Defining the Age — Daniel Bell, His Time and Ours

D

Verloren und abtrünnig

 

Daniel Bells Lamento einer verblassten Geschichte

von Jörg Auberg

Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Dani­el Bell (1919–2011) gilt als ein pro­to­ty­pi­scher Reprä­sen­tant der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len des 20. Jahr­hun­derts, der nicht nur den Weg von der »alten Lin­ken« in den 1930er Jah­ren zum Neo­kon­ser­va­tis­mus der Rea­gan-Ära beschritt, son­dern auch den Tran­sit vom »frei­schwe­ben­den Intel­lek­tu­el­len« zum Aka­de­mi­ker in Eli­te-Insti­tu­tio­nen wie Colum­bia und Har­vard voll­zog.1 Gebo­ren als Dani­el Bolots­ky in einer Immi­gran­ten­fa­mi­lie ost­eu­ro­päi­scher Juden in der Lower East Side New Yorks, schloss er sich 1932 der trotz­kis­ti­schen Young People’s Socia­list League (YPSL) an und durch­lief am City Col­lege die typi­sche New Yor­ker Schu­le von Mar­xis­mus und Sozia­lis­mus mit ihren legen­dä­ren Riva­li­tä­ten und Schis­men.2 Spä­ter war er als Jour­na­list im Umfeld der anti­kom­mu­nis­ti­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie (unter ande­rem für die Zeit­schrift The New Lea­der) tätig, ehe er in den 1950er Jah­ren eine aka­de­mi­sche Kar­rie­re ein­schlug und als Sprach­rohr des CIA-finan­zier­ten Kon­gres­ses für kul­tu­rel­le Frei­heit (der unter ande­rem Zeit­schrif­ten wie Par­ti­san Review, Encoun­ter, Preu­ves, Tem­po pre­sen­te und Der Monat finan­zi­ell unter­stütz­te) das »Ende der Ideo­lo­gie« ver­kün­de­te. Sei­ne eins­ti­ger Colum­bia-Kol­le­ge C. Wright Mills rubri­zier­te ihn in sei­nem »Brief an die Neue Lin­ke« als »NATO-Intel­lek­tu­el­len« und bezeich­ne­te das »Gewäsch« vom Ende der Ideo­lo­gie als »Ideo­lo­gie eines Endes«, eines »Endes der poli­ti­schen Refle­xi­on als öffent­li­che Tat­sa­che«.3

Bere­nice Abbott: Man­hat­tan South Street Water­front (1935)

Im Lau­fe der 1960er Jah­re beweg­te sich Bell unter dem Ein­druck der Bür­ger­rechts­be­we­gung, der Neu­en Lin­ken und der Gegen­kul­tur zuneh­mend in rechts­kon­ser­va­ti­ve Gefil­de und grün­de­te 1965 zusam­men mit sei­nem ehe­ma­li­gen YPSL-Genos­sen Irving Kris­tol die Zeit­schrift The Public Inte­rest, die als Sprach­rohr des Neo­kon­ser­va­tis­mus fun­gier­te und den Boden für einen neu­rech­ten Popu­lis­mus mit auto­ri­tä­ren Ten­den­zen berei­te­te, den spä­ter »Lea­der« wie Ronald Rea­gan, Geor­ge W. Bush und Donald Trump für ihre öko­no­mi­schen und mili­tä­ri­schen Pro­jek­te nutz­ten. Stets distan­zier­te sich Bell von den Hard­core-Neo­kon­ser­va­ti­ven und ver­wahr­te sich dage­gen, als Neo­kon­ser­va­ti­ver rubri­ziert zu wer­den4, und selbst Ver­tre­ter der zwei­ten Gene­ra­ti­on der »Frank­fur­ter Schu­le« wie Hel­mut Dubiel oder Jür­gen Haber­mas sahen in Bell eher einen »ver­lo­re­nen Cou­sin« denn einen reak­tio­nä­ren Apo­sta­ten, der in sei­nen kul­tur­kri­ti­schen Ana­ly­sen »durch­aus in Über­ein­stim­mung mit einer kri­ti­schen  Theo­rie der Ästhek­tik«5 ste­he und trotz sei­ner neo­kon­ser­va­ti­ven Argu­men­ta­ti­ons­li­nie gegen Moder­nis­mus, Avant­gar­de und anar­chis­ti­sche Bohe­me inter­es­san­te Über­le­gun­gen zur Kul­tur­theo­rie und Kul­tur­kri­se bei­steue­re6.

Trotz die­ser Distan­zie­rungs­ver­su­che blieb Bell einem »erschöpf­ten« poli­ti­schen Libe­ra­lis­mus des Kal­ten Krie­ges ver­haf­tet, der dem Neu­erstar­ken der US-ame­ri­ka­ni­schen Rech­ten nach 1968 nichts ent­ge­gen­zu­set­zen wuss­te und schließ­lich den Pakt mit »reak­tio­nä­ren Idea­lis­ten« (wie Jean-Fran­çois Dro­let die Neo­kon­ser­va­ti­ven bezeich­ne­te7 such­te, wel­che die demo­kra­ti­schen Fun­da­men­te der US-ame­ri­ka­ni­schen Insti­tu­tio­nen ero­die­ren lie­ßen. In der his­to­ri­schen Erin­ne­rung ist Bell vor allem ein Apo­lo­get der still­ge­stell­ten Geschich­te, in der die Apa­thie ins Nichts führt: Es ist bes­ser, sich nicht zu regen, als eine fal­sche Bewe­gung aus­zu­füh­ren. Die­se geis­ti­ge und psy­chi­sche Star­re war für rech­te Aktio­nis­ten in den USA zu ver­füh­re­risch, als dass sie sich die­sen güns­ti­gen his­to­ri­schen Moment ent­ge­hen lie­ßen, um sich medi­al in Sze­ne zu set­zen und stra­te­gi­sche Macht­po­si­tio­nen im Herr­schafts­ge­fü­ge zu okkupieren.

Defining the Age: Daniel Bell, His Time and Ours (Columbia University Press, 2022)
Defi­ning the Age: Dani­el Bell, His Time and Ours (Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2022)

In dem von Paul Starr und Juli­an E. Zeli­zer her­aus­ge­ge­be­nen Band Defi­ning the Age: Dani­el Bell, His Times and Ours wird der Ver­such unter­nom­men, inter­dis­zi­pli­när das intel­lek­tu­el­le Ver­mächt­nis Bells aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven einer kri­ti­schen Wür­di­gung zu unter­zie­hen. Sein Sohn, der His­to­ri­ker David A. Bell, weist auf den nicht auf­ge­lös­ten Wider­spruch zwi­schen »hebräi­schem Kon­ser­va­tis­mus« und »jid­di­schem Radi­ka­lis­mus« im Leben sei­nes Vaters hin und bezeich­net ihn als »Men­sche­wi­ken«, der in frü­her Jugend von Alex­an­der Berk­mans Kri­tik der bol­sche­wis­ti­schen Pra­xis und sei­nes Berichts über die bru­ta­le Nie­der­schla­gung des Matro­sen­auf­stan­des in Kron­stadt 1921 geprägt wor­den sei. Dar­in sei für Bell die in New Yor­ker Zir­keln ver­klär­te Figur des »revo­lu­tio­nä­ren Intel­lek­tu­el­len« Leo Trotz­ki als »Genie der bol­sche­wis­ti­schen Repres­si­on« demys­ti­fi­ziert wor­den, wie er 1982 in einem Inter­view mit dem His­to­ri­ker Howard Brick bekann­te.8 In den Augen sei­nes Soh­nes habe Berk­mans Beschrei­bung der Kron­städ­ter Ereig­nis­se einen »Rück­stoß gegen poli­ti­schen Extre­mis­mus Zeit sei­nes Lebens«9 Bei Bell bewirkt. Auch sein Nef­fe Micha­el Kazin, ehe­ma­li­ger Akti­vist der radi­ka­len Pro­test­be­we­gung in den 1960er Jah­ren und lang­jäh­ri­ger Her­aus­ge­ber der lin­ken Zeit­schrift Dis­sent, beschreibt Bell – trotz des­sen neo­kon­ser­va­ti­ven Tran­sits – als »Mann der Lin­ken«, der kri­tisch die US-ame­ri­ka­ni­sche Lin­ke beglei­te­te, ohne sich von ihr abge­wen­det zu haben, obgleich er Geor­ge McGo­vern wegen sei­ner Nähe zur »psy­che­de­li­schen Kul­tur« der 1960er Jah­re ablehn­te und Richard Nixon allein wegen sei­nes »gro­bia­ni­schen« Cha­rak­ters ver­ab­scheu­te.10

Wie bei der Majo­ri­tät der New Yor­ker Intel­lek­tu­el­len kamen in der Gesell­schafts­ana­ly­se Bells Frau­en, Afro-Ame­ri­ka­ner und His­pa­nics nicht vor: Sie stell­ten – wie der schwar­ze Intel­lek­tu­el­le Harold Cru­se (1916–2005) kri­ti­sier­te – für Bell kei­ne »sozio­lo­gi­sche Kate­go­rie« dar.11 Bell beweg­te sich in der »geis­ti­gen Bla­se« der Aka­de­mi­ker und Intel­lek­tu­el­len, in der die Wahr­neh­mung über­aus ein­ge­schränkt war: Sub­kul­tu­rel­le Phä­no­me­ne wie die Beats redu­zier­te er auf Zele­bri­tä­ten der Kul­tur­in­dus­trie wie Allen Gins­berg und Jack Kerouac (vor Wil­liam Bur­roughs’ Fan­ta­sien ekel­te er sich); der Moder­nis­mus wie der lin­ke »Uto­pis­mus« hät­ten sich erschöpft, war er sich gewiss; und mit der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur ging es sei­ner Mei­nung nach nur berg­ab. »Die ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­ler der mitt­le­ren Gene­ra­ti­on – etwa Pyn­chon und Salin­ger – haben sich zurück­ge­zo­gen oder sind ver­stummt«, schrieb er in einem neo­kon­ser­va­ti­ven Kri­sen­be­richt zu Beginn der 1990er Jah­re. »Die jün­ge­ren Autoren der Ära nach Viet­nam, bei­spiels­wei­se Don DeL­il­lo, Robert Stone und Micha­el Herr, sind nach wie vor damit beschäf­tigt, ihr Wut­po­ten­ti­al in Phan­ta­sam­go­ri­en über die ame­ri­ka­ni­sche Gesell­schaft umzu­set­zen; ande­re haben sich mini­ma­lis­ti­schen Spie­le­rei­en ver­schrie­ben (so Annie Beat­tie) oder arbei­ten nach den Schnitt­mus­tern von Vani­ty Fair12

Wie sein lite­ra­risch-aka­de­mi­scher Weg­ge­fähr­te Saul Bel­low nahm Bell in sei­nen neo­kon­ser­va­ti­ven Jere­mia­den nur Zei­chen des Unter­gangs in fast schon Spengler’schen Dimen­sio­nen wahr. Über allem wabern die dunk­len Wol­ken des Nie­der­gangs und des Ver­en­dens. Die »kul­tu­rel­len Wider­sprü­che des Kapi­ta­lis­mus« sind die bösen Geis­ter der Rea­li­tät in den urba­nen und aka­de­mi­schen Zen­tren des Indus­tria­lis­mus, in denen vor allem »alte wei­ße Män­ner« an den Rand des Wahn­sinns getrie­ben wer­den. Öko­lo­gi­sche Alter­na­ti­ven zur indus­tri­el­len Exis­ten­z­wei­se erschie­nen Bell nur als Varia­tio­nen eines poli­ti­schen Extre­mis­mus, der im Ver­der­ben enden wür­de. Der neo­kon­ser­va­ti­ve Tun­nel­blick ließ kei­ne Eman­zi­pa­ti­on im Sin­ne von Öko­lo­gie und Anar­chis­mus (wie sie von Lewis Mum­ford oder Mur­ray Book­chin ins Auge gefasst wur­de).13 Bell rich­te­te sich in einer nost­al­gi­schen Traum­welt ein, in der Intel­lek­tu­el­le den Ton anga­ben, wäh­rend »heu­te das Ver­trau­en in die Zukunft der Gesell­schaft grund­le­gend erschüt­tert« sei, wie er 1992 zu Pro­to­koll gab.14 Die Ver­ant­wor­tung für die­sen deso­la­ten Zustand woll­te er aller­dings nicht über­neh­men und ver­ab­schie­de­te sich ins seni­le Lamen­to einer ver­blass­ten Geschichte.

© Jörg Auberg 2022

Bibliografische Angaben:

Defi­ning the Age:
Dani­el Bell, His Time and Ours.
Her­aus­ge­ge­ben von Paul Starr und Juli­an E. Zelizer.
New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2022.
344 Sei­ten, 35 US-Dol­lar.
ISBN: 9780231203678.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Defi­ning the Age
© Colum­bia Uni­ver­si­ty Press
Foto New York — South Street
© Bere­nice Abbott/Chan­ging New York
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Nachweise

  1. Cf. Howard Brick, Dani­el Bell and the Decli­ne of Intellec­tu­al Radi­cal­ism: Social Theo­ry and Recon­ci­lia­ti­on in the 1940s (Madi­son: Uni­ver­si­ty of Wis­con­sin Press, 1986), S. ix.
  2. Micha­el T. Kauf­man, »Dani­el Bell, Ardent App­rai­ser of Poli­tics, Eco­no­mics and Cul­tu­re, Dies at 91«, New York Times, 26. Janu­ar 2011, https://www.nytimes.com/2011/01/26/arts/26bell.html.
  3. C. Wright Mills, »Let­ter to the New Left«, in: The Poli­tics of Truth: Sel­ec­ted Wri­tin­gs of C. Wright Mills, hg. John H. Sum­mers (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 2008), S. 256–257.
  4. Dani­el Bell, »Kul­tur­krie­ge: Intel­lek­tu­el­le in Ame­ri­ka, 1965–1990«, in: Intel­lek­tu­el­len­däm­me­rung? Bei­trä­ge zur neu­es­ten Zeit des Geis­tes, hg. Mar­tin Mey­er (Mün­chen: Han­ser, 1992), S. 125.
  5. Hel­mut Dubiel, Was ist Neo­kon­ser­va­tis­mus? (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1985), S. 31.
  6. Jür­gen Haber­mas, Die Neue Unüber­sicht­lich­keit (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1985), S. 35–39.
  7. Jean-Fran­çois Dro­let, Ame­ri­can Neo­con­ser­va­tism: The Poli­tics and Cul­tu­re of a Reac­tion­a­ry Idea­lism (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 2013).
  8. Howard Brick, Dani­el Bell and the Decli­ne of Intellec­tu­al Radi­cal­ism, S. 56.
  9. Defi­ning the Age: Dani­el Bell, His Time and Ours, hg. Paul Starr und Juli­an E. Zei­ler (New York: Colum­bia Uni­ver­si­ty Press, 2022), S. 39.
  10. Micha­el Kazin et al., »Remem­be­ring Dani­el Bell«, Dis­sent, 28. Janu­ar 2011, https://www.dissentmagazine.org/online_articles/remembering-daniel-bell; Defi­ning the Age: Dani­el Bell, His Time and Ours, S. 43, 55.
  11. Defi­ning the Age: Dani­el Bell, His Time and Ours, S. 99
  12. Dani­el Bell, Die kul­tu­rel­len Wider­sprü­che des Kapi­ta­lis­mus, übers. Inge Pres­ser (Frankfurt/Main: Cam­pus, 1991), S. 59–60, 168; Bell, »Kul­tur­krie­ge: Intel­lek­tu­el­le in Ame­ri­ka, 1965–1990«, S. 164.
  13. Dani­el Bell, Die nach­in­dus­tri­el­le Gesell­schaft, übers. Sieg­lin­de Sume­rer und Ger­da Kurz (Rein­bek: Rowohlt, 1979), S. 333; Bri­an Mor­ris, Visi­ons of Free­dom: Cri­ti­cal Wri­tin­gs on Eco­lo­gy and Anar­chism (Mon­tré­al: Black Rose Books, 2018), S. 98–106.
  14. Bell, »Kul­tur­krie­ge: Intel­lek­tu­el­le in Ame­ri­ka, 1965–1990«, S. 165.

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