Furien des Verschwindens
Anmerkungen zu einer Anthologie der »Intellectual History« nach 1968
von Jörg Auberg
»Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch.«
Theodor W. Adorno 1
Im Wortschatz der New Yorker Intellektuellen, bemerkte Eugene Goodheart in einem kurzen Abriss ihrer Geschichte, bezeichnete der Begriff »Akademiker« stets das Antonym zum »Intellektuellen«. Die Zweitrangigen, die Mittelmäßigen und die Pedanten suchten Zuflucht im Reich der Akademien, während die Intellektuellen die Großstadtluft zum Denken, Schreiben und Atmen brauchten, um ihrem Drang nach einem freien Leben Geltung zu verschaffen.2 In dieser Tradition der intellektuellen Kritik der akademischen betrachtete auch Russell Jacoby, der selbst aus dem universitätskritischen Milieu der »New Left« kam und später in die akademischen Sphären der Philosophie und Kulturkritik eintauchte, die New Yorker Intellektuellen als aussterbende Spezies, die von der »Professionalisierung« und »Akademisierung« des intellektuellen Gewerbes nach dem Zweiten Weltkrieg überholt wurde.3
Die Freiheit der ehemaligen aufmüpfigen intellektuellen Bohemiens endete in den engen Räumen der Universitäten und akademischen Instituten, wenn nicht gar im verdorrten Ödland oder in der »Zone der Indifferenz«, wo wie in Becketts Landschaften mehr als nur die Tränen versiegt sind. 4 Nach 1945 bildete sich eine institutionalisierte technische Intelligenz als »neue Klasse« heraus, welche die Intellektuellen der Vergangenheit mit ihrer romantischen »Liebe zu Büchern«, in der immer auch utopische Momente der Errettung und visionären Gestaltung des Zukünftigen verborgen lagen, in einem technokratischen Herrschaftsdrang ablösten. »Revolutionäre Intellektuelle sind Träger der Moralität einer vergangenen Zeit«, diagnostizierte der Sozialwissenschaftler Alvin W. Gouldner, »die angepaßten (und anpassenden) Angehörigen der Intelligenz die Träger einer neuen Amoralität: Wer ist revolutionärer?«5
Obwohl dem traditionellen Intellektuellen die ökonomischen und politischen Lebensgrundlagen entzogen sind oder seine Existenzberechtigung in Frage gestellt wird6, eruptieren periodisch immer wieder Diskussionen um das Verschwinden oder das Versagen der »öffentlichen Intellektuellen« im politischen oder gesellschaftlichen Diskurs. Während in ihrer »Hochzeit« kritische Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre oder Günter Grass als plappernde Nervensägen gescholten wurden, die sich in Sachen einmischten, von denen sie nichts verständen oder die sie nichts angingen, wird heute über das Verstummen der intellektuellen Stimmen lamentiert. Jüngst beklagte der konservative Kolumnist Ross Douthat in der englischen Zeitschrift The New Statesman den »Niedergang des Intellektuellen«7 oder die Schriftstellerin Mirna Funk kritisierte das »Beschweigen« des Antisemitismus durch linke Intellektuelle8. In diesen wiederkehrenden Klagen und Anklagen artikuliert sich latent eine Sehnsucht nach Autoritäten oder geistigen Führern, die in Zeiten des politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Chaos stellvertretend für alle die Stimme erheben und den Weg in die richtige Richtung weisen. Auch die linke Intellektuellenkritik übernimmt dieses Topos. »Der Intellektuelle ist ein Geschöpf der bürgerlichen Institutionen«, diagnostizierten Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro in den 1970er Jahren. »Wenn er beginnt, seine Widersprüche mit aller Kraft und Klarheit wahrzunehmen, bleibt ihm nur eine Lösung: der Widerstand gegen den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft, die ihn geformt hat. Das setzt voraus, daß er eine Gesellschaft im Vorausblick hat, in der es keine Intellektuellen mehr geben wird, in der alle zugleich Techniker des praktischen Wissens und Handarbeiter sein werden.«9 In diesem Szenario ist der Intellektuelle zugleich Prophet einer zukünftigen idealen Gesellschaft und Agent der eigenen Aufhebung: Nachdem das gelobte Land erreicht worden ist, wird er verschwinden.
Auch der von Ingrid Gilcher-Holtey und Eva Oberloskamp herausgegebene Band Warten auf Godot? (der auf eine Tagung im Münchener Institut für Zeitgeschichte im Juli 2018 zurückgeht) beginnt mit der Frage »Gibt es ihn noch – den Intellektuellen? […] Ähnlich wie im Falle Godots in Becketts Theaterstück herrschen heute Zweifel an seiner Existenz und Wirkungsmacht.« In verschiedenen Beiträgen versuchen die Autor:innen (die ausnahmslos dem akademischen Milieu entstammen) die Veränderungen in der sozialen Rolle der Intellektuellen in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit nach 1968 aufzuzeigen. »Im Zentrum stehen Figuren«, heißt es in einer Verlagsmitteilung zu diesem Band, die am klassischen Vorbild orientiert blieben, das Wechselverhältnis von Intellektuellen und sozialen Bewegungen, rechter (Anti-)Intellektualismus sowie das Spannungsverhältnis zwischen intellektueller Autonomie und politischem Engagement.«10
Das Spektrum des intellektuellen Rollenmodells reicht vom »klassischen Intellektuellen« (wie ihn in Reinform Sartre oder Albert Camus nach 1945 verkörperten) über den »spezifischen Intellektuellen« in der Definition Michel Foucaults bis zum »kollektiven Intellektuellen« (wie ihn Pierre Bourdieu entwarf). Im Laufe der Jahrzehnte fanden – begründet durch politische, ökonomische, kulturelle und technologische Prozesse – immer wieder Transformationen der intellektuellen Rolle statt, die das traditionelle Selbstverständnis, aber auch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die Aufgaben oder die Verantwortung der Intellektuellen in Frage stellten.
In der Repräsentation der intellektuellen Realitäten stellen die Beiträge die ausgewählten Intellektuellen (wie Jürgen Habermas, Alexander Kluge, Susan Sontag, Rosa von Praunheim, Noam Chomsky, Eric Hobsbawm oder Adam Michnik) als herausragende Persönlichkeiten dar, die sich ihren Weg durch die gesellschaftlichen, ökonomischen, medialen und akademischen Institutionen geradezu furcht- und schadlos bahnen, um ihrem vorgeblichen Ziel, die »utopischen Oasen« am Leben zu erhalten (wie es bei Habermas heißt11, zu willfahren. Gefeiert werden »Geisteshero:innen« wie Alexander Kluge oder Susan Sontag, der das »Mandat der allgemeinen Intellektuellen« und das Prädikat der »letzten Intellektuellen« zugestanden wird, während ihre fragwürdige Ästhetisierung des Faschismus, ihre Verklärung von Leni Riefenstahl oder die Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus nie zur Sprache kommt12. Gleichermaßen erfährt Noam Chomsky eine unkritische Lobhudelei als »anarchistischer« Vordenker der »Occupy«-Bewegung, während sein fragwürdiges, später mit »Ahnungslosigkeit« begründetes Eintreten für den Holocaust-Leugner Robert Faurisson unerwähnt bleibt.13
In ihrem zentralen Essay »Dekonstruktion und Neudefinition eines Rollenmodells« versucht die Herausgeberin Ingrid Gilcher-Holtey die Intellektuellenkritik nach 1968 prägnant zu fassen, doch zumeist driftet sie bei diesem Versuch in Klischees und Gemeinplätze ab: In ihrer Darstellung stellte die »antiautoritäre Bewegung« nach 1968 die Rolle der »Intellektuellen« in Frage, doch diagnostizierte bereits Theodor W. Adorno das kalte informatorische Moment der »Antiautoritären«, in der sich eine »regressive Verwandlung« äußerte.14 Für Gilcher-Holthey existiert keine Welt jenseits der akademischen Begrenzungen: Kritische Autor:innen wie Mike Davis, Daniel Bensaïd, Martin Duberman, Murray Bookchin oder Vivian Gornick, die über Urbanismus, Pandemien, soziale Ökologie, Homosexualität oder Feminismus schrieben, kommen in diesem Band nicht vor.
Stattdessen wird stets aufs Neue das akademische Thema des »verwesenden« Intellektuellen beschworen, während niemand die Existenzberechtigung der akademischen Erfüllungsgehilfen der sozialen, ökonomischen und medialen Institutionen hinterfragt. Die Problematik der »Digitalisierung« könne »aus Platzgründen nur skizzenhaft« stattfinden15, behauptet ein Autor, dessen intellektuelle Neugier auf die Erkundung jenes Territoriums, das von herrschenden politischen Repräsent:innen als »Neuland« bezeichnet wird, sehr begrenzt zu sein scheint. Welchen Einfluss technologische und medienpolitische Prozesse, Produktions- oder Distributionsweisen oder die »technologische Macht des Apparats« (die Herbert Marcuse zu Beginn der 1940er Jahre beschrieb) auf die Arbeit von Intellektuellen und Akademiker:innen nimmt, wie sie »individualistische Rationalität in technologische Rationalität überführt«16, wird an keiner Stelle erörtert. Wie übermächtige, »freischwebende« Phantome geistern erlesene Intellektuelle durch die Weltgeschichte und sind von den technologischen Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ihrer gesellschaftlichen Praxis scheinbar unberührt. Obgleich Intellektuelle ihre Existenz über kulturelle Institutionen wie Universitäten, Akademien, Stiftungen, Verlage, Rundfunkanstalten oder Publikationsorgane organisieren, bleibt die Entwicklung dieser Medien (Überwachung, Technologisierung der Diskurse, »Datafizierung«) in der intellectual history seit 1968 vollkommen außen vor.17
Noch immer besteht ein Unterschied zwischen intellektueller Selbstaufgabe und intellektueller Selbstabschaffung. »Wenn zu dem, was heute ist, die Selbstabschaffung der Intellektuellen in den Medien zählt, dann ist noch nicht alles verloren«, schrieb Lothar Baier in den 1980er Jahren.18 Wenn – wie Sartre in einem Interview mit Michel Contat hervorhob – »die Anarchie, das heißt, eine Gesellschaft ohne Macht, verwirklicht werden« müsse19, ist auch der Intellektuelle, der kulturelle oder soziale Macht ausübt, obsolet und zum Verschwinden verurteilt. Dies kann dem seit langem auf Eis gelegten Projekt einer gesellschaftlichen Emanzipation als utopische Aufgabe durchaus förderlich sein. Il faut continuer, wie es bei Beckett heißt.
© Jörg Auberg 2021
Bibliografische Angaben:
Ingrid Gilcher-Holtey und Eva Oberloskamp (Hgg.).
Warten auf Godot?
Intellektuelle seit den 1960er Jahren.
Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte.
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Band 120.
Berlin: Walter de Gruyter, 2020.
240 Seiten, 24,95 Euro.
ISBN: 9783110681406.
Bildquellen (Copyrights) |
|
Szenenfoto The Big Sleep | Archiv des Autors |
Foto Warten auf Godot (Proben in Paris 1961) | © Ullstein/Roger Viollet — entnommen: Samuel Beckett: Wir sind Zauberer (München: Der Hörverlag, 2006) |
Foto Warten auf Godot (Proben in Berlin 1975) |
© Ullstein/Remmler — entnommen: Samuel Beckett: Wir sind Zauberer (München: Der Hörverlag, 2006) |
Cover Warten auf Godot? |
© Walter de Gruyter |
Cover Mittelweg 36 — Digitale Praktiken |
© Hamburger Institut für Sozialforschung |
Nachweise
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951; rpt. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 174 ↩
- Eugene Goodheart, The Reign of Ideology (New York: Columbia University Press, 1997), S. 83 ↩
- Russell Jacoby, The Last Intellectuals: American Culture in the Age of Academe (1987; erw. New York: Basic Books, 2000), S. xv-xxi ↩
- Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981), S. 292 ↩
- Alvin W. Gouldner, Die Intelligenz als neue Klasse: 16 Thesen zur Zukunft der Intellektuellen und der technischen Intelligenz, übers. Constans Seyfarth (Frankfurt/Main: Campus, 1980), S. 88 ↩
- Zur kritischen Einordnung cf. George Scialabba, What Are Intellectuals Good For? (Boston, MA: Pressed Wafer, 2009); und Steffen Vogel, Abtritt der Avantgarde: Die Demokratisierung des Intellektuellen in der globalisierungskritischen Bewegung (Marburg: Tectum, 2012) ↩
- Ross Douthat, »The Fall of the Intellectual: Where Have all the Great Thinkers Gone?«, New Statesman, 5. Mai 2021, https://www.newstatesman.com/culture/books/2021/05/fall-intellectual ↩
- »Warum linke Intellektuelle zu Antisemitismus schweigen: Mirna Funk über mangelnde Solidarität mit Jüdinnen und Juden«, SWR2 Kultur aktuell, SWR2, 19. Mai 2021, https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/hass-statt-differenzierung-autorin-mirna-funk-ueber-mangelnde-solidaritaet-mit-juden-100.html ↩
- Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro, »Befriedungsverbrechen«, übers. Jutta Klinkers, in: Befriedungsverbrechen: Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen, hg. Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro (Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, 1980), S. 37 ↩
- »Warten auf Godot? Intellektuelle seit den 1960er Jahren«, https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110681444/html ↩
- Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985), S. 161 ↩
- Warten auf Godot? Intellektuelle seit den 1960er Jahren, hg. Ingrid Gilcher-Holtey und Eva Oberloskamp (Berlin: Walter de Gruyter, 2020), S. 49, 69 ↩
- Warten auf Godot?, S. 133–135; Lothar Baier, Französische Zustände: Berichte und Essays (Frankfurt/Main: Fischer, 1985), S. 115–118 ↩
- Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003), S. 774 ↩
- Warten auf Godot?, S. 46 ↩
- Herbert Marcuse, Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934–1941 (Springe: zu Klampen, 2004), S. 290 ↩
- Zum Hintergrund siehe Media and Society, hg. James Curran und David Hesmondhalgh (London: Bloomsbury, 2019, 6. Auflage); Tim Markham, Digital Life (London: Polity Press, 2020); Natalie Fenton et al., The Media Manifesto (London: Polity Press, 2020); Digitale Praktiken, Mittelweg 36, 30:1 (Februar/März 2021) ↩
- Baier, Französische Zustände, S. 217 ↩
- Jean-Paul Sartre, Sartre über Sartre: Aufsätze und Interviews, 1940–1976, hg. Traugott König, übers. Peter Aschner u. a. (Reinbek: Rowohlt, 1977), S. 196 ↩