Im Maul des Abgrunds
Marginalien zum Erzählkonzert »Hinab in den Maelström«
von Jörg Auberg
Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.
Walter Benjamin1
In seinem Standardwerk zur Erfahrung der Modernität im 19. und 20. Jahrhundert All That Is Solid Melts Into the Air (1982) beschrieb Marshall Berman den »Maelstrom des modernen Lebens« als ein Zentralmotiv der kapitalistischen Moderne, in der Geschichte und Tradition permanent durch die historische Entwicklung in Frage gestellt wurde – oder mit den Worten Karl Marx’ und Friedrich Engels’: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«2 Wie Theodor W. Adorno beobachtete, beschrieb Edgar Allan Poe in seiner Kurzgeschichte »A Descent into the Maelström« eine zentrale Allegorie der Moderne, deren Moment »in der atemlos kreisenden, doch gleichsam stillstehenden Bewegung des ohnmächtigen Bootes im Wirbel des Maelstroms« bestehe.3 Der Maelstrom war nicht nur ein kritisches Moment, sondern in der Darstellung des hinabreißenden Wirbels delektierte sich Poe – mutmaßte Adorno – auch an dem Grauen als Sensationsqualität, welche in den diktatorischen und totalitären Perioden des 20. Jahrhunderts zur perpetuierten Gewohnheitserfahrung wurde.
Nachdem die Kurzgeschichte im Mai 1841 in der Zeitschrift Graham’s Magazine erschienen war, fielen die ersten Kritiken negativ aus: Die Erzählung sei, urteilte ein Kritiker im Daily Chronicle, »der Feder eines Menschen unwürdig, dessen Talente ihm ein breiteres und weitreichenderes Spektrum ermöglichen«, und Poe selbst konzedierte anfänglich, dass die Geschichte in Eile geschrieben und der Schluss »unvollkommen« sei.4 Auch für Poes Biograf Jeffrey Meyers war »A Descent into the Maelström« ein »untergeordnetes Werk« im Poe-Korpus.5
Dieser grauenhafte Fall
Dennoch entfaltet die Geschichte über ein Fischerboot, das an der norwegischen Küste in der scheinbar ruhigen See in den zerstörerischen Strudel eines Maelstroms gezogen und in der Tiefe vernichtet wird, eine einzigartige suggestive Kraft des Grauens und der Katastrophe. Kein Mensch habe wie Poe, schrieb sein Bewunderer Charles Baudelaire, »mit größerer magischer Kraft vom Ausnahmezustand im Leben von Mensch und Natur erzählt«.6 Auch wenn Poe in seiner »Applikation« von Literatur Wissenschaft, Rationalität und Technologie als Instrumente der »Wahrheitsnähe« (verisimilitude in der Poe-Philologie) zur Gestaltung und Manipulation des Spektakels der Realität verwendete und vor allem mit der Maelstrom-Allegorie als Erfinder der modernen science fiction gilt7, verbindet die Erzählung Tradition und Moderne in der Auseinandersetzung zwischen den urwüchsigen Kräften der Natur und den beschränkten Mitteln der menschlichen Vernunft.
Obwohl Poe als »Erfinder mehrerer Literaturgattungen« reüssierte (wie Paul Valéry schrieb8), rekurrierte er in seiner Erzählung thematisch und erzähltechnisch auf Samuel Taylor Coleridges Ballade The Rime of the Ancient Mariner9, die nicht nur in überhöhter Form eine Fahrt ins Ungewisse darstellte, sondern auch in einem politischen Kontext die Kosten des britischen Empire-Unternehmens in Gestalt von Sklavenhaltern, Sklav*innen und scheinbar unbeteiligten Zeitgenoss*innen aufzeigte. In Coleridges Fantasien heftet sich die Schuld durch Teilhabe an eine Gesellschaft, deren poröse Seele (wie in Dantes höllischer Imagination) »von einem schimmeligen Niederschlag des dicken Dunstes, ein Schreck für Aug und Nase« überzogen ist.10
In Poes Geschichte spiegeln sich in Antizipation von Engels’ »Dialektik der Natur« weniger die Naturgesetze denn von urwüchsigen Kräften freigesetzte Energien, die eine unkontrollierbare Bewegung jenseits aller Gesetzmäßigkeit oder Beherrschbarkeit in Gang setzen. Wie in Coleridges Ballade verwendet Poe den erzählerischen Kunstgriff, einen äußeren und einen inneren Erzähler zu verwenden, um unterschiedliche Perspektiven des Geschehens darzustellen. Doch in dem Kunstgriff, einen amerikanischen Touristen aus der äußeren Perspektive auf den norwegischen Fischer treffen zu lassen, der von seiner katastrophischen Erfahrung berichtet, gelingt Poe eine subtile Kritik des frühen Tourismus im 19. Jahrhundert, die er in anderen Texten auf die touristischen Exkursionen an die Niagara-Wasserfälle oder in die westlichen Prärien Nordamerikas zum Ausdruck brachte, in denen sich britische und amerikanische Tourist*innen an den »Naturschönheiten des Landes« delektierten.11 Wie Kevin J. Hayes in einer Interpretation der Kurzgeschichte hervorhebt, ist der norwegische Fischer eine Inkarnation des Arbeiters, der seine Existenz riskiert, während der amerikanische Tourist in der Rolle des Voyeurs verharrt, der vom Felsvorsprung einen risikofreien Blick auf die Gefahr (den Maelstrom) werfen möchte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.12
Nach Hayes identifizierte sich Poe mit dem alten Fischer: Im kommerziellen Publikationsgeschäft, das im urbanen Amerika zu einem vitalen Sektor der Ökonomie wurde, während zugleich in Städten wie Philadelphia (wo Poe sich in den frühen 1840er Jahren niedergelassen hatte) gewalttätige Rackets mit terroristischer Gewalt unter Einsatz von Xenophobie und Rassismus das urbane Geschehen bestimmten, betrachtete sich Poe als »Arbeiter«, der seine Gesundheit und seinen Verstand für den Lebensunterhalt seiner Familie einsetzte.13 Im kapitalistischen Betrieb, wo er als Autor permanent Novitäten zu liefern hatte, ohne dass die Potentaten der Magazinunternehmen entsprechend seine Leistung honorierten, wurde er vom Strudel des Systems in immer tiefere dunkle Regionen des Ausnahmezustands gezogen.
Der Entwurf des Schreckens
»Poes Maelstrom ist ein Entwurf des Schreckens«, schreibt der Grafiker Klaus Detjen in der Ausgabe der Kurzgeschichte in der Typographischen Bibliothek. »Der Mensch der unberechenbaren Natur ausgeliefert, wird darin zum Prüfstein seiner selbst.«14 Während die beiden Brüder von einer Sturmböe über Bord gerissen oder angsterfüllt paralysiert sind, kann sich der dritte nach »sechs Stunden tödlichen Grauens«15 mit besonnener Vernunft retten. »You must get over these fancies«16 , belehrt der Fischer den amerikanischen Touristen am Rande des Klippenvorsprungs.
In dem »Erzählkonzert« Hinab in den Maelström, das auf der Übersetzung der früh verstorbenen Schriftstellerin Gisela Etzel (1880–1918) beruht, werden die »fancies« des Originals zu »Angstvorstellungen«, während sie in späteren Übersetzungen abschwächend als »Einbildungen« übersetzt werden.18 In dieser Auftragsproduktion des Hessischen Rundfunks aus dem Jahre 2023 kombiniert der mehrfach ausgezeichnete Komponist Martin Auer mit seinem gleichnamigen Quintett und dem Sprecher Christian Brückner den Text Poes mit einer dezenten, kühlen »soundscape« in der Tradition des modernen Jazz. Die Komposition (in der Trompete, Saxofon, Piano, Bass und Schlagzeug akzentuierend eingesetzt werden) umkreist den Text, ohne zum belanglosen Klangteppich oder effekthascherischen Rumor zu verkommen.
Christian Brückners Instrument ist die tiefe, etwas rauchig klingende Stimme, mit der in ruhiger Gelassenheit und einem emotionalen Understatement die Erfahrung des Entsetzens im Meer, im Strudel und im Trichter, im Angesicht des Todes und in der Erleichterung des Entrinnens vorträgt, obgleich auch das Entkommen mit ewigen Narben erkauft ist. Wie in anderen Produktionen Brückners – Brückner Beat (2001) und Brückner Berlin (2017) – , in denen Musik (in erster Linie Jazz) und Sprache kombiniert wurde, ist das Erzählkonzert eine beeindruckende und überzeugende »multikünstlerische« Umsetzung der Poe’schen Allegorie, zumal durch die zurückhaltende Interpretation das Moment der Sensation als katastrophische Regression (wie sie Adorno der Moderne und ihren frühen herausragenden Repräsentanten Poe und Baudelaire zuschrieb19) unterlaufen wird. In der Koproduktion des Martin Auer Quintetts mit dem erfahrenen Sprachvirtuosen Brückner wird die »Welt des Entsetzens und der Ausweglosigkeit«, die Bernd Lenz in einem kurzen Text über Poes Erzählung benennt, ein Meer der Schatten, »vor dem die Vernunft letztlich kapitulieren« müsse20, neuerlich erfahrbar.
Die Einzigartigkeit dieser Produktion wird umso deutlicher, wenn man als Vergleich die »altfränkische« Lesung Charles Brauers unter dem Titel Im Wirbel des Malstroms aus dem Jahre 2001 heranzieht, deren Wirkung von der damaligen Kritik als einschläfernd und »dramatisch hingehaucht« jenseits aller Authentizität beurteilt wurde.21 Während Brauer Poes Erzählung im sedativen Ton in die Gruft verabschiedet, legen Brückner und das Martin Auer Quintett die zeitgemäße Qualität und die (durchaus widersprüchliche) Modernität des Poe’schen Textes offen. In der Figur des überlebenden Fischers materialisiert sich – mit den Worten des amerikanischen Soziologen John Bellamy Foster – die dialektische Vernunft, die Natur sowohl als äußere Realität menschlicher Aktivität als auch als die innere Realität der menschlichen Existenz begreift.22 Für Foster ist Ökologie der Beweis der Dialektik. Im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse orientierte sich Poe an den Gegebenheiten und den Ansprüchen des Marktes. Die Entscheidung für die Kurzgeschichte, die er meisterlich beherrschte, entsprang nicht einer freien Wahl für die »konzise Erzählform«, wie Bernd Lenz schrieb, sondern weil in den 1840er Jahre – wie Lewis Mumford konstatierte – ein »Bedürfnis nach kurzen Happen der Entspannung in der Routine eines Arbeitstages« herrschte.23 Trotz aller Integration in den kommerziellen Markt und der Sympathien für die konservative Politik der Whigs (den Vorläufern der Republikaner) schmuggelte Poe jenseits von »Ökophilie« und »Ökophobie«24 eine ökologische Perspektive in seine Literatur, die über die gängigen Klischees von Grauen und Entsetzen in der natürlichen Umwelt hinausgeht und die Zeit »tödlichen Entsetzens« (wie Gisela Etzel den Terminus »deadly terror«25 übersetzt) mittels einer erkennenden und selbstkritischen Vernunft zu transzendieren vermag. Am Ende muss nicht der Untergang »im Maul des Abgrunds«26 stehen.
© Jörg Auberg 2024
Bibliografische Angaben:
Edgar Allan Poe.
Hinab in den Maelström.
Übersetzt von Gisla Etzel.
Sprecher: Christian Brückner.
Komponist, Trompete: Martin Auer.
Saxofon: Florian Trübsbach.
Piano: Jan Eschke.
Bass: Andreas Kurz.
Schlagzeug: Bastian Jütte.
Berlin: Argon Verlag, 2023.
Audio-CD, Laufzeit: 1 Stunde 13 Minuten, 20 Euro.
ISBN: 978–3‑7324–2091‑9.
Weiterführende Informationen:
Hinab in den Maelström mit Christian Brückner und dem Martin Auer Quintett
Bildquellen (Copyrights) |
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Cover Hinab in den Maelström | © Argon Verlag |
Cover Phantastische Fahrten | © dtv (Celestino Piatti) |
Cover The Collected Tales and Poems of Edgar Allan Poe | © Modern Library |
Cover Ein Sturz in den Malstrom | © Wallstein Verlag/Büchergilde Gutenberg |
Cover Erzählungen in zwei Bänden (Bd. 2) |
© Büchergilde Gutenberg |
Cover Im Wirbel des Malstroms |
© Hörbuch Hamburg |
Nachweise
- Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Gesammelte Schriften, Bd. I:2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991), S. 683 ↩
- Marshall Berman, All That Is Solid Melts Into the Air: The Experience of Modernity (New York: Penguin Books, 1988), S. 16; Karl Marx und Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: MEW, Bd. 4 (Berlin: Dietz Verlag, 1990), S. 465 ↩
- Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987), S. 318 ↩
- The Poe Log: A Documentary Life of Edgar Allan Poe, 1809–1849, hg. Dwight Thomas und David K. Jackson (Boston: G. K. Hall, 1987), https://www.eapoe.org/papers/misc1921/tplgc06a.htm ↩
- Jeffrey Meyers, Edgar Allan Poe: His Life and Legacy (New York: First Cooper Square Press, 2000), EPUB-Version, S. 153 ↩
- Charles Baudelaire, »Edgar Poe, Leben und Werk«, in: Edgar Allan Poe, Unheimliche Geschichten, hg. Charles Baudelaire, übers. Andreas Nohl (München: dtv, ²2018), S. 377 ↩
- Cf. John Tresch, »Poe invents science fiction«, in: The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe, hg. Kevin J. Hayes (Cambridge: Cambridge University Press, ⁵2007), S. 113–132 ↩
- Paul Valéry, »Die Situation Baudelaires«, übers. August Brücher, in: Paul Valéry, Werke, Bd. 3: Zur Literatur, hg. Jürgen Schmidt-Radefeldt (Berlin: Suhrkamp, 2021), S. 224 ↩
- Cf. Margaret J. Yonce, »The Spiritual Descent into the Maelström: A Debt to ›The Rime of the Ancient Mariner‹«, Poe Newsletter, 2, Nr. 2 (April 1969), S. 26–29 ↩
- Marina Warner, Einleitung zu: Samuel Taylor Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (London: Vintage Books, 2004), S. ix‑x; Dante Aligheri, Die Göttliche Kommödie, übers. Karl Vossler (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1978), S. 89 ↩
- Edgar Allan Poe, »Morning on the Wissahiccon«, https://www.eapoe.org/works/essays/mrnwisa.htm; Diana Royer, »Edgar Allan Poe’s ›Morning on the Wissahiccon‹: An Elegy for His Penn Magazine Project«, Pennsylvania History, 61, Nr. 3 (July 1994), S. 318–331 ↩
- Kevin J. Hayes, Edgar Allan Poe (Critical Lives) (London: Reaktion Books, 2009), EPUB-Version, S. 78 ↩
- Scott Peeples, The Man of the Crowd: Edgar Allan Poe and the City (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2020), EPUB-Version, S. 69–102 ↩
- Klaus Detjen, »Typographie als Ruine. Zur Gestaltung«, in: Edgar Allan Poe, Ein Sturz in den Malstrom, übers. Hans Wollschläger, Typographische Bibliothek, Bd. 7 (Göttingen: Wallstein-Verlag und Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 2011), S. 68 ↩
- Poe, Ein Sturz in den Malstrom, S. 33 ↩
- Edgar Allan Poe, »A Descent into the Maelström«, in: The Collected Tales and Poems of Edgar Allan Poe (New York: Modern Library, 1992), S. 127 ↩
- Poe, »Hinab in den Maelström«, Übersetzung von Gisela Etzel, https://www.projekt-gutenberg.org/poe/maelstro/maelstro.html ↩
- Edgar Allan Poe, »Hinab in den Maelström« (Gisela Etzel), https://www.projekt-gutenberg.org/poe/maelstro/maelstro.html; Poe, »Im Strudel des Maelstroms«, in: Edgar Allan Poe, Erzählungen in zwei Bänden, übers. Hedda Eulenberg, Bd. 2 (Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1966), S. 255; Poe, Ein Sturz in den Malstrom (Hans Wollschläger), S. 34; Poe, Unheimliche Geschichten (Andreas Nohl), S. 228 ↩
- Adorno, Minima Moralia, S. 318 ↩
- Bernd Lenz, Nachwort zu: Edgar Allan Poe, Phantastische Fahrten (München: dtv, 1985), S. 141 ↩
- https://www.perlentaucher.de/buch/edgar-allan-poe/im-wirbel-des-malstroms.html ↩
- John Bellamy Foster, The Return of Nature: Socialism and Ecology (New York: Monthly Review Press, 2020), S. 254 ↩
- Lenz, Nachwort zu: Edgar Allan Poe, Phantastische Fahrten, S. 141; Lewis Mumford, Technics and Civilization (1934; rpt. Chicago: University of Chicago Press, 2010), s. 197 ↩
- Cf. Sara L. Crosby, »Beyond Ecophilia: Edgar Allan Poe and the American Tradition of Ecohorror«, Interdisciplinary Studies in Literature and Environment , 21, Nr. 3 (Sommer 2014), S. 513–525 ↩
- Poe, »A Descent into the Maelström«, S. 127 ↩
- Poe, Unheimliche Geschichten, S. 240 ↩