Unversöhnliche Erinnerungen
Ernst Schoens Tagebuch einer Deutschlandreise 1947
von Jörg Auberg
In einer mit dem Titel »Staats-Räson« überschriebenen Notiz kurz nach seiner Rückkehr nach Westdeutschland in den späten 1940er Jahren umriss Max Horkheimer das »verstärkte Leiden« jener Menschen, »die schon zivilisiert waren und nun aufs neue durch die Mühle müssen«1 Diese Beschreibung traf auch auf den Komponisten, Schriftsteller und Rundfunkredakteur Ernst Schoen (1894–1960) zu, der in den 1920er Jahren in der Weimarer Republik zum Kreis von Avantgarde-Musikern im Umfeld von Arnold Schönberg und als Rundfunkpionier bei Radio Frankfurt agierte, ehe er 1933 nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und einer Inhaftierung in der Strafanstalt Fuhlsbüttel in Hamburg nach London ins Exil floh. Vierzehn Jahre später unternahm er im Auftrag der BBC eine Reise durch das von Faschismus, Krieg und Zerstörung gezeichnete Deutschland, über die er in einem Tagebuch oftmals verbittert seine Eindrücke und Reflexionen festhielt, die er im offiziellen »Germany Report« für seinen Auftraggeber aussparte.
Blick zurück in Bitternis
»In Schoens Tagebuch«, schreiben die Herausgeber*innen Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke in ihrer Einleitung, »tritt die Perspektive des Emigranten in den Vordergrund, des für kurze Zeit des Zurückgekehrten auf das besiegte, besetzte und vom Krieg zerstörte Land, aus dem er 14 Jahre zuvor vertrieben wurde. Sie ist geprägt von Melancholie und Bitternis über die verlorene Existenz.«2 In Schoens Schilderungen nimmt die Aversion gegen die deutschen spießerhaften und kleinbürgerlichen Opportunisten, die sich sowohl mit der nazistischen Herrschaft als auch mit den Satrapen der Besatzungsmächte arrangierten, breiten Raum ein. In überfüllten Zügen begegnen ihm »Menschengespenster«, die sich »in Elend und Bosheit durcheinander drängen«.3 Zugleich hat der Emigrant Schoen wenig Sympathie für das Personal der Besatzungsverwaltung, der CCG (Control Commission for Germany), die ihm beispielsweise als »wenig angenehme CCG-Weiber«4 begegnen.
Charakteristisch für Schoens Wahrnehmung der deutschen Verhältnisse ist eine Skizze, in der er seine Eindrücke bei der Ankunft am Düsseldorfer Rheinufer schildert:
In der Halle des hübschen, ganz eleganten Hauses gegenüber dem Rheinufer empfing mich der diensttuende Portier im dunkeln [sic] Zivilanzug, ein Riese über 7 Fuss gross, anschmeisserisch, aber insgeheim schmierig intim und verachtungsvoll zu dem diesen Leute natürlich nur zu gut bekannten Typ des ehemaligen Deutschen, den ich darstellte. Am Empfangstisch eine hübsche deutsche Hutsche [Kröte], gut englisch sprechend. Man fühlt sofort, wie überall, die passive Resistenz auf der Grundlage der natürlichen Faulheit des Parasiten.5 |
Auf seinen Stationen Düsseldorf, Frankfurt/Main, Berlin und Hamburg begegnet er auch außergewöhnlichen Intellektuellen in Gestalt von Verlegern, Rundfunkproduzenten und Kulturfunktionären wie Dolf Sternberger, Ernst Rowohlt, Eugen Claassen oder Klaus Gysi, doch primär sind ihm die Deutsche als »Masse« sadomasochistischer »Weichlingen« zuwider: »Die Deutschen sind offenbar gerade darum so tief gesunken«, analysiert er in seinem Tagebuch, »weil sie nie, wie ihr Minderwertigkeitskomplex sich selbst und anderen vormachen wollte, zu hart, sondern weil sie immer zu schleimig weich waren, immer Zuchtmeister brauchten, die alles mit ihnen machen durften, und auf die sie in widerlicher Verantwortungslosigkeit schimpfen durften und dürfen.« 6 In Schoens Wahrnehmung waren die deutschen Verhältnisse in der Wiederholung des Immergleichen, der Katastrophe, eingefroren, und Möglichkeiten, aus dem umschlossenen Kontinuum der Geschichte auszubrechen, schien es kaum zu geben. So erklärt sich auch Schoens Skepsis gegenüber die Verfahren der Entnazifizierung und Demokratisierung des öffentlich-rechtlichen Sektors im »postfaschistischen« Deutschland. In seinen Augen gab es »viele mickrige Zeitschriften« 7 wie Die Gegenwart, Frankfurter Hefte und Die Wandlung, die in ihrer vielstimmigen Belanglosigkeit de facto keinen demokratischen Prozess beeinflussten. »Diese Inflation der Zeitschriften«, schrieb er in seinem »Germany Report«, »erklärt sich meiner Meinung nach zum einen aus dem gegenwärtig vorherrschenden Bedürfnis der Deutschen nach intellektueller Orioentierung, zum anderen aus dem Mangel an Büchern.« 8
Rundfunk und Avantgarde
Schoens Blick auf Deutschland und die Möglichkeiten einer demokratischen Entwicklung speiste sich aus der persönlichen Biografie und den historischen Erfahrungen, die hinter ihm lagen. In Axel Schildts Terminologie war er ein »Medienintellektueller« und doch mehr: ein Künstler, ein Netzwerker, ein Avantgardist. »Der Rundfunk war Ernst Schoens Medium«, konstatieren die Herausgeber*innen Schiller-Lerg und Stenke in ihrem akribisch rechercherierten und glänzend geschriebenen Nachwort. »Er verstand sofort, dass sich durch dessen Technik eine enorme Umwälzung in kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Bereichen ankündigte. Ernst Schoen war der richtige Mann am richtigen Platz.«9 Obwohl Schoen als Vetreter der Avantgarde Berlin als seinen Lebensmittelpunkt betrachtete, begründete er – etwas widerwillig – in Frankfurt am Main das Renommee, eine Heimstatt der »Avantgardisten des Rundfunks« geschaffen zu haben – unter anderem für seinen langjährigen Freund Walter Benjamin, dessen akademische Laufbahn sich (auf Grund seiner jüdischen Herkunft) zerschlagen hatte und der stattdessen im Medienbereich als freier Mitarbeiter Fuß zu fassen suchte. In einem »Gespräch mit Ernst Schoen« (publiziert in der Zeitschrift Literarische Welt im August 1929) dokumentierte Benjamin den hohen Anspruch Schoens in der »Radiowelt«: »Das Radio ist an einem bestimmten, verhältnismäßig willkürlichen Punkte seiner Entwicklung aus der Stille des Laboratoriums herausgerissen und zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht worden. Seine Entwicklung ging vorher langsam, sie geht jetzt nicht schneller. Würde ein Teil der Energien, die einem oft allzu intensiven Sendebetrieb dienen, auch heute den Versuchsarbeiten zugewandt, so würde der Rundfunk dadurch gefördert werden.«10
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde ihm seine progressive Rundfunkarbeit und seine Zusammenarbeit mit Walter Benjamin und Bertolt Brecht zum Verhängnis.11 In der nationalsozialistischen Usurpation des Mediums wurde das Radio umgestülpt »zum universalen Maul des Führers« und zum »Geheul der Panik« (wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung konstatierten).12 Auch nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands schien Schoen »das Medium Rundfunk kontaminiert«13. Die Erwartung des Kommenden war dunkel: »Ich glaube nicht an die Zukunft der Kunst«, schrieb Schoen 1946, »wohl aber an die Zukunft des Dilettantismus.« 14 Eine Befreiung fand nicht statt – wie in John Hawkes Roman Der Kannibale (1949) blieb Deutschland ein von Dämonen, Irrsinn und Gewalt heimgesuchtes Land: »Auf der Kuppe des Hügels sah er lange Reihen in die vom Patriotismus bereits wiederbelebte Anstalt zurückmarschieren«, heißt es am Ende von Hawkes Roman. »Sie gingen den Hang hinunter und kamen, ohne etwas zu merken, an dem Aas in der Lache zertrampelter Disteln vorbei.«15
Nachleben eines Emigranten
Trotz aller Vorbehalte gegenüber Deutschland und den Deutschen kehrte Schoen 1951 nach Deutschland zurück, da in England seine Lebensgrundlage als Emigrant zusammengebrochen war. »Mit der Entlassung aus der BBC«, schreiben Schiller-Lerg und Stenke, »weil die Deutsche Abteilung des Auslandsdienstes verkleinert wurde, war die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, trotz aller Schwierigkeiten gefallen.«16 In einem bitteren Sinn blieb er der »Typ des ehemaligen Deutschen« (wie er in seinem Tagebuch sich selbst bezeichnete), ein »Spätheimkehrer«, dem es nicht gelang im vom Kalten Krieg zerrissenen Deutschland Fuß zu fassen, zumal er sich politisch in einer Grauzone bewegte. Er verortete sich links mit Sympathien für den demokratischen Sozialismus, ohne blind für die fatale Praxis des autoritären Staates auf Grundlage eines betonierten Marxismus-Leninismus zu sein. Wie der »Remigrant« Peter Lorre war Schoen in der deutschen Landschaft ein »Verlorener«, der nach Vertreibung und Flucht existenziell seine Welt und auch sich selbst verlor.17 Trotz der Fürsprache von prominenten Intellektuellen in Ost und West wie Bertolt Brecht und Theodor W. Adorno vermochte er nicht mehr Fuß zu fassen. »Brecht versprach«, notierte er 1952 in seinem Tagebuch, »Suhrkamp für mich zu zu interessieren. […] Darauf verschwand er in der Versenkung und ich auf der Straße.«18
1952 erhielt Schoen als »Wiedergutmachungsleistung« durch den Hessischen Rundfunk 15.000 D‑Mark, und ein Jahr später wurde er zum Archivleiter des Deutschen Theaters in Berlin ernannt. Die Position verlor er jedoch 1957, und in Folge der Lebensumstände seit 1933 erkrankte er an Herzinsuffizienz. Nach einer Herzoperation in einem Westberliner Krankenhaus starb er am 10. Dezember 1960. Acht Jahre zuvor hatte er in seinem Tagebuch geschrieben: »Ich komme zu der Meinung, daß zu viele Deutsche auf beiden Seiten schlechte Kerle sind, die menschliche Elite so herzlich als wolle sie die Sünden ihres Volkes wieder gutmachen.«19
Im Jahre 2023 feiert der kommerzialisierte öffentlich-rechtliche Rundfunk mit großem Getöse »100 Jahre Radio«, während die alltägliche Praxis von Playlists, Musik-Streamlining, Beliebigkeit und Konformismus bestimmt wird. »Was das Radio betraf«, schreiben Schiller-Lerg und Stenke in ihrem Nachwort, »so kam Schoen zu dem Schluss, dass er schon während der Weimarer Republik ästhetische Maßstäbe gesetzt hatte, die weiterhin Gültigkeit beanspruchen konnten.«20 Im öffentlich-rechtlichen Anstaltsbetrieb, den Heinrich Böll in seiner immer noch zeitgemäßen Satire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1955) karikierte, haben Schoens ästhetische Maßstäbe jedoch keinen Raum: Es herrscht – wie Schoen kritisierte – ein opportunistischer Dilettantismus vor.
© Jörg Auberg 2023
Bibliografische Angaben:
Ernst Schoen.
Tagebuch einer Deutschlandreise 1947.
Aufzeichnungen eines Emigranten.
Herausgegeben von Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke.
Wagenbachs Taschenbuch 858.
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2023.
176 Seiten, 13 Euro.
ISBN: 978–3‑8031–2858‑4.
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Tagebuch einer Deutschlandreise 1947 |
© Wagenbach |
Cover Die Wandlung |
© Buchhandlung R² (Antiquariat via Booklooker.de) |
Porträt Ernst Schoen |
© Privatarchiv Schoen / Schiller-Lerg |
Cover Der Kannibale | © Verlag Peter Selinka |
Illustration Walter Benjamin: Radio Days | © The Nation/ Joe Ciardiello |
Nachweise
- Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 6, hg. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Fischer, 1991), S. 206 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, Einleitung zu: Ernst Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947: Aufzeichnungen eines Emigranten (Berlin: Wagenbach, 2023), S. 9 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 42 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 21 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 22 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 25 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 95 ↩
- Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 94 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, in: Schoen, Tagebuch einer Deutschlandreise 1947, S. 125 ↩
- Walter Benjamin, »Gespräch mit Ernst Schoen«, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV, hg. Tillman Rexroth (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 550–551 ↩
- Howard Eiland und Michael W. Jennings, Walter Benjamin: A Critical Life (Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 2014), S. 330–332 ↩
- Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, hg. Gunzelin Schmid-Noerr (Frankfurt/Main: Fischer, 1987), S. 187 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 147 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 148 ↩
- John Hawkes, Der Kannibale, übers. Werner Schmitz (Ravensburg: Verlag Peter Selinka, 1989), S. 229–230; siehe auch Monica Black, Deutsche Dämonen: Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland (Stuttgart: Klett-Cotta, 2021) ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 148 ↩
- Cf. Florian Grosser, Nachwort zu: Günter Anders, Der Emigrant (München: C. H. Beck, 2021), S. 75 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 152 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 164 ↩
- Sabine Schiller-Lerg und Wolfgang Stenke, »Die vier Leben des Ernst Schoen«, S. 164 ↩