Texte und Zeichen

Richard Brautigan: Forellenfischen in Amerika

R
Trouvailles (I)

Vom Spiel mit dem Buch als Buch

Nachbetrachtungen zu Richard Brautigans Roman »Forellenfischen in Amerika«

von Jörg Auberg

Kürz­lich erstand ich in dem exqui­sit bestück­ten Ver­sand­an­ti­qua­ri­at Abend­stun­de, das von Wolf­gang Schä­fer in Lud­wigs­ha­fen betrie­ben wird, ein Exem­plar von Richard Brau­tig­ans Roman Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, der 1971 in der Über­set­zung von Céli­ne und Hei­ner Bas­ti­an bei Han­ser erschien. Gestal­tet wur­de der Band von dem legen­dä­ren Gra­fik­de­si­gner Heinz Edel­mann, der als Art Direc­tor für den Beat­les-Film Yel­low Sub­ma­ri­ne (1968) fun­gier­te und für die ZDF-Spiel­film­rei­he Der phan­tas­ti­sche Film den Vor­spann kreierte.

In dem Stan­dard­werk Wer­ke der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur von 1890 bis zur Gegen­wart cha­rak­te­ri­sie­ren Wolf­gang Kar­rer und Eber­hard Kreut­zer Brau­tig­ans Text als Unter­mi­nie­rung der Unter­schei­dung zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, wobei die schein­ba­re Idyl­le des Angelns mit den gegen­wär­ti­gen Erschei­nun­gen der Indus­tria­li­sie­rung und Kom­mer­zia­li­sie­rung kon­tras­tiert wird. In ihrer knap­pen Ein­ord­nung beschrei­ben sie Brau­tig­ans Roman als »Erzähl­mi­nia­tu­ren mit per­ma­nen­ter Leser-Irri­ta­ti­on (Ver­schie­bung, Ver­keh­rung, Ver­rät­se­lung)«, in denen sich die »Ten­denz zu skur­ri­len Ara­bes­ken, sur­rea­lis­ti­schen Bil­dern, gro­tes­ker Über­trei­bung, Geschich­ten ohne Poin­te, par­odis­ti­schen Effek­ten« arti­ku­lie­re. Es sei, dia­gnos­ti­zie­ren K&K, ein »Spiel mit dem Buch als Buch (ein­schließ­lich Umschlag und Typo­gra­phie)«.1

POMO is a Four-Letter Word

Richard Brautigan: Trout Fishing in America (Mariner Books, 2010)
Richard Brau­tig­an: Trout Fishing in Ame­ri­ca (Mari­ner Books, 2010)

Wie Bil­ly Coll­ins in einem Vor­wort zu einer spä­te­ren ame­ri­ka­ni­schen Aus­ga­be schreibt2, war der selt­sa­me, iro­ni­sche Selbst­be­zug des Buches augen­fäl­lig und gab Brau­tig­ans Roman wenn nicht ein Allein­stel­lungs­merk­mal, so doch ein kri­ti­sches selbst­re­fle­xi­ves Moment, das spä­ter im Post­mo­der­nis­mus (vul­go Pomo) häu­fig zum selbst­ge­nüg­sa­men Kli­schee der geis­ti­gen wie poli­ti­schen Lee­re, Belie­big­keit oder Ober­fläch­lich­keit, zum Inge­ni­um des post-1968er Zeit­geis­tes der neo­kon­ser­va­ti­ven Rea­gan-Ära wur­de.3 Obwohl Brau­tig­an in den spä­ten 1960er Jah­ren zum Best­sel­ler-Autor avan­cier­te, erklomm er – im Gegen­satz zu Tho­mas Pyn­chon, Robert Coo­ver oder Donald Bart­hel­me – als Autor kaum den kri­ti­schen Olymp der zeit­ge­nös­si­schen Kritik.

Richard Brautigan - Confederate General
Richard Brau­tig­an: A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur (Canon­ga­te, 2014)

In Stan­dard­wer­ken über den 1968er Zeit­geist wie in Mor­ris Dick­steins Gates of Eden: Ame­ri­can Cul­tu­re in the Six­ties (1977) oder Todd Git­lins The Six­ties: Years of Hope, Days of Rage (1987) kam er nicht vor, wäh­rend er von den Hütern des kri­ti­schen Moder­nis­mus als Nach­züg­ler der Beat­nik-Lite­ra­tur ver­ach­tet wur­de. In einer Kri­tik von Brau­tig­ans Erst­lings­werk A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur (1965) warf ihm Phil­ip Rahv, der Doy­en der ame­ri­ka­ni­schen mar­xis­ti­schen Lite­ra­tur­kri­tik, in der New York Review of Books vor, dass er anstatt einer Geschich­te nur eine Serie von impro­vi­sier­ten Sze­nen in der Manier Jack Kerou­acs pro­du­zie­re. Das Buch sei »Pop-Schrei­be­rei in ihrer schlimms­ten Art«, monier­te Rahv, der die Bezü­ge von Brau­tig­ans kali­for­ni­schen Prot­ago­nis­ten zu den Kon­fö­de­rier­ten des ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­kriegs nur als selt­sa­mes Geheim­nis des Autors abtat.4 Nach dem Abflau­en des gegen­kul­tu­rel­len Zeit­geis­tes und der Inkor­po­ra­ti­on ehe­mals wider­stän­di­ger Pro­duk­te in den Main­stream-Kor­pus nahm sich die New York Review of Books der »Pop-Schrei­be­rei« Brau­tig­ans noch ein­mal an. »Das Brau­tig­an-Phä­no­men, Kali­for­ni­en gefil­tert durch Brau­tig­an, ent­wi­ckelt sich seit eini­gen Jah­ren in Pro­sa und Ver­sen wei­ter«, hieß es in einem Arti­kel mit dem Titel »Brau­tig­an Was Here« im Jah­re 1971. »Wie weit ist es gekom­men und wohin geht es? Wie die Anhal­ter, die neben der Rou­te 1 ste­hen und gleich­zei­tig in bei­de Rich­tun­gen fah­ren, han­delt es sich um ein cha­rak­te­ris­ti­sches Phä­no­men, das schwer ein­zu­schät­zen ist.«5 Im Gegen­satz dazu nahm Tony Tan­ner in City of Words (1971), sei­nem bahn­bre­chen­den Buch über die US-ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur von den 1950er bis zu den spä­ten 1960er Jah­ren, Brau­tig­an als Kul­tur­kri­ti­ker wahr: Obwohl er vor­der­grün­dig »extrem lus­tig« sei, herr­sche in sei­nen Tex­ten ein durch­drin­gen­der Strom von Ver­lust, Ver­wüs­tung und Tod, eine »kali­for­ni­sche Trau­rig­keit« jen­seits der jovia­len Ober­flä­che vor.6

Wie Mal­com Brad­bu­ry in sei­ner Geschich­te des moder­nen ame­ri­ka­ni­schen Romans schrieb, hat­te Brau­tig­an das Stig­ma, der »John Len­non des Hip­pie-Romans« zu sein, obgleich er sich auf die­se Klas­si­fi­ka­ti­on nicht redu­zie­ren ließ.7. In der kri­ti­schen Tra­di­ti­on von C. Wright Mills kämpf­te er mit lite­ra­ri­schen Mit­teln gegen den »mili­tä­risch-indus­tri­el­len Kom­plex«, woll­te im Zeit­al­ter der Hoch­tech­no­lo­gie und der über­bor­de­nen mili­tä­ri­schen Macht eine »pas­to­ra­le ame­ri­ka­ni­sche Unschuld« zurück­ge­win­nen8 – ein Unter­fan­gen, das einem mehr­fach gewen­de­ten leni­nis­tisch-trotz­kis­ti­schen Par­ti­san im Kal­ten Krieg wie Phil­ip Rahv, der aus Russ­land über Paläs­ti­na in die USA emi­griert war, nicht nur unver­ständ­lich erschien, son­dern über­aus suspekt vor­kom­men muss­te.9 Weit­aus kla­rer arbei­te­te Leo Marx die Kri­tik am tech­no­lo­gie­fi­xier­ten ame­ri­ka­ni­schen Kapi­ta­lis­mus in sei­ner Stu­die The Machi­ne in the Gar­den (1964) her­aus, in der er die öko­lo­gi­sche Gesell­schafts­kri­tik der »Neu­en Lin­ken« der 1960er Jah­re anti­zi­pier­te und den Bogen vom anar­chis­ti­schen Außen­sei­ter Hen­ry David Tho­reau zum Akti­vis­ten der Bür­ger­rechts­be­we­gung Mario Savio spann­te. Leo Marx’ Kri­tik der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung ging ein­her mit den kri­ti­schen Ein­las­sun­gen von Lewis Mum­ford und Mur­ray Book­chin, die ein neu­es öko­lo­gi­sches Bewusst­sein nicht nur im Umgang mit natür­li­chen Res­sour­cen, son­dern auch mit mensch­li­chen Herr­schafts­for­men jen­seits von Domi­nanz und Unter­wer­fung in den öko­no­mi­schen Pro­zes­sen in Fabri­ken, Uni­ver­si­tä­ten und Fami­li­en the­ma­ti­sier­ten.10

War Kafka Apache?

Apa­che Kafka

In einem Essay über die Hoff­nung und Ent­täu­schung, die das Kon­strukt »Ame­ri­ka« dar­stellt, zitier­te Marx aus einem Gedicht Her­man Mel­vil­les aus dem Jah­re 1860, in dem er über die »Übel mei­nes Lan­des« reflek­tier­te, wo »die schöns­te Hoff­nung der Welt« mit dem schlimms­ten Ver­bre­chen der Mensch­heit ver­bun­den sei.11 Ähn­lich äußer­te sich in Brau­tig­ans Buch Trout Fishing in Ame­ri­ca ein Jahr­hun­dert spä­ter die Span­nung zwi­schen Uto­pie und Ent­täu­schung: Es begann mit typo­gra­fi­schen Spie­le­rei­en, unmit­tel­bar gefolgt von einer Refle­xi­on über das »Cover« des Buches – bei­de Momen­te gehen in der deut­schen Aus­ga­be ver­lo­ren. Der Umschlag eines Buches erfasst nicht »The Cover for Trout Fishing in Ame­ri­ca« in Gän­ze, bei dem die apo­ka­lyp­ti­schen Unter­tö­ne aus dem ver­gan­ge­nen Jahr­zehnt der abso­lu­ten tech­no­lo­gi­schen Mach­bar­keit im Über­le­ben der von Poli­tik und Tech­no­lo­gie ver­strahl­ten Indi­vi­du­en in »Duck and Cover«-Übungen im Kal­ten Krieg mit­schwan­gen. Im Som­mer 1945 bomb­ten sich – wie Dwight Mac­do­nald in sei­ner anar­cho­pa­zi­fis­ti­schen Zeit­schrift Poli­tics schrieb – die »Ver­tei­di­ger der Zivi­li­sa­ti­on« auf das mora­li­sche Niveau der »Bes­ti­en von Mai­danek«, wobei die Wis­sen­schaft­ler des mili­tä­ri­schen Pro­jekts sich als Spe­zia­lis­ten und Tech­ni­ker begrif­fen, die sich ihrer indi­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung ent­schlu­gen.12 Wie der däni­sche Atom­wis­sen­schaft­ler Niels Bohr sei­nen US-ame­ri­ka­ni­schen Kol­le­gen ins Stamm­buch schrieb, muss­te das gan­ze Land in eine Fabrik für die Anrei­che­rung von Plu­to­ni­um und Was­ser­stoff­ent­wick­lung ver­wan­delt wer­den. Das Land in der Nähe von Los Ala­mos, wo die Wis­sen­schaft­ler im Auf­trag der US-ame­ri­ka­ni­schen Regie­rung die Bom­be ent­wi­ckel­ten, wur­de zum nuklea­ren Test­ge­biet und die ansäs­si­gen »Nati­ve Ame­ri­cans« zu Test­per­so­nen der ato­ma­ren Kon­ta­mi­nie­rung im Lau­fe von mehr als hun­dert Deno­ta­tio­nen.13

In Brau­tig­ans Anfangs­ka­pi­tel erscheint Kaf­ka in der ame­ri­ka­ni­schen Landschaft:

War es Kaf­ka, der durch das Lesen der Auto­bio­gra­fie Ben­ja­min Fran­k­lins Ame­ri­ka ken­nen­lern­te … Kaf­ka, der sag­te, »ich mag die Ame­ri­ka­ner, weil sie gesund und opti­mis­tisch sind«.14

Mög­li­cher­wei­se war Kaf­ka in sei­nem »roman­ti­schen Anti­ka­pi­ta­lis­mus« (wie Cos­tas Despi­nia­dis schreibt) eher den »Nati­ve Ame­ri­cans« zuge­tan, wie nicht nur in dem kur­zen Text »Wunsch, India­ner zu wer­den« zum Aus­druck kam.15 In Arthur Holit­schers Repor­ta­ge Ame­ri­ka heu­te und mor­gen (die Kaf­ka zu sei­nem Ame­ri­ka-Roman inspi­rier­te) heißt es zum Stich­wort »India­ner«:

Nicht gera­de dar­um, weil die India­ner ein so schwer zivi­li­sier­ba­res Natur­volk sind, stel­len sie ein solch sym­pa­thi­sches Wun­der im neu­en Welt­teil vor. Son­dern dar­um, weil alles rings um die­ses stol­ze, beraub­te und miß­han­del­te Volk her­um sich der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on erfreut und der India­ner es vor­zieht, in sei­nen Ber­gen und Gebü­schen elend zugrun­de zu gehen. Dar­um hat der India­ner auf irgend­ei­ne Wei­se sich die Lie­be der Men­schen erwor­ben, die die Erde lie­ben, die aber die Zivi­li­sa­ti­on eini­ger­ma­ßen krank gemacht hat.16
ChatGPT on Kafka

Zu den bit­te­ren Iro­nien der kapi­ta­lis­ti­schen Geschich­te gehört, dass Kaf­ka von den Adep­ten des digi­ta­len Kapi­ta­lis­mus für die Ver­mark­tung ihrer Pro­duk­te in Dienst genom­men wird, wie etwa bei der vor­geb­lich »frei­en Soft­ware« Apa­che Kaf­ka, die als »ver­teil­tes Mes­sa­ging-Sys­tem« für den Kom­plex Big Data Daten­strö­me spei­chert und ver­ar­bei­tet. Auf die Fra­ge, wor­in die Bezie­hung zwi­schen »Kaf­ka the wri­ter« und »Apa­che Kaf­ka« bestehe, weiß das künst­li­che Super­hirn ChatGPT zu berich­ten, dass kei­ne Bezie­hung bestehe. Das »ver­teil­te Mes­sa­ging-Sys­tem« habe sich nach dem Autor zu Ehren sei­nes Wer­kes benannt, das oft von »The­men der Ent­frem­dung und Büro­kra­ti­sie­rung« han­de­le. Mit den Wor­ten der Situa­tio­nis­ten: »Eine Geis­tes­krank­heit hat unse­re Welt befal­len: die Herr­schaft der Bana­li­tät.«17 Alles wird in die »Daten­ver­ar­bei­tung« inte­griert, und der Autor, der gegen das auto­ri­tä­re Sys­tem anschrieb, wird zum Namens­ge­ber eines tech­no­lo­gi­schen Sys­tems, in dem jede Regung gespei­chert und ver­ar­bei­tet wird, gewis­ser­ma­ßen als frei flu­ten­de Auto­ma­ti­on eines »kaf­ka­es­ken Pro­zes­ses«. Im Zeit­al­ter der omni­prä­sen­ten Daten ist die Gesell­schaft inte­gral, beob­ach­te­te Theo­dor W. Ador­no bereits in den spä­ten 1940er Jah­ren, »schon ehe sie tota­li­tär regiert wird«. »Noch Kaf­ka wird zum Inven­tar­stück des unter­ge­mie­te­ten Ate­liers.«18 Die intel­lek­tu­el­le Arm­se­lig­keit brei­tet sich ihre Bah­nen durch die magi­schen Kanä­le des Immer­glei­chen, die im News­peak des tech­no­lo­gi­schen Digi­tal-Mar­ke­tings als Gegen­welt der »frei­en Inhal­te«, der »frei­en Platt­for­men« und der »frei­en Pro­gram­me« allen­falls als Bei­trä­ge zur Geis­tes­ge­schich­te in einer unter­ge­gan­ge­nen Welt fir­mie­ren können.

Schreiben und Fischen

Hemingway on Fishing
Heming­way on Fishing (Scrib­ner Clas­sics, 2012)

Kafka habe, schrieb Ador­no, »die tota­le Robin­so­na­de geschrie­ben, die in einer Pha­se, in der jeder Mensch sein eige­ner Robin­son wur­de und auf einem mit zusam­men­ge­raff­tem Zeug bela­de­nen Floß ohen Steu­er umher­treibt«19 Auch Brau­tig­ans Wer­ke sind »Robin­so­na­den« in einer ein­fa­chen und kla­ren Spra­che, die ihre Vor­bil­der in Sher­wood Ander­son und Ernest Heming­way hat­te. Zuwei­len wur­de Brau­tig­an als der »Heming­way der Sech­zi­ger«20 titu­liert, und der Titel Trout Fishing in Ame­ri­ca spiel­te auf Heming­ways kur­zen Arti­kel »Trout Fishing in Euro­pe« an, der 1923 in der Zei­tung Toron­to Star Weekly erschien, sowie auf die vie­len Pas­sa­gen über das Forel­len­fi­schen in Heming­ways Werk, den Kampf um das Schrei­ben und Fischen in der Vor­stel­lung von Mas­ku­li­ni­tät, der letzt­lich um die Fra­ge von Gelin­gen und Schei­tern der männ­li­chen Exis­tenz in der Aus­ei­an­der­set­zung mit der Natur kreis­te.21 Schon seit frü­hen Jah­ren prä­sen­tier­te sich Heming­way gern als erfolg­rei­cher Kämp­fer mit sei­ner Beu­te – im Fal­le des Fisch­fangs reich­te sie von der Forel­le bis zum Schwert­fisch – und demons­trier­te in die­ser Pose die Unter­wer­fung der Natur durch einen wil­lens­star­ken Mann.

Bei Brau­tig­an geht es auch um das Erkun­den von Fang­grün­den, doch oft steht »das Buch« im Vor­der­grund, das in ver­viel­fäl­tig­ter Form wie ein unüber­schau­ba­res Kon­vo­lut von anti­quier­ten, ver­mo­dern­den Beu­te­stü­cken zur Schau gestellt wird, obwohl der geis­ti­ge Nutz- und Nähr­wert in Zei­ten des Ver­ges­sens, des Zer­falls und der Demenz nicht ein­mal nach­weis­bar ist. In einer mit »Sea, Sea Rider« beti­tel­ten Vignet­te beschreibt Brau­tig­an einen Buch­händ­ler, der Geor­ge Orwell und Edmund Wil­son moch­te und im Alter von sech­zehn Jah­ren zuerst durch Dos­to­jew­ski und spä­ter die Huren von New Orleans sei­ne Lebens­er­fah­rung sammelte.

Der Buch­la­den war ein Park­platz für alte Fried­hö­fe, Tau­sen­de alter Fried­hö­fe stan­den hier in Rei­hen geparkt wie Autos. Die meis­ten Schwar­ten waren ver­grif­fe­ne Aus­ga­ben, und nie­mand woll­te sie mehr lesen, und die Leu­te, die die Bücher gele­sen hat­ten, waren ver­stor­ben oder hat­ten sie ver­ges­sen, aber durch den orga­ni­schen Pro­zeß der Musik waren die Bücher wie­der Jung­frau­enm gewor­den. Sie tru­gen ihre alter­tüm­li­chen Copy­rights wie neue Jung­fern­häu­te.22

In dem spä­te­ren Roman The Abor­ti­on (1971) arbei­tet der Prot­ago­nist in einer Biblio­thek für unpu­bli­zier­ba­re Bücher in San Fran­cis­co, in der »Ver­lie­rer des Lebens« ihre Manu­skrip­te depo­nie­ren kön­nen. Dort wer­den sie in Emp­fang genom­men, regis­triert und ein­sor­tiert. Die Trans­for­ma­ti­on zu Büchern wer­den sie nicht erle­ben, Leser*innen wer­den sie nicht fin­den, aber sie wer­den – von wem auch immer – geschätzt.

Out of the Past

Richard Brautigan: Publicity Photo für die Erstausgabe von The Hawkline Monster
Richard Brau­tig­an: Publi­ci­ty-Pho­to für die Erst­aus­ga­be von The Haw­k­li­ne Mons­ter (1974)

Wie Kath­ryn Hume beob­ach­te­te, erlosch Brau­tig­ans lite­ra­ri­sche Bedeu­tung nach dem Ende der gegen­kul­tu­rel­len Eupho­rie in der kri­ti­schen Ver­ges­sen­heit.23 Sei­ne kate­go­ria­le Ver­knüp­fung mit der kali­for­ni­schen Beat­nik- und Flower-Power-Bewe­gung wur­de ihm – ohne dass er es ver­hin­dern konn­te – zum Ver­häng­nis. Er war weni­ger das lite­ra­ri­sche Sprach­rohr der Hip­pie-Gene­ra­ti­on, denn ein radi­ka­ler Expe­ri­men­ta­tor, der die kri­ti­sche US-ame­ri­ka­ni­sche Tra­di­ti­on mit der Infra­ge­stel­lung popu­lä­rer Mytho­lo­gien in Form des Wes­tern und des Kri­mi­nal­ro­mans ver­band – ähn­lich wie bei Robert Coo­ver oder Paul Aus­ter, die enger in die post­mo­der­ne Infra­struk­tur seit den 1980er Jah­ren ein­ge­bun­den waren als das schein­ba­re Relikt der 1960er Jah­re. Im Lau­fe der Zeit schien er aus der Welt zu fal­len und die Kon­trol­le über sein Leben zu ver­lie­ren: Oft war er »betrun­ken, mür­risch und gehetzt«, wie Keith Abbott in sei­nen Erin­ne­run­gen an Brau­tig­an schrieb.24 Auf einer Deutsch­land-Tour­nee bemerk­te sein deut­scher Über­set­zer Gün­ter Ohne­mus, dass er außer Kon­trol­le war, Lesungs­ter­mi­ne nicht ein­hielt oder Ver­an­stal­tun­gen tor­pe­dier­te und Mög­lich­kei­ten, in Euro­pa mit sei­ner Lite­ra­tur ein beschei­de­nes Aus­kom­men zu fin­den, in den Wind schlug.

Im mythi­schen Jahr 1984 fand man den 49-jäh­ri­gen Autor tot neben einer Alko­hol­fla­sche und einer Waf­fe vom Kali­ber .44. In einem spä­te­ren Nach­ruf schrieb der Schrift­stel­ler Her­mann Peter Piwitt:

Als vor eini­gen Mona­ten der Tod Richard Brau­tig­ans gemel­det wur­de, war mir, als hät­te mir Augen­tha­ler ins Knie getre­ten. Brau­tig­an schrieb die zärt­lichs­ten, ver­rück­tes­ten, kunst­volls­ten und zugleich schlich­tes­ten Geschich­ten, die mir unter­ge­kom­men sind, seit ich vor 12 Jah­ren ›In Was­ser­me­lo­nen Zucker‹ las. Wovon sie han­deln? Es sind alle­samt Epi­pha­ni­en des All­tags, eine betö­ren­der als die ande­re, vol­ler unschein­ba­rer uner­hör­ter Bege­ben­hei­ten — und viel zu scha­de, um vor­her etwas aus­zu­plau­dern.25

 

Oder um es anders auszudrücken: 
»I hope that Richard Brau­tig­an will for­gi­ve me for wri­ting this sto­ry.«26

© Jörg Auberg 2023

Bibliografische Angaben:

Richard Brau­tig­an.
Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka.
Über­setzt von Céli­ne und Hei­ner Bastian.
Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag, 1971.
136 Seiten.
ISBN: 3–446-11496–3.

Weitere Werke:

Richard Brau­tig­an.
A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur (1964).
Ein­lei­tung von Black Francis.
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014.
142 Sei­ten, £ 8,99.
ISBN: 978–1‑78211–379‑9.

Richard Brau­tig­an.
Trout Fishing in Ame­ri­ca (1967).
Ein­lei­tung von Bil­ly Collins.
Bos­ton: Mari­ner Books, 2010.
112 Sei­ten, US-$ 13,95.
ISBN: 978–0‑547–25527‑9.

Richard Brau­tig­an.
In Water­me­lon Sugar (1968).
Lon­don: Vin­ta­ge Books, 2015.
141 Sei­ten, £ 8,99.
ISBN: 978–0‑099–43759‑8.

Richard Brau­tig­an.
The Abor­ti­on: A His­to­ri­cal Romance 1966 (1971).
Lon­don: Vin­ta­ge Books, 2002.
171 Sei­ten, £ 12,99.
ISBN: 978–0‑099–43758‑1.

Richard Brau­tig­an.
Reven­ge of the Lawn: Sto­ries 1962–1970 (1972).
Ein­lei­tung von Sarah Hall.
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014.
146 Sei­ten, £ 8,99.
ISBN: 978–1‑78211–378‑2.

Richard Brau­tig­an.
The Haw­k­li­ne Mons­ter: A Gothic Wes­tern (1974).
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017.
172 Sei­ten, £ 9,99.
ISBN: 978–1‑78689–042‑9.

Richard Brau­tig­an.
Som­bre­ro Fall­out: A Japa­ne­se Novel (1976).
Ein­lei­tung von Jar­vis Cocker.
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014.
177 Sei­ten, £ 9,99.
ISBN: 978–0‑85786–264‑8.

Richard Brau­tig­an.
Dre­a­ming of Baby­lon: A Pri­va­te Eye Novel 1942 (1977).
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017.
185 Sei­ten, £ 8,99.
ISBN: 978–1‑78689–044‑3.

Richard Brau­tig­an.
So the Wind Won’t Blow It All Away (1982).
Ein­lei­tung von Jef­frey Lent.
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2017.
104 Sei­ten, £ 9,99.
ISBN: 978–1‑78689–046‑7.

Richard Brau­tig­an.
A Unfort­u­na­te Woman: A Jour­ney (2000).
Ein­lei­tung von Jef­frey Lent.
Edin­burgh: Canon­ga­te, 2001.
110 Sei­ten, £ 9,99.
ISBN: 978–1‑84195–146‑1.

Bild­quel­len (Copy­rights)
Cover Forel­len­fi­schen in Amerika
© Carl Han­ser Verlag/Heinz Edelmann
Cover Trout Fishing in America
© Mari­ner Books
Cover A Con­fe­de­ra­te Gene­ral from Big Sur
© Canon­ga­te
Cover Heming­way on Fishing © Scrib­ner Classics
Publi­ci­ty-Foto von Richard Brautigan © John Frey­er (www.brautigan.net)

Nachweise

  1. Wolf­gang Kar­rer und Eber­hard Kreut­zer, Wer­ke der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur von 1890 bis zur Gegen­wart, 4. erwei­ter­te Auf­la­ge (Mün­chen: dtv, 1989), S. 305
  2. Bil­ly Coll­ins, »Intro­duc­tion«, in: Richard Brau­tig­an, Trout Fishing in Ame­ri­ca (New York: Mari­ner Books, 2010), S. xi
  3. Todd Git­lin, »Post­mo­der­nism: Roots and Poli­tics«, Dis­sent, Win­ter 1989, S. 100–108
  4. Phil­ip Rahv, »New Ame­ri­can Fic­tion«, New York Review of Books, 8. April 1965, https://www.nybooks.com/articles/1965/04/08/new-american-fiction/
  5. Robert M. Adams, »Brau­tig­an Was Here«, New York Review of Books, 22. April 1971, https://www.nybooks.com/articles/1971/04/22/brautigan-was-here/
  6. Tony Tan­ner, City of Words: A Stu­dy of Ame­ri­can Fic­tion in the Mid-Twen­tieth Cen­tu­ry (Lon­don: Jona­than Cape, 1971), S. 406
  7. Mal­colm Brad­bu­ry, The Modern Ame­ri­can Novel (New York: Pen­gu­in Books, 1983, rev. 1994), S. 217
  8. Brad­bu­ry, The Modern Ame­ri­can Novel, S. 217–218
  9. Zum Hin­ter­grund sie­he Jef­frey Mey­ers, »The Trans­for­ma­ti­ons of Phil­ip Rahv«, Sal­magun­di, Nr. 202–203 (Früh­jahr-Som­mer 2019), S. 179–209; und Jörg Auberg, New Yor­ker Intel­lek­tu­el­le: Eine poli­tisch-kul­tu­rel­le Geschich­te von Auf­stieg und Nie­der­gang, 1930–2020 (Bie­le­feld: Tran­script-Ver­lag, 2022), S. 267–276
  10. Leo Marx, The Machi­ne in the Gar­den: Tech­no­lo­gy and the Pas­to­ral Ide­al in Ame­ri­ca (New York: Oxford Uni­ver­si­ty Press, 1964; rev. 2000), S. 367–386; Lewis Mum­ford, Tech­nics & Civi­liza­ti­on (1934; rpt. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press, 2010); Lewis Her­ber (d. i. Mur­ray Book­chin), Our Syn­the­tic Envi­ron­ment (1962; rpt. East­ford, CT: Mar­ti­no Fine Books, 2018)
  11. Leo Marx, »Belie­ving in Ame­ri­ca: An Intellec­tu­al Pro­ject and a Natio­nal Ide­al«, Bos­ton Review, 1. Dezem­ber 2003, https://www.bostonreview.net/articles/leo-marx-believing-america/; Her­man Mel­ville, »Mis­gi­vings«, https://poets.org/poem/misgivings
  12. Dwight Mac­do­nald, Poli­tics Past (New York: Viking, 1957), S. 169–179
  13. Ned Black­hawk, The Redis­co­very of Ame­ri­ca: Nati­ve Peo­p­les and the Unma­king of U. S. Histo­ry (New Haven: Yale Uni­ver­si­ty Press, 2023), S. 210; Wolf­gang Haug, »Ein pas­sen­der Film zum mili­ta­ris­ti­schen Zeit­geist: ›Oppen­hei­mer‹«, Gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­on, Nr. 484 (Dezem­ber 2023), S. 17
  14. Richard Brau­tig­an, Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, übers. Céli­ne und Hei­ner Bas­ti­an (Mün­chen: Han­ser, 1971), S. 8
  15. Cos­tas Despi­nia­dis, The Ana­to­mist of Power: Franz Kaf­ka and the Cri­tique of Aut­ho­ri­ty (Mon­tré­al: Black Rose Books, 2019), S. 37–61; Franz Kaf­ka, Die Erzäh­lun­gen, hg. Roger Her­mes (Frankfurt/Main: Bücher­gil­de Guten­berg, 1996), S. 7
  16. Arthur Holit­scher, Ame­ri­ka heu­te und mor­gen (Ber­lin: S. Fischer, 1913), S. 204
  17. Der Gro­ße Schlaf und sei­ne Kun­den: Situa­tio­nis­ti­sche Tex­te zur Kunst, hg. Han­na Mit­tel­städt (Ham­burg: Edi­ti­on Nautilus/Edition Moder­ne, 1990), S. 16
  18. Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia: Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 275–276
  19. Theo­dor W. Ador­no, Pris­men: Kul­tur­kri­tik und Gesell­schaft, hg. Rolf Tie­de­mann (Frankfurt/Main: Suhr­kamp, 1987), S. 276
  20. Jar­vis Cocker, Ein­lei­tung zu: Richard Brau­tig­an, Som­bre­ro Fall­out: A Japa­ne­se Novel (Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014), S. viii
  21. Heming­way on Fishing, hg. Nick Lyons (New York: Scrib­ner Clas­sics, 2012), S. 95–100
  22. Brau­tig­an, Trout Fishing in Ame­ri­ca, S. 22; Brau­tig­an, Forel­len­fi­schen in Ame­ri­ka, S. 27
  23. Kath­ryn Hume, »Brautigan’s Psy­cho­ma­chia«, Mosaic, 34, Nr. 1 (März 2001), S. 89
  24. Keith Abbott, Down­stream from Trout Fishing in Ame­ri­ca: A Memoir of Richard Brau­tig­an (Ver­mil­li­on, SD: Astro­phil Press, 2009), S. 97
  25. Her­mann Peter Piwitt, »H.P. Piwitts klei­nes Feuil­le­ton: Epi­pha­ni­en des All­tags«, Kon­kret, Febru­ar 1986, S. 78
  26. Richard Brau­tig­an, Reven­ge of the Lawn: Sto­ries 1962–1970 (Edin­burgh: Canon­ga­te, 2014), S. 139

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