom­mu­nar­den Fritz Teu­fel und Rai­ner Lang­hans auf. Selbst als links­ra­di­ka­le Stu­den­ten der »Roten Zel­le Ger­ma­nis­tik« (Rot­zeg) sein Insti­tut ver­wüs­te­ten, rief er nicht die Poli­zei auf den Plan. Am Ende schien er vom Tod sei­ner engen Freun­de Ador­no und Celan der­art zer­mürbt, dass er sei­nem Leben im Okto­ber 1971 im Ber­li­ner Halen­see ein Ende setzte.

Hans-Christian Riechers: Peter Szondi - Eine intellektuelle Biographie (© Campus Verlag)
Hans-Chris­ti­an Rie­chers: Peter Szon­di — Eine intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie (© Cam­pus Verlag)

In sei­nen bes­ten Momen­ten gelingt es Rie­chers die beklem­men­de Atmo­sphä­re in der vom Fort­wir­ken des Faschis­mus gezeich­ne­ten Bun­des­re­pu­blik zu ver­an­schau­li­chen, etwa in Szon­dis ver­geb­li­chen Ver­su­chen, sich (in der Tra­di­ti­on Wal­ter Ben­ja­mins) in das kul­tu­rel­le Milieu West­deutsch­lands »ein­zu­schrei­ben«, wäh­rend in den media­len und uni­ver­si­tä­ren Gre­mi­en noch immer die »brau­nen Seil­schaf­ten« domi­nier­ten, die sich von einem Juden nichts »vor­schrei­ben« las­sen woll­ten. Sym­pto­ma­tisch ist dies in der Ver­tei­di­gung Paul Cel­ans gegen alte NS-Scher­gen wie Fried­rich Sieburg und Hans Egon Hol­thusen in den Kom­man­do­stän­den des bür­ger­li­chen Feuil­le­tons der FAZ und ande­rer media­ler Unter­stän­de des alten Regimes. Gegen den Celan-Quä­ler Hol­thusen, der gegen Cel­ans vor­geb­lich von Yvan Goll pla­gi­ier­ten Aus­druck »Müh­len des Todes« im Gedicht­band Mohn und Gedächt­nis (1953) das Ver­dikt vor­brach­te, der Dich­ter besit­ze eine »Vor­lie­be für die ›sur­rea­lis­ti­sche‹ in X‑beliebigkeiten schwel­gen­de Geni­tiv­me­ta­pher«5, weist Rie­chers dar­auf hin, dass der Begriff »Todes­müh­len« bereits in dem ers­ten Ree­du­ca­ti­on-Film Death Mills (1946) ver­wen­det wur­de, der in Pres­se­be­rich­ten jener Zeit (in der Frank­fur­ter Rund­schau, im Tages­spie­gel und ande­ren Orga­nen bespro­chen wur­de). In ihren frü­hen Arti­keln sprach Han­nah Are­ndt im glei­chen Kon­text von »Todes­fa­bri­ken«.6

Lei­der ver­schenkt Rie­chers eine Viel­zahl nar­ra­ti­ver Mög­lich­kei­ten, da er Szon­dis »intel­lek­tu­el­le Bio­gra­fie« im his­to­ri­schen Prä­sens erzäh­len möch­te: Er prä­sen­tiert sei­ne Geschich­te wie von einer Guck­kas­ten­büh­ne, wobei der Erzäh­ler stän­dig durch den Gra­ben läuft und ohne Unter­lass von den Ereig­nis­sen erzählt, wie sie sich vor sei­nem Auge abspie­len: »In Ungarn liest die jun­ge Ágnes Hel­ler, wie Szon­di Jahr­gang 1929, noch vor Kriegs­en­de begeis­tert den Zau­ber­berg.« – »Ador­no ist nicht mehr weg­zu­den­ken.« – [Der] »jun­ge Lek­tor [Sieg­fried Unseld] macht die Phi­lo­so­phie der neu­en Musik zu sei­nem Gesel­len­stück.« – »Szon­di geht auf Wal­ter Ben­ja­min zurück, des­sen Schrif­ten erst lang­sam bekann­ter wer­den.« – »Im Vor­hin­ein schwankt er [Peter Szon­di] zwi­schen Selbst­be­wusst­sein und Ver­zagt­heit.«7

Gert Mattenklott, Wolfgang Fietkau und Peter Szondi im Jahr 1967 (© Heinz Blumensath)
Gert Mat­ten­klott, Wolf­gang Fiet­kau und Peter Szon­di im Jahr 1967 (© Heinz Blumensath)

Im Gegen­satz zu ande­ren Bio­gra­phien (wie etwa die meis­ter­li­che Lebens­be­schrei­bung von Howard Eiland und Micha­el W. Jen­nings über Wal­ter Ben­ja­min oder Mar­tin Jays eher kur­ze, aber prä­gnan­te Ador­no-Mono­gra­fie) ver­mag Rie­chers es nicht, die Ver­bin­dung zwi­schen Indi­vi­du­um, Intel­lekt und Gesell­schaft her­zu­stel­len. Alles bleibt in Ein­zel­tei­len, Schnip­seln und Kom­men­ta­ren wie in einem ober­fläch­li­chen Fern­seh­fea­ture zurück, in dem für Dif­fe­ren­zie­run­gen (etwa in der Beur­tei­lung Wal­ter Ben­ja­mins durch den Suhr­kamp-Lek­tor Wal­ter Boeh­lich) kein Raum bleibt. Glei­cher­ma­ßen ver­kommt der Tod Szon­dis in Rie­chers‘ »Ende« zu einem mit Zita­ten zuge­kleis­ter­ten Text, in dem sich ein nar­ra­ti­ves Unver­mö­gen und eine man­geln­de Empa­thie für den Prot­ago­nis­ten der Geschich­te mani­fes­tie­ren. In der »intel­lek­tu­el­len Bio­gra­fie« haben die per­sön­li­chen »Dys­funk­tio­nen« wenig Raum; Hin­ter­grün­de für die häu­fi­ge Migrä­ne oder das stän­di­ge Wie­der­keh­ren von Depres­sio­nen blei­ben im Dun­kel. In sei­ner Ein­lei­tung schreibt Rie­chers von der »Undurch­schau­bar­keit die­ser Wis­sen­schaft­ler­per­sön­lich­keit« und ver­wahrt sich gegen For­men der Indis­kre­ti­on. Daher beschränkt er sich in sei­ner Vor­stel­lung einer Wis­sen­schafts­his­to­rio­gra­fie auf den Begriff der »intel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie«, die vie­les aus­spart und statt­des­sen mit ober­fläch­li­chen Beschrei­bun­gen wie dem »Schwan­ken« des Prot­ago­nis­ten »zwi­schen Selbst­be­wusst­sein und Ver­zagt­heit« han­tiert. Damit wird Rie­chers sei­nem »Gegen­stand« (als den er Szon­di offen­bar begreift) jedoch nicht gerecht.

© Jörg Auberg 2020

Bibliografische Angaben:

Hans-Chris­ti­an Riechers.
Peter Szon­di: Eine intel­lek­tu­el­le Biographie.
Frankfurt/Main: Cam­pus Ver­lag, 2020.
281 Sei­ten, 39,95 Euro.
ISBN: 9783593512228.

Nachweise

  1. Theo­dor W. Ador­no, Ein­grif­fe: Neun kri­ti­sche Model­le (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1963), S. 57
  2. Hans-Chris­ti­an Rie­chers, Peter Szon­di: Eine intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie (Frankfurt/Main: Cam­pus, 2020), S. 18
  3. Raul Hil­berg, Die Ver­nich­tung der euro­päi­schen Juden, übers. Chris­ti­an See­ger et al. (Frankfurt/Main: Fischer, 1994), S. 909
  4. Rie­chers, Peter Szon­di: Eine intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie, S. 103
  5. Rie­chers, Peter Szon­di: Eine intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie, S. 129
  6. Daten zum Film Die Todes­müh­len cf. https://web.archive.org/web/20110612043535/http://www.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?dfw00fbw000061.gd; Han­nah Are­ndt, Essays in Under­stan­ding, 1930–1954: For­ma­ti­on, Exi­le, and Tota­li­ta­ria­nism, hg. Jero­me Kohn (New York: Scho­cken, 1994), S. 200, 235
  7. Rie­chers, Peter Szon­di: Eine intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie, S. 34, 35, 90, 93–94

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